Kapitel I: Das Bienenvolk als Organismus
Faszinierend am Bienenvolk sind das gemeinschaftliche Leben und die weisheitsvolle Zusammenarbeit. Die Bienen harmonieren miteinander, es besteht ein intensiver Kontakt und rege Kommunikation unter ihnen. Das Volksleben beruht auf einer fein abgestimmten Organisation. Die Gemeinschaft lebt im Dunkeln, in einem verborgenen Winkel, in einem Baumstamm oder einem Bienenkasten.
Einzeln fliegen die Bienen hinaus ins Licht, suchen Blumen auf oder holen Wasser. Beim Schwärmen dagegen zeigen sie sich miteinander im Licht, sie durchschwirren die Luft, um sich schließlich ruhig in einer Schwarmtraube zu versammeln.
Was ist denn das für eine Erscheinung, ein solches Bienenvolk?
Besteht es aus den einzelnen Bienen, die sich zu einer gemeinschaftlichen Organisation aufschwingen, oder ist es ein Ganzes, von dem die Bienen Teile sind? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Gerade als Imkerin oder Imker bewegt man sich zwischen beiden Ansichten hin und her.
Wenn man den Bienenkasten öffnet, dann sind es einzelne Tiere, die das Bienenvolk ausmachen. Es sind vor allem die Arbeiterinnen, vielleicht aber trifft man auch eine Königin und einige Drohnen. Sie leben auf Waben, in denen sie ihre Brut pflegen und ihre Vorräte einlagern. Die Waben können wir herausnehmen, alles ist einzeln handhabbar. In unsern Händen zerfällt die Einheit in ihre Teile. Wenn wir von den einzelnen Tieren ausgehen und in unseren Gedanken alles zusammenfügen zu einem Volk, dann kommen wir zum Prinzip der Selbstorganisation. Das ist der Begriff, der aus der wissenschaftlichen Sicht von heute versucht,1 dem Phänomen auf die Spur zu kommen.
Demnach sind es die vielen einzelnen Bienen, die durch ihre Zusammenarbeit und Kommunikation ein neues Ganzes bilden. Durch das Zusammenwirken entsteht das, was wir als Bienenvolk bezeichnen, mit Qualitäten, die weit über das hinausgehen, was die einzelnen Tiere mitbringen und welches als Ganzes wieder auf die Teile zurückwirkt. Diesem Begriff der Selbstorganisation kann der Ansatz von Rudolf Steiner gegenübergestellt werden.
Das Ganze ist das Bienenvolk; die Bienen, die Königin und die Drohnen sind dienende Teile des Ganzen, in einem ähnlichen Sinne wie die Körperzellen Teile des Menschen sind. Die Einheit ist übergeordnet. Die ganzheitliche Sicht findet ihre Bestätigung am offensichtlichsten in der Schwarmtraube. Der Volkskörper hängt, rund und birnenförmig; im engen Sich-aneinander-Klammern der einzelnen Bienen zeigt er seinen Willen zu einer neuen Einheit. Wenn man diesen Schwarm in einen Bienenkasten einlogiert und ihm die Möglichkeit gibt, seine Waben selber zu bauen, dann wachsen diese als weiße Ansätze, als «Organe», im Innern dieses Körpers. In diesem Moment ist die Einheit in einer berührenden Begegnung erlebbar. Im späteren Umgang mit dem Bienenvolk kann man sich dieser Ganzheit annähern, indem man dem ungestörten Volk zuhört oder das Geschehen am Flugloch beobachtet. Die Einheit lässt sich besser beim verborgenen, unbehelligten Volk im geschlossenen Bienenkasten erfahren.
Die Steuerung von Lebens- und seelischen Prozessen können wir uns bei Mensch und Wirbeltier irgendwo im Körper verborgen denken, und die Sinnesorgane verbinden diese innere Welt mit der Umwelt. Wenn wir mit irgendeinem Tier Kontakt aufnehmen, beobachten wir die Augen, seine Körpersprache, sein Verhalten. Das alles ist beim Bienenvolk nicht in derselben Weise gegeben. Der Ort, von dem die körperliche und seelische Koordination des Volkes ausgeht, lässt sich nicht physisch lokalisieren. Die Einheit ist erlebbar, physisch jedoch nicht greifbar. In der Einzelbiene ist er wohl nicht, also muss er zwischen den Tieren liegen. Das zwingt uns, ein geistiges Band um die Bienen zu ziehen. Da liegt letztlich der Kern der andern Sicht.
Rudolf Steiner hat stets auf diesen Organismus hingewiesen. Das Bienenvolk als Ganzes zu sehen, ist für die Imkerinnen und Imker nicht selbstverständlich, es stellt eine Herausforderung im alltäglichen Umgang dar. Um den Kontakt mit der Einheit zu pflegen, ist es erforderlich, die Aufmerksamkeit immer wieder gezielt darauf auszurichten. Die konsequente Sicht auf den Organismus Bienenvolk hat Folgen für die Praxis. Sie erfordert eine Betriebsweise, die sich dem Leben des Organismus anpasst. Das Bienenvolk wird mit seinen Impulsen in den Mittelpunkt gestellt.
