Einleitung: Achtsamkeit – wozu, für wen und wie?
Achtsamkeit ist die Bewusstheit, die entsteht, indem wir im gegenwärtigen Moment absichtlich und ohne zu urteilen aufmerksam sind.
JON KABAT-ZINN
Die Übung der Achtsamkeit trägt zur geistigen und körperlichen Gesundheit bei und bietet zahlreiche praktische Lösungen im Umgang mit den Herausforderungen des täglichen Lebens. Sie führt zu einer größeren inneren Ausgeglichenheit und Zentriertheit und verleiht uns die Fähigkeit, mit den Unwägbarkeiten des Lebens, mit seinen Höhen und Tiefen gelassener umzugehen.
Die Wellen des Lebens, die in Form von Stress, schwierigen Herausforderungen, Krankheit, Verlust oder anderen schmerzhaften Erfahrungen unweigerlich auf uns zukommen werden, können wir nicht aufhalten. Durch die Schulung der Achtsamkeit wird es aber möglich, ihnen anders zu begegnen – mit mehr Klarheit und innerer Ruhe.
Wir stellen uns nicht gegen die Wellen, sondern lernen, auf ihnen zu reiten.
Wozu Achtsamkeit?
Die Weltgesundheitsorganisation erklärte Stress zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts. Wir alle sind daher auf der Suche nach Wegen, um mit den zunehmenden Stressbelastungen und Herausforderungen des täglichen Lebens umzugehen. Wir suchen nach Methoden, um in den zahllosen hektischen Situationen des Alltags den Zugang zu unseren eigenen Ressourcen und Kraftquellen zu finden und zu erhalten.
Die Praxis der Achtsamkeit zeigt uns hierfür Wege aus der täglichen Zerrissenheit. Sie lehrt uns innezuhalten und uns immer wieder die entscheidenden Fragen zu stellen: »Bin ich gerade wirklich anwesend in meinem Leben? Lebe ich diesen Augenblick?«
WAS IST ACHTSAMKEIT?
Achtsamkeit bedeutet, sich dessen bewusst zu werden, was im gegenwärtigen Moment geschieht. Sie wird durch die Kultivierung einer inneren Haltung unterstützt, die so weit als möglich frei ist von Wertung und Beurteilung, und die mit Freundlichkeit und Offenheit unsere eigene Erfahrung wahrnimmt.
In der Achtsamkeitspraxis öffnen wir uns bewusst unseren Gefühlen, Körperempfindungen, Gedanken, Reaktionen und Sinneseindrücken. Es handelt sich um eine grundlegende Haltung der Aufgeschlossenheit für das gesamte Spektrum unserer Erfahrungen – seien sie angenehm, neutral oder auch unangenehm. Es soll nicht etwas verändert oder erzeugt werden, sondern das, was ist, mit Wachheit, Neugier und Präsenz wahrgenommen werden.
Auch wenn wir gerade verschlossen, verstimmt und verärgert sind, können wir dies wahrnehmen und uns dadurch in Achtsamkeit üben. Das heißt, wir üben uns darin, alles, was uns begegnet, als Teil unseres Lebens wertzuschätzen. Deswegen müssen wir es nicht mögen. Doch selbst unsere Abneigung kann zur Übung der Achtsamkeit werden.
Indem wir üben, wird die Achtsamkeit zunehmend zu einer Realität in unserem Leben.
Präsent sein für das, was ist: Was sich im ersten Moment vielleicht unspektakulär oder gar belanglos anhört, hat enorme Auswirkungen auf unser körperliches, emotionales und mentales Wohlbefinden. Denn nur allzu oft verlieren wir in unserem Alltag das Hier und Jetzt aus den Augen – dabei ist dies die einzige Zeit, in der wir handeln und die wir tatsächlich erleben können. Wenn sich die Gedanken nur noch in der Zukunft oder der Vergangenheit befinden, ist es uns nicht mehr möglich, präsent zu sein, weder bei kleinen noch bei großen Ereignissen – das Leben rauscht förmlich an uns vorbei, ohne gelebt zu werden.
Es erfordert eine bewusste Entscheidung und die Bereitschaft zur Übung, um Achtsamkeit in unserem Leben zu entwickeln. Es ist eine Entscheidung, die wir in jedem Augenblick neu treffen können. Der Fokus auf den Augenblick bringt uns in unmittelbaren Kontakt mit unserem Leben. Denn das Leben geschieht immer und ausschließlich in der Gegenwart. Wir hingegen sind die meiste Zeit mit unseren Gedanken in der Vergangenheit, die wir sowieso nicht mehr ändern können, oder bereits in der Zukunft, die wir letztlich doch nicht kontrollieren können.
Deshalb kehren wir in der Achtsamkeitspraxis immer wieder zu der entscheidenden Frage zurück: »Was geschieht gerade jetzt?« Je mehr es uns gelingt, uns mit all unseren Sinnen für den Augenblick zu öffnen, desto intensiver und erfüllter wird unser Leben.
Zugleich eröffnet uns die Achtsamkeitspraxis neue Entscheidungsmöglichkeiten, indem sie einen Raum zwischen Reiz und Reaktion schafft. Unser Handlungsspielraum erweitert sich, so dass wir bewusst agieren können, statt bloß automatisch zu reagieren. Durch eine größere Freiheit im Handeln und eine weitere Perspektive erfahren wir neue Möglichkeiten, mit den Schwierigkeiten des täglichen Lebens umzugehen.
