1/1 – Spirituelle Kraft und die Höhle
Kraft
Im Februar 1957 verlief ich mich mit einem Grüppchen männlicher Shuar (Jívaro), nachdem wir wochenlang durch den gebirgigen Regenwald des oberen Amazonasbeckens gewandert waren. Müde, desorientiert und hungrig trafen wir schließlich auf ein paar freundliche Jäger, von denen wir erfuhren, dass wir in der falschen Richtung unterwegs waren. Sie gaben uns etwas von ihrer Verpflegung ab und zeigten uns den Weg in das Dorf, das wir suchten.
Nachdem wir uns von den Jägern verabschiedet hatten, kamen wir bald an einen kleinen, aufgrund schwerer Regenfälle in den Anden im Westen aber reißenden Fluss. Wir warteten mehrere Tage, dass das Wasser endlich nachließ, jedoch vergeblich. Während meine Weggefährten die Ruhe bewahrten, verlor ich schnell die Geduld, wusste ich doch, dass wir uns aus Balsastämmen Flöße bauen und Guadua-Bambus als improvisierte Paddel nutzen konnten, um den Fluss zu überqueren. Mehrfach schlug ich das den Männern vor, sie lehnten jedoch immer wieder ab.
Schließlich provozierte ich sie, indem ich ihnen vorhielt, sie bezeichneten sich doch stets als große Krieger, seien jetzt aber nicht einmal bereit, das Flüsschen zu überqueren. Ohne darauf zu antworten, bauten sie kurzerhand drei Flöße und bereiteten alles für die Überfahrt vor. Der Fluss war ungefähr 45 Meter breit, und das erste Floß, auf dem sich zwei der Indianer sowie ein Teil unseres Gepäcks befanden, schaffte es wohlbehalten ans andere Ufer. Mit weiteren zwei Männern bestieg ich das nächste Floß. Wir hatten den Fluss bereits zu drei Vierteln überquert, als wir in eine Stromschnelle gerieten. Das Floß kippte um und wir fielen in das Wildwasser. Nur mit größter Anstrengung konnten wir uns ans andere Ufer retten. Das dritte Floß passierte den Fluss dann wieder problemlos.
Als wir uns etwas ausruhten, bevor wir unseren Weg fortsetzen wollten, meinte ich zu den Männern: »Das war ziemlich knapp. Wir können von Glück sagen, dass wir noch am Leben sind.«
Ich hatte damit gerechnet, dass sie mir, vielleicht auch nur stillschweigend, zustimmen würden, aber meine Begleiter standen einfach da, wie man sich den typischen Indianerkrieger so vorstellt. Als wäre das alles gar nichts gewesen. Sie wirkten völlig unbeeindruckt.
Ihre Haltung verblüffte mich. Schließlich waren es dieselben Männer, die zuvor trotz meines Drängens so lange gezögert hatten, den Fluss zu überqueren. Und jetzt taten sie, als wäre das alles ein Spaziergang gewesen. Dabei hatten sie vorher Angst gehabt.
Sie wechselten Blicke, sagten aber nichts. Dann endlich rückte einer der Männer, den ich besonders gut kannte, mit der Sprache heraus. Er sagte: »Na ja, weißt du, wir hatten nicht wirklich Angst, den Fluss zu überqueren, denn wir können nicht sterben. Aber bei dir waren wir uns da nicht so sicher!«
Für mich öffnete die gefährliche Flussüberquerung in diesem Moment eine Tür zu wichtigem spirituellen Wissen. Nach und nach erfuhr ich von den Shuar, dass sie gegen alle Todesursachen mit der Ausnahme von Epidemien durch die Kraft der Geister geschützt sind. Ich erfuhr aber auch, dass einen diese Kraft verlassen kann und dass man derart ungeschützt dann tatsächlich stirbt. Deshalb achteten die Shuar, bevor sie zu einer gefährlichen Mission aufbrachen, auf die Zeichen, die ihnen verrieten, ob sie noch über die Kräfte verfügten, die ihnen ihre Schutzgeister verliehen. Waren diese Zeichen negativ, bliesen sie die Mission ab, insbesondere wenn es dabei um den Angriff auf einen Gegner ging.
Wie die Shuar wissen auch die anderen indigenen Schamanen weltweit, dass Geisterkraft die Grundlage für Gesundheit, Überleben und die Fähigkeit, andere zu heilen, ist. Ohne diese Kraft ist man Krankheiten oder Unglücksfällen schutzlos ausgeliefert. Dieses Wissen durchdringt in traditionell schamanischen Kulturen den Alltag von nahezu jedem.
Jaime de Angulo, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Zeit lang bei den Atsugewe in Nordkalifornien gelebt hatte, brachte es auf den Punkt, als er schrieb: »Ohne die Kraft kann man nichts Außergewöhnliches tun. Mit ihr ist alles möglich.«1
Sie ist wie ein Feld, das den Schamanen durchdringt und ihm oder ihr ermöglicht, anderen zu helfen und sie zu heilen. Die schamanische Vorstellung von Kraft ähnelt unserer von Energie, nur dass sie umfassender ist und sich nicht allein auf Energie bezieht, sondern auch auf Intelligenz und Selbstvertrauen. Spirituelle Kraft bedeutet nicht politische Macht oder Macht über andere. Vielmehr handelt es sich um die Kraft, die essenziell ist, um gesund bleiben und überleben zu können.
