Kapitel 1
Der ungerade Weg
Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom geraden Weg mich abgewandt.
Dante, Die Göttliche Komödie, Hölle,
Erster Gesang
In jeder uns bekannten Kultur, mag sie weltlich oder religiös geprägt sein, ethnisch verschiedenartig oder nicht, ist die Frage, wie man leben soll, von zentraler Bedeutung. Wie sollen wir mit den Herausforderungen und Wechselfällen des Lebens umgehen? Wie sollen wir uns in der Welt verhalten, wie die Mitmenschen behandeln? Und dann die endgültige Frage: Wie bereiten wir uns am besten auf die letzte Prüfung vor, auf den Moment des Sterbens?
Die zahlreichen Religionen und philosophischen Strömungen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt wurden, um diese Themen anzugehen, bieten uns Antworten, die vom Mystischen bis zum Hyperrationalen reichen. In jüngster Zeit ist sogar die Wissenschaft ins Geschäft eingestiegen mit einer Fülle von Fachaufsätzen und populärwissenschaftlichen Büchern über das Glück und die Wege, die zu ihm hinführen. Begleitet werden sie von den unvermeidlichen Hirnscans, die aufzeigen, wie Ihr Gehirn auf alles Mögliche reagiert, was Ihre Lebenszufriedenheit erhöhen oder schmälern könnte. Die Werkzeuge, mit denen man Antworten auf existenzielle Fragen sucht, variieren dann natürlich ebenso wie die jeweiligen Herangehensweisen – von heiligen Schriften bis zur Tiefenmeditation, von philosophischen Argumenten bis zu wissenschaftlichen Versuchen ist alles im Angebot.
Was daraus resultiert, ist wahrhaft erstaunlich und spiegelt sowohl die Kreativität des menschlichen Geistes wider als auch die Dringlichkeit, die wir dem Forschen nach Sinn und Zweck des Lebens offenbar beimessen. Man kann sich beispielsweise eine der vielen Optionen innerhalb der jüdischen, christlichen oder islamischen Religion zu eigen machen, etwas aus der breiten Palette buddhistischer Schulen wählen oder sich für den Taoismus entscheiden, den Konfuzianismus und vieles andere mehr.
Sollte Ihnen der Sinn eher nach Philosophie als nach Religion stehen, können Sie sich dem Existenzialismus zuwenden, dem säkularen Humanismus, dem säkularen Buddhismus, der Ethischen Bewegung und so weiter. Und falls Sie zu dem Schluss kommen, dass es gar keinen Sinn gibt – dass im Grunde schon die Suche danach sinnlos ist –, entdecken Sie vielleicht eine »fröhliche« Ausprägung des Nihilismus für sich. Ja, so etwas gibt es.
Was mich betrifft, so bin ich Stoiker geworden. Ich meine damit nicht, dass ich begonnen hätte, ständig eine unbewegte Miene zur Schau zu stellen und meine Emotionen zu unterdrücken. Nein, denn so sehr ich Mister Spock auch liebe – Gene Roddenberry, der Schöpfer von Star Trek, hat ihn angeblich nach seinem bei näherem Hinschauen naiven Verständnis des Stoizismus modelliert –, die beiden genannten Merkmale der Figur stehen für zwei der häufigsten Missverständnisse zum Thema, was es bedeutet, Stoiker zu sein. In Wahrheit geht es im Stoizismus keineswegs um das Unterdrücken oder Verbergen von Emotionen – vielmehr ermuntert er uns dazu, unsere Emotionen anzuerkennen, über ihre Ursachen und Auslöser nachzudenken und sie neu auszurichten.
Worum es im Stoizismus geht, ist kurz gesagt Folgendes: dass wir im Leben Tugend und Vortrefflichkeit in dem Maße praktizieren, wie es die eigenen Fähigkeiten erlauben – dass wir also unser Bestes geben. Wichtig dabei ist zudem, auf die moralische Dimension all unserer Handlungen zu achten. In der Praxis, im Lebensalltag, stellt sich der Stoizismus, wie ich Ihnen noch zeigen werde, als eine dynamische Kombination von Nachdenken über theoretische Grundsätze, Lektüre inspirierender Texte und Beschäftigung mit Meditation, Achtsamkeit und anderen spirituellen Übungen dar.
Einer seiner wichtigsten Grundsätze ist, dass wir den Unterschied zwischen dem, was für uns beherrschbar ist, und dem, was wir nicht kontrollieren können, erkennen und ernst nehmen sollten – und unsere Anstrengungen auf Ersteres konzentrieren, statt sie auf Letzteres zu verschwenden.
Diese Unterscheidung – die auch manche buddhistischen Lehren treffen – wird oft herangezogen, um den Stoikern eine Neigung zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben und zum Meiden jedweden sozialen Engagements zu unterstellen. Aber ein genauerer Blick auf die Schriften der Stoa und, wichtiger noch, auf das Leben einiger berühmter Stoiker revidiert diesen Eindruck: Der Stoizismus ist nämlich in hohem Maße immer eine Philosophie des sozialen Engagements gewesen und hat dazu aufgefordert, das ganze Menschengeschlecht sowie die Natur zu lieben. Für mich selbst war es sogar genau diese Spannung, diese scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen der Konzentration auf die eigenen Gedanken und der sozialen Dimension des Stoizismus, die mich zu ihm hinzog und mich bewog, ihn für mich als Lebenspraxis zu wählen.