Da ist es denn schon wichtig, auf so etwas wie den Bienenstock zu blicken und zu lernen, dass die einzelne Biene dumm ist. Sie hat Instinkte, aber sie ist dumm; aber der ganze Bienenstock ist außerordentlich weise. Sehen Sie, wir hatten neulich einmal ganz interessante Besprechungen oben unter den Arbeitern, die von mir, wenn regelmäßige Zeiten sind, jede Woche zwei Vorträge bekommen. Wir hatten das Reich der Bienen besprochen, da tauchte die Frage auf, die sehr interessant ist. Der Bienenzüchter kennt ganz gut ihre Bedeutung. Wenn ein beim Bienenvolk beliebter Bienenvater da ist und er krank wird oder stirbt, dann kommt tatsächlich das ganze Bienenvolk in Unordnung. Es ist so. Nun sagte einer, der nun so recht im Sinne der gegenwärtigen Anschauung dachte: Aber die Biene sieht ja nicht so genau, sie hat gar keine Vorstellung vom Bienenzüchter, vom Bienenvater, wie soll da irgendwie eine Zusammengehörigkeitsempfindung entstehen? Aber noch viel mehr. Nehmen wir an, der Bienenvater versorgt dieses Jahr den Bienenstock, im andern Jahr ist ein ganz anderes Bienenvolk darinnen, es ist ganz ausgetauscht bis auf die Bienenkönigin, es sind lauter junge Bienen drinnen. Wo soll da die Zusammengehörigkeitsempfindung entstehen? – Ich antwortete Folgendes: Derjenige, der den menschlichen Organismus kennt, weiß, dass in gewissen Perioden der menschliche Organismus alle seine Stoffe austauscht. Nehmen wir an, irgend jemand lernte heute einen Menschen kennen, der nach Amerika geht und nach zehn Jahren zurückkommt. Er findet einen ganz andern Menschen vor, als der war, den er vor zehn Jahren gekannt hat. Er findet alle Stoffe ausgetauscht, er findet eine ganz andere Zusammenfügung vor. Da liegt nichts anderes vor als beim Bienenstock, wo die Bienen ausgetauscht sind, aber es bleibt die Zusammengehörigkeit zwischen dem Bienenstock und dem Bienenvater. Diese Zusammengehörigkeit beruht darauf, dass im Bienenstock eine ungeheure Weisheit lebt, er ist nicht nur dieses Häuflein einzelner Bienen, sondern der Bienenstock hat wirklich eine konkrete eigene Seele.
Das ist dasjenige, was man wiederum in seinen Natursinn aufnehmen muss, diese Anschauung, dass der Bienenstock eine Seele hat.2
Aber wiederum lebt der Bienenstock ein ganz merkwürdiges, eigentümliches Leben. Worauf beruht denn das?
Sehen Sie, das können Sie überhaupt nicht erklären, wenn Sie nicht die Möglichkeit haben, ins Geistige hineinzuschauen. Das Leben im Bienenstock ist außerordentlich weise eingerichtet. Das wird jeder sagen, der das Bienenleben betrachtet hat. Dass die Bienen eine solche Wissenschaft haben, wie die Menschen sie haben, das wird man ja natürlich nicht sagen können, denn sie haben ja wirklich einen Gehirnapparat wie der Mensch und das alles nicht. Also, den allgemeinen Weltenverstand können sie in dieser Weise nicht hereinschöpfen in ihren Körper. Aber die Einflüsse aus der ganzen Weltumgebung, die wirken ungeheuer stark auf den Bienenstock. Und man würde richtig darauf kommen können, wie eigentlich das Bienenleben ist, wenn man berücksichtigen würde, dass alles das, was in der Umgebung der Erde liegt, gerade auf so etwas, wie es im Bienenstock ist, einen ungeheuer starken Einfluss hat. Das Leben des Bienenstocks beruht ja darauf, dass die Bienen so ganz richtig, viel mehr als die Ameisen und die Wespen, zusammenwirken, dass sie alle Arbeit so verrichten, dass das alles zusammenstimmt. Und wenn man dann darauf kommen will, wovon das herrührt, dann sagt man sich: Die Bienen haben ein Leben, worin unter-drückt wird, außerordentlich stark unterdrückt wird dasjenige, was bei den übrigen Tieren im Geschlechts-leben sich äußert. Das wird bei den Bienen außerordentlich stark zurückgedrängt.
Denn sehen Sie, bei den Bienen ist es eigentlich immer so, dass die Fortpflanzung nur besorgt wird durch ganz wenige auserlesene weibliche Individuen, die Bienenköniginnen. Die anderen sind eigentlich so, dass bei ihnen das Geschlechtsleben mehr oder weniger zurückgedrängt wird. Im Geschlechtsleben aber ist dasjenige vorhanden, was eben Liebesleben ist. Das Liebesleben ist ja zunächst etwas Seelisches. Nur dadurch, dass gewisse Organe des Körpers bearbeitet werden von diesem Seelischen, dadurch werden diese Organe zur Offenbarung, zum Ausdrucke des Liebeslebens. Und indem bei den Bienen das Liebesleben zurückgedrängt wird, eigentlich nur auf die einzige Bienenkönigin, wird das Geschlechtsleben sonst im Bienenstock verwandelt zu all diesem Treiben, das die Bienen untereinander entwickeln. Daher haben schon jene älteren, weiseren Menschen, die eben auf ganz andere Art die Sache gewusst haben, als man sie heute weiß, diese weiseren Menschen haben das ganze wunderbare Treiben des Bienenstocks auf das Liebesleben zurückgewiesen, auf das Leben, das sie mit dem Planeten Venus in Zusammenhang gebracht haben.
Und so können wir sagen: Wenn man auf der einen Seite die Wespen oder die Ameisen beschreibt, dann sind das Tiere, die sich mehr dem Einfluss des Planeten Venus entziehen. Die Bienen hingegen sind ganz hingegeben dem Einfluss des Planeten Venus, entwickeln das Liebesleben in ihrem ganzen Bienenstock. Das wird ein weises Leben, denn Sie können sich ja denken, wie weise das sein muss. Ich habe Ihnen Verschiedenes von der Erzeugung der Nachkommenschaft beschrieben. Da ist unbewusste...