Geister
An dieser Stelle sollte ich vielleicht erklären, was ich eigentlich unter einem »Geist« oder »Spirit« verstehe. An anderer Stelle habe ich ihn einmal als »belebte Essenz« definiert, »die über Intelligenz und in unterschiedlichem Maße über Kraft verfügt, die man in vollständiger Dunkelheit am besten und sehr viel seltener im Hellen sehen kann und in einem veränderten Bewusstseinszustand eher als im Normalzustand. Es gibt sogar Anlass zu der Frage, ob man sie in einem gewöhnlichen Bewusstseinszustand überhaupt wahrnehmen kann.«2
Mit anderen Worten: Nicht alle Geister verfügen über bedeutende Kraft. Und die, die es tun, werden bei schamanischen Völkern oft einfach als »Kräfte« bezeichnet. In indigenen Kulturen besonders wichtig sind die Schutzgeister, die die Menschen, die sie lieben, mit einer behütenden Kraft ausstatten.3 Von einem Schamanen, der aufgrund seiner Erfahrung gelernt hat, welche Geister besonders machtvoll sind, richtig angerufen, kann eine solche Kraft auch eine aktive Unterstützung bei der Heilung seiner Patienten darstellen.
Die Kraft lässt sich auf verschiedene Art erwerben. In Sibirien, aber auch in Teilen Südamerikas war es üblich, dass man seine persönliche Kraft nach einer lebensbedrohlichen Krankheit gewann. Wurde die betreffende Person plötzlich auf wundersame Weise geheilt, schlossen die Bewohner der Gegend daraus, dass ein Geist Mitgefühl mit ihr hatte und eingeschritten war, um sie von ihrer Krankheit zu befreien. In einem solchen Fall statteten die Nachbarn ihr häufig einen Besuch ab, um herauszufinden, ob die heilende Kraft sich auch nutzen ließ, um einem anderen Kranken (der im Allgemeinen ein ähnliches Leiden hatte) zu helfen. Mit anderen Worten: Das Leiden der erkrankten Person konnte das Mitleid eines Geistes hervorrufen. Nicht wenige wurden auf diese Weise zu Schamanen.
Auf der Suche nach der Kraft der Geister
Wenn man diese Kraft empfangen möchte, sollte man idealerweise nicht warten, bis man schwer erkrankt. Dies war auch den Angehörigen der traditionell schamanischen Kulturen bewusst. Deshalb ermutigten sie gesunde junge Leute, freiwillig Leiden auf sich zu nehmen, damit die Geister der Ahnen auf den Plan traten, um ihnen zu helfen, indem sie ihnen ihre Kraft übermittelten. Diese Kraft war nicht allein eine heilende Energie, sondern viel mehr noch ein Mittel, das die Menschen in ihrem Alltag unterstützte, ihnen half, Unglück und Elend zu verhindern und für einen guten Ausgang der Dinge zu sorgen.
Die bekannteste Form des Kraft-Erwerbs war die Kraftsuche, besser bekannt unter der Bezeichnung »Vision quest« – Visionssuche. Wobei man hinzufügen sollte, dass nicht jede erfolgreiche Kraftsuche auch mit einer Vision einherging. Bei den südlichen Okanagan etwa sieht der Suchende den Geist nicht unbedingt, sondern empfängt seine Kraft stattdessen durch eine Hör-Erfahrung in Form eines Liedes und von Wörtern.4
Auf Kraftsuche gingen nur selten Kranke, sondern meistens gesunde und noch relativ junge Menschen. Es handelte sich also gewissermaßen um eine spirituelle Lebensversicherung, mit der man seine Erfolgs- und Überlebenschancen verbesserte.
Praktisch jeder konnte losziehen und die Kraft an einsamen Orten suchen, von denen man wusste, dass sich dort die Spirits vieler Ahnen und andere Schutzgeister aufhielten. Dabei konnte es sich um Berggipfel, tiefe Höhlen, einen abgelegenen Wasserfall, die Wildnis der Arktis, bestimmte Schluchten, Begräbnisstätten, Ruinen, einen entfernten Pfad oder auch andere Örtlichkeiten handeln. Entscheidend war immer nur: Die Geister mussten davon überzeugt sein, dass der die Kraft suchende Besucher ihres Lebensraums auch wirklich Hilfe verdient hatte. Sobald er einen solchen Ort erreicht hatte, stimmte der Suchende gewöhnlich ein Lied an oder wendete sich gedanklich an die anwesenden Geister, um ihre Unterstützung zu erbitten.
Freiwillig leiden, um mitfühlende Hilfsbereitschaft zu erwecken
Die Suche nahm unterschiedliche Formen an. Unabhängig von der spezifischen Kultur sah sie gewöhnlich vor, dass sich der Suchende bewies, indem er freiwillig Leiden auf sich nahm, zum Beispiel Angst, Hunger, Durst, extreme Hitze oder Kälte und Erschöpfung. Wobei man wissen muss: Im Schamanismus dient Leiden nicht dazu, irgendwelche »Sünden« abzubüßen, sondern soll die Hilfe mächtiger Geister anziehen.
Unter einigen Inuit der Arktis bestand eine Möglichkeit für eine erfolgreiche Kraftsuche darin, mitten im tiefsten Winter vier oder fünf Tage ohne Essen und Wasser in einem besonders isolierten Iglu zu verbringen. Sobald sich die festgelegte Zeit ihrem Ende näherte, kam ein Dorfältester, in aller Regel ein Schamane, öffnete den Iglu und brachte die betreffende Person nach Hause. Der Iglu verfügte nicht einmal über ein Wärme spendendes Öllämpchen, sodass mehrere Leiden...