Ich kam zum Stoizismus nicht etwa durch ein Bekehrungserlebnis, wie es der Apostel Paulus auf seinem berühmten Weg nach Damaskus hatte, sondern durch eine Kombination aus zufälligen kulturellen Umständen, den Wechselfällen des Lebens und einer bewussten philosophischen Entscheidung.
In Rom aufgewachsen, habe ich den Stoizismus zwar als Teil meines kulturellen Erbes angesehen, seit ich auf dem Gymnasium mit Geschichte und Philosophie der alten Griechen und Römer Bekanntschaft machte, doch bis ich die Prinzipien des Stoizismus zu einem Teil meines Alltagslebens zu machen begann – bis dahin war es ein langer, ungerader Pfad mit vielen Umwegen.
Und trotzdem wirkt es in der Rückschau zwangsläufig.
Als Biologe, Wissenschaftstheoretiker und Philosoph habe ich seit jeher eine Neigung verspürt, kohärente Wege zum Verständnis der Welt zu finden (durch die Wissenschaft) und gleichzeitig möglichst gute Entscheidungen für meine Lebensführung zu treffen (durch die Philosophie). Dieses Bezugssystem habe ich vor einigen Jahren in einem Buch untersucht: Answers for Aristotle: How Science and Philosophy Can Lead Us to a More Meaningful Life (Antworten für Aristoteles: Wie uns Wissenschaft und Philosophie zu einem sinnvolleren Leben führen können). Mein Bestreben war es, die antike Idee der Tugendethik mit ihrem Fokus auf Charakterentwicklung und dem Streben nach persönlicher Vortrefflichkeit – den Säulen, die laut diesem Denkgebäude unserem Leben Sinn verleihen – mit dem Aktuellsten zu verknüpfen, was uns Natur- und Sozialwissenschaften über die menschliche Natur zu sagen haben sowie über die Art und Weise, wie wir funktionieren, scheitern und lernen.
Wie sich herausstellte, war dies der Anfang meiner Reise zu philosophischer Selbsterkenntnis.
Noch etwas anderes ließ mich innehalten und nachdenken. Seit meinen Teenagerjahren bin ich kein religiöser Mensch mehr – unter anderem war es die Schullektüre von Bertrand Russells berühmtem Werk Warum ich kein Christ bin, die mich dazu veranlasste, dem Katholizismus den Rücken zu kehren. Insofern war ich immer auf mich selbst gestellt, wenn es um einen moralischen Kompass und Sinnfindung fürs eigene Leben ging. Ich vermute, dass eine wachsende Zahl von Menschen weltweit vor einem ähnlichen Problem steht.
Während ich durchaus mit der Idee sympathisiere, dass die Entscheidung gegen eine religiöse Bindung ein genauso akzeptabler Lebensentwurf sein sollte wie die Hinwendung zur Religion, und darüber hinaus die verfassungsmäßige Trennung von Kirche und Staat entschieden unterstütze, war ich zunehmend unzufrieden – man könnte sogar sagen, verärgert – über den intoleranten Zorn der sogenannten Neuen Atheisten, für die unter anderem Richard Dawkins und Sam Harris stehen. Obgleich die Kritik an Religion oder überhaupt an jedem Ideengebäude zu den Eckpfeilern einer demokratischen Gesellschaft zählt, die diesen Namen verdient, reagieren die Verfechter des modernen Atheismus nicht gerade positiv auf eine kritische Betrachtung ihres eigenen Tuns. Was ich für falsch erachte und worin ich mich bestätigt sehe durch eine humorvolle Äußerung des stoischen Philosophen Epiktet:
»Da fängt es an, gefährlich zu werden – fürs Erste, dass er dir sagen könnte: ›Was hast du dich in meine Sachen einzumischen, guter Freund? Bist du vielleicht mein Gebieter? Und dann, dass er dir, wenn du ihn weiter behelligst, ein paar Maulschellen versetzt. Ich war einst selbst ein großer Liebhaber dieser Disputierart, bis mir dergleichen widerfuhr.«
Natürlich müssen Sie sich nicht dem Neuen Atheismus zuwenden, wenn Sie einer nicht religiösen Ausrichtung Ihres Lebens den Vorzug geben, denn auf diesem Feld bieten sich durchaus Alternativen: etwa der säkulare Buddhismus und der säkulare Humanismus. Aber, ehrlich gesagt, sind für mich diese beiden Pfade, die derzeit als die wichtigsten für all jene gelten, die nach einem sinnerfüllten säkularen Dasein streben, irgendwie unbefriedigend. Und zwar weil ich die gegenwärtig dominierenden Ausprägungen des Buddhismus ein bisschen zu mystisch und seine Texte zu dunkel und schwer interpretierbar finde – besonders im Lichte dessen, was wir durch die modernen Wissenschaften über die Welt und das Menschsein erfahren haben. An dieser Einschätzung ändert selbst eine Reihe von neurobiologischen Studien nichts, in denen die günstigen mentalen Auswirkungen von Meditation überzeugend aufgezeigt werden.
Der säkulare Humanismus wiederum, dessen Anhänger ich jahrelang war, leidet am entgegengesetzten Problem: Er ist...