1. Einleitung: Massenkrieg und nationale Erinnerung
Am Morgen des 18. Oktober 1813, gegen 5 Uhr, schrieb August Neidhardt von Gneisenau an seine Frau: «Ich schreibe Dir am Morgen einer Schlacht, wie sie in der Weltgeschichte kaum gefochten ist. Wir haben den französischen Kaiser ganz umstellt. Diese Schlacht wird über das Schicksal Europas entscheiden.» Der preußische Militärreformer und Generalstabschef der 3. Schlesischen Armee hoffte auf einen siegreichen Kampf gegen Napoleon und damit auf ein baldiges Ende einer Epoche der Umwälzungen und Kriege. Am Tage danach konnte er mitteilen: «Die große Schlacht ist gewonnen, der Sieg ist entscheidend.» Für vier Tage stand die Stadt Leipzig mit ihren damals 33.000 Einwohnern im Zentrum einer Schlacht von bis dahin unbekanntem Ausmaß. Über 500.000 Soldaten standen sich gegenüber, und auch die Zahl der Opfer war unvorstellbar. Als sie vorüber war, beklagte man bei den Verbündeten rund 54.000, in den Reihen der französischen Armee etwa 37.000 Tote. Das Zeitalter der Massenheere kündigte sich an.
Napoleons Niederlage bei Leipzig bedeutete zwar noch nicht die endgültige Entscheidung im Kampf der Alliierten gegen das napoleonische Empire. Napoleons Machtentfaltung in Deutschland aber erfuhr durch die viertägige Schlacht eine folgenreiche Zäsur, die eine bündnis- und herrschaftspolitische Kettenreaktion in Deutschland auslösen sollte. Der Rheinbund, der napoleonische Machtblock auf deutschem Territorium, zerfiel in kürzester Zeit. Hatte schon das Scheitern des verlustreichen Russlandfeldzuges den Nimbus der großen Feldherrenkunst und der imperialen Herrschaft Napoleons stark beschädigt, so löste sich dieser nach der Völkerschlacht weitgehend auf: Napoleon galt nicht länger als unüberwindbar. Ihn zu besiegen war möglich dank einer breiten Koalition und mittels einer flexiblen Kriegführung. Am 11. August 1813 hatte sich mit dem Beitritt Österreichs unter der Patronage Englands eine Allianz gebildet, die stark genug war, die militärische Pattsituation vom Frühsommer 1813 zugunsten der Russen, Preußen und Habsburger aufzulösen.
Mit dem Beitritt Österreichs änderten sich allerdings auch die Kriegsziele oder sie wurden deutlicher als bislang formuliert. Es ging fortan um die Wiederherstellung einer legitimen Ordnung und eines machtpolitischen Gleichgewichts in Europa, nicht mehr um Befreiung, Freiheit oder gar um nationale Einheit. Darauf konnten sich die drei Monarchien auf Drängen des österreichischen Außenministers Metternich einigen, weil Preußen und Russland letztlich auch antirevolutionäre Mächte waren und ihr Bekenntnis zur Befreiung und Freiheit eher den innenpolitischen Umständen als den langfristigen Interessen ihrer Monarchien geschuldet war. Der Krieg von 1813 hatte darum einen Doppelcharakter: Für die Patrioten, die in Preußen die öffentliche Stimmung prägten und schließlich auch die Haltung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm beeinflussten, war es ein nationaler Befreiungskrieg, ein Kreuzzug gegen einen Tyrannen (auch wenn jener zeitweilig in manchen Reichsteilen als Hoffnungsträger bürgerlich-liberaler Ideale verehrt worden war) und ein Krieg für Freiheit und Nation. Für die europäischen Mächte war es ein Krieg der Monarchen und Kabinette, ein Kampf um dynastische Rechte, um Gleichgewicht und internationale Stabilität. Die Befreiungskriege wurden darum zu einem wichtigen Baustein in der britisch-französischen Auseinandersetzung um die Hegemonie in Europa, die mit den Revolutionskriegen von 1792 eine neue Qualität erreichten und mit dem Wiener Kongress von 1815 ein Ende fanden. Auch die Kriegsplanungen der Alliierten waren noch dem klassischen militärischen Denken verpflichtet. Die verbündeten Armeen versuchten im Herbst, nach dem wenig erfolgreichen Frühjahrsfeldzug von 1813, die Kampfkraft und den Zusammenhalt von Napoleons Grande Armée durch kleinere Gefechte und überraschende Vorstöße zu schwächen, sich aber vorerst keineswegs auf eine Entscheidungsschlacht einzulassen, wie sie Napoleon zu suchen pflegte.