Indem wir behutsam und doch entschieden üben, in unserem Körper anzukommen und bei diesem zu bleiben, erlangen wir ein ganz neues Verständnis für dessen Bedürfnisse und können sorgsamer und bewusster mit diesem umgehen. Wir lernen unsere Reaktionen kennen, erhalten Einblicke in die Substanz unserer Gedanken und machen die Erfahrung, unsere Emotionen zulassen zu können, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Wir erhalten neue Kompetenzen, um mit den wichtigen Themen und Schwierigkeiten unseres Lebens umzugehen und gewinnen tiefgreifende Einsicht in die Ursachen unseres Verhaltens, in das Verhalten anderer und letztlich in das Leben an sich. Das Leben ist voll von Möglichkeiten der Erkenntnis. Die Achtsamkeitspraxis bereitet hierfür die innere Haltung, damit wir diese Erkenntnisse in unserem täglichen Leben umsetzen können.
Was geschieht in der Achtsamkeitspraxis?
Die Grundlagen der Achtsamkeitspraxis basieren auf dem 2500 Jahre alten buddhistischen Geistestraining. Die Achtsamkeitspraxis selbst ist zwar unabhängig von allen weltanschaulichen Fragen, sie partizipiert jedoch durchaus an dem immensen Wissen, das durch die differenzierte Geistes- und Meditationsschulung des Buddhismus entstanden ist und auf das die westliche Psychologie ebenso wie Medizin und Stressforschung vermehrt zugreifen.
In der Achtsamkeitspraxis haben wir sowohl formale als auch formlose Übungen. Formale Übungen machen es erforderlich, dass wir uns innerhalb unseres Tagesablaufs eine bestimmte Zeit dafür nehmen, um Achtsamkeitsübungen zu praktizieren und deren Ablauf zu wiederholen. Man könnte es mit dem Erlernen eines Musikinstruments vergleichen:
Je eifriger wir Tonleitern, die korrekte Bogenführung oder eine saubere Anschlagtechnik üben, desto leichter fällt es uns anschließend, ein Stück zu spielen. Wir praktizieren formale Achtsamkeitsübungen, damit uns die dabei vertieften Fertigkeiten auch im Alltag zur Verfügung stehen.
WISSENSCHAFTLICH NACHGEWIESEN
Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen die gesundheitsfördernde und stressreduzierende Wirkung der Achtsamkeitspraxis, die weltweit im Gesundheitsbereich eingesetzt wird. Seit den 80er-Jahren und insbesondere im vergangenen Jahrzehnt wurden wichtige Forschungsergebnisse in den USA, Großbritannien, in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden und ebenso in anderen Ländern in der ganzen Welt zusammengetragen. Diese belegen die positiven Auswirkungen der Achtsamkeitspraxis auf die körperliche und psychische Gesundheit.
Achtsamkeit
- wirkt gegen Bluthochdruck
- verbessert die Konzentration und Kreativität
- vermindert Ängste und beugt Depressionen vor
- steigert das Selbstwertgefühl
- vermindert die Schmerzintensität
- stärkt das Immunsystem
- steigert das persönliche Wohlgefühl und die Lebenszufriedenheit
- hilft bei Schlafstörungen
- unterstützt im Umgang mit chronischen Erkrankungen (z.B. Diabetes mellitus, Multiple Sklerose)
- dient der Prophylaxe allgemeiner Stresssymptome und beugt Burn-out vor
Die wichtigsten formalen Übungen der Achtsamkeitspraxis sind die folgenden:
- Achtsame Körperarbeit wie Yoga, Tai Chi oder Qi Gong. Wir praktizieren verschiedene Übungen, um tiefer in Kontakt mit unserem Körper zu kommen. Dabei arbeiten wir mit verschiedenen Lebensthemen, etwa mit der Fähigkeit, Grenzen zu spüren, zu setzen oder zu erweitern.
- Sitzmeditation. Dabei beginnen wir traditionell mit der Achtsamkeit auf den Atem, um unser streunendes und zerstreutes Tagesbewusstsein zu ankern. Später werden in der Sitzmeditation auch die Achtsamkeit auf körperliche Empfindungen, die Sinne, Gedanken und Gefühle geübt.
- Gehmeditation. Wir üben uns im achtsamen Gehen und richten unsere Aufmerksamkeit auf den Kontakt unserer Füße mit der Erde.
- Der Bodyscan, der zwischen 30 und 45 Minuten dauert. Dabei üben wir, die einzelnen Teile des Körpers nacheinander achtsam und mit einer nicht-wertenden Haltung wahrzunehmen und die dabei auftretenden Körperempfindungen zu erforschen, ohne sie verändern zu wollen.
DIE AUFMERKSAMKEIT LENKEN
Weshalb üben wir uns darin, unsere Achtsamkeit auf den Atem, unsere Körperempfindungen, Gedanken und Emotionen zu lenken? Gewöhnlich ist unser Geist ruhelos und lässt sich unentwegt von unseren Empfindungen, Emotionen und Gefühlen besetzen und gefangen nehmen, ganz egal, ob dies in der aktuellen Situation gerade angemessen und nützlich ist oder auch nicht. Wie ein Magnet ziehen uns immer die Empfindungen in den Bann, die in unserem Bewusstsein gerade am »lautesten« sind, und nicht selten reagieren wir unter deren Einfluss...