Erst nachdem die Armeen der Verbündeten untereinander Verbindung aufnehmen und den Ring um Napoleon halbwegs schließen konnten, schwand für den Kaiser die Möglichkeit, die Feindgruppen einzeln zu schlagen. Vor Leipzig stellte er sich dann der Entscheidungsschlacht. Über eine halbe Million Soldaten standen sich gegenüber – in Erwartung der bislang größten Schlacht der europäischen Geschichte. Der preußische Oberst von Müffling bezeichnete sie schon am 19. Oktober 1813 in seinem Armeebericht als «Völkerschlacht», und er meinte damit – ganz im traditionellen militärisch-absolutistischen Sinne – die Beteiligung vieler «Heervölker» an einer Schlacht. Patriotisch gesinnte Zeitgenossen deuteten sie hingegen bald als Schlacht der Völker Europas, die um ihre nationale Emanzipation kämpften. Ein militärischer Sieg über Napoleon sollte die nationale Wiedergeburt ermöglichen und den europäischen Völkern nationale Einheit und Freiheit sichern. Darum nannten die einen, die Napoleons Hegemonie abschütteln und die alte Ordnung wiederherstellen wollten, die Kriege gegen Napoleon Befreiungskriege; die anderen, die Verfechter von Freiheit und Nation, nannten sie Freiheitskriege.
Napoleon, der sich seit seinem verlustreichen Rückzug aus Russland in der Defensive befand, erlebte in Leipzig sein «erstes, sächsisches Waterloo». Als er sich seine Niederlage eingestehen musste, verließ er am 19. Oktober überstürzt den Kampfplatz. Aus der deutschen Perspektive war das der entscheidende Wendepunkt der napoleonischen Kriege, das Fanal für den Niedergang der französischen Herrschaft in Deutschland und Europa. Das meinte auch Oberst von Müffling in seinem Armeebericht: «So hat die viertägige Völkerschlacht vor Leipzig das Schicksal der Welt entschieden.» Tatsächlich jedoch war die militärische Bedeutung der Leipziger Schlacht begrenzt. Napoleon hatte zwar eine schwere Niederlage hinnehmen müssen, doch war die Schlacht bei Leipzig, die der napoleonische Armeebericht seinerseits als einen bloßen Rückzug darstellte, nur ein Glied in einer längeren Kette von Niederlagen und Abwehrkämpfen, die in Moskau 1812 begannen und erst mit Waterloo und der Verbannung Napoleons endeten.
Darum fand und findet in der französischen historischen Wahrnehmung die Völkerschlacht bei Leipzig kaum Beachtung, und der Untergang Napoleons wird nicht mit Leipzig verbunden, sondern mit Waterloo am 18. Juni 1815. Die Erinnerung ist also von den jeweiligen nationalen Traditionen geprägt: Die deutsche Erinnerungskultur machte aus der Leipziger Völkerschlacht bald den wirkmächtigen Gründungsmythos einer deutschen Nationalbewegung und der nationalen Heilsgeschichte. Der Krieg wurde im kollektiven Bewusstsein gleichsam als Katalysator einer nationalen Bewegung verstanden und zur Geburtsstunde nationaler Befreiung verklärt. Das traf sich mit einem europäischen Einstellungswandel: Spätestens seit den Französischen Revolutionskriegen wurde der Krieg, die entfesselte Bellona – die altrömische Kriegsgöttin, der auch so viele europäische Potentaten der Neuzeit huldigten –, nicht mehr nur als blutige Furie, sondern als Voraussetzung für nationale Freiheit und Einheit gesehen. Nation und Krieg sind seither aufs Engste miteinander verbunden, auch weil Napoleons Herrschaft nicht ohne Militär und Krieg gedacht werden und folglich auch nicht ohne Krieg beendet werden konnte.
Für die Zeitgenossen, vor allem für die Einwohner von Leipzig, bestand die Völkerschlacht freilich erst einmal in «Scheußlichkeiten» und der riesigen Zahl der Toten und Verwundeten, in Zerstörung und Verwüstungen, die dieser viertägige Kampf mit sich brachte. Das hatte schon Gneisenau in seinem Brief vom 18. Oktober ausgesprochen: «Das Schlachtfeld ist mit Toten und Verstümmelten bedeckt wie selten! vielmehr Franzosen als der Unsrigen. Indessen ist unser Verlust ebenfalls groß. Das Yorksche Korps allein hat 6000 Mann verloren, ohne den Verlust der Russen zu rechnen … Eine halbe Million Menschen stehen jetzt auf einem engen Raum zusammengedrängt, bereit, sich wechselweise zu vertilgen.» In der Wahrnehmung der Leipziger war zunächst dies die entscheidende Erfahrung, die ihr Leben auf Jahre hinaus prägen sollte. Der Leipziger Totengräber Johann Daniel Ahlemann erinnerte sich später noch an die «Angst- und Schreckensszenen», die die «guten Bewohner Leipzigs» im Jahre 1813 erleben mussten. Unversehens war ihre Stadt Mittelpunkt einer gewaltigen Schlacht geworden. Auf ihrem Höhepunkt gab es kaum jemanden, der nicht die ungeheuren Leiden der Opfer dieses Krieges und die schweren Lasten, die damit Leipzig aufgebürdet wurden, erlebt und erlitten hatte. In zahlreichen Gedenksteinen und Kirchen in und um Leipzig manifestierte sich die lokale Erinnerung daran, bis der nationale Mythos sie allmählich überlagerte. Bereits Zeitgenossen, unter ihnen Johann Wolfgang von Goethe, sahen das, «was die Bewohner von Leipzig und Umgegend gelitten haben», in einem größeren Zusammenhang, «als das...