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Kapitel 2
Borderline-Störungen – eine Begriffsbestimmung
Samuel Pfeifer
Borderline-Störungen sind nicht neu. Die Psychotherapeuten unserer Zeit haben lediglich einen neuen Namen für die massive seelische Instabilität eines Menschen geschaffen. Dramatische »Borderliner« hat es in der Geschichte wohl immer gegeben:
• Opern-Divas und launische Prinzessinnen
• Flagellanten und Stigmatisierte6
• sogenannte »Hexen«, Seherinnen und »Besessene«
• Hysterikerinnen und Hypnotisierte im Paris der Jahrhundertwende
Es wäre ein Irrtum zu meinen, diese Frauen und Männer hätten nur versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während launische Prinzessinnen ein verwöhntes Leben im Prunk führten, waren sie eben doch nur Puppen im großen Theater eines Königshofs, in dem es keine persönliche Freiheit gab. Andere flüchteten vor den unsäglichen Verletzungen und Konflikten ihrer Kindheit in die Einsamkeit oder in die Askese, die weit hinausging über den Wunsch, Gott zu dienen. Wer durch die Pest alles verloren hatte, wer beinahe irrwitzig wurde am Grabe seiner Lieben, dem gab die öffentliche Zurschaustellung seiner Schmerzen durch blutende Geißelstriemen vielleicht noch eine letzte Lebensaufgabe. Manche dieser emotional so sensiblen und instabilen Menschen haben ihren »sechsten Sinn« in einer manipulativen und geschäftsorientierten Weise eingesetzt, der sie zu Wahrsagerinnen werden ließ.7 Diese Phänomene an der Grenzlinie zum Okkulten sollen in einem späteren Kapitel noch besprochen werden. Im 19. Jahrhundert erweckten hysterische Frauen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft und wurden zu vielbeachteten Demonstrationsobjekten von Ärzten und Hypnotiseuren.8 Eines war all diesen Menschen gemeinsam: Sie waren in ihrem auffälligen Verhalten immer auch Leidende, zutiefst unerfüllte, deprimierte und oft auch von der Gesellschaft ausgeschlossene Menschen, die mit dem Leben nicht mehr zurechtkamen.
Der Begriff der Borderline-Störungen ist nicht unumstritten.9 Kritiker wenden ein, es handle sich um einen modischen Jargon-Begriff, der nicht ausreichend scharf von anderen Zustandsbildern abzugrenzen sei. So wie die Hysterie die klassische Neurose zur Zeit Sigmund Freuds gewesen sei, so sei Borderline das typische Problem unserer Zeit. Darin steckt sicher viel Wahrheit, zumal die farbigen Zustandsbilder hysterischer Patienten denen von heutigen Borderline-Persönlichkeiten sehr ähnlich sind. Warum verwenden wir dann hier den Begriff »Borderline«? Ganz einfach: es geht nicht in erster Linie um den Namen, sondern um die Zustandsbilder, die damit umschrieben werden. Wir streiten nicht um Etiketten, sondern versuchen eine Verständnishilfe zu geben, instabile Persönlichkeiten besser zu verstehen und sie therapeutisch und seelsorglich zu begleiten. Mehr noch, der Begriff hat sich mittlerweile derart eingebürgert, dass er seinen festen Platz in den international gebräuchlichen diagnostischen Handbüchern10 gefunden hat. Mittlerweile wird diskutiert, die Borderline-Störung auf die Stufe einer ernsten psychischen Störung zu stellen, ähnlich wie eine Depression oder eine Angststörung (zumal ausreichende Belege für eine genetische und eine hirnbiologische Grundlage bestehen, die zur dramatischen Instabilität dieser Menschen führen)11. Ein Blick in die Geschichte der Entstehung des Begriffs führt hinein in die heutige Sicht dieser Störungen.
Instabile Persönlichkeiten waren immer eine Herausforderung für die helfenden Berufe. Sigmund Freud sah die Ursachen schwerer Neurosen in dem Konflikt zwischen primitiven, unbewussten Impulsen und den Bemühungen des Bewusstseins, diese verabscheuungswürdigen, unannehmbaren Gedanken ins Bewusstsein eindringen zu lassen. Man geht davon aus, dass manche seiner Fallgeschichten, wie z. B. der Rattenmann oder Anna O., eigentlich Borderline-Patienten waren. Der Begriff »Borderline« wurde zum ersten Mal von Adolph Stern 1938 geprägt, um eine Gruppe von Patienten zu beschreiben, die nicht in die diagnostischen Kategorien der klassischen Neurosen und der primären Psychosen zu passen schienen. Diese Patienten waren zwar offenbar kränker als andere neurotische Patienten, aber dennoch zeigten sie keine verzerrte, wahnhafte Deutung der Umwelt wie etwa schizophrene Menschen. Obwohl sie wie neurotische Menschen unter einer großen Auswahl an Angstsymptomen litten, fehlte es ihnen an der bei anderen neurotischen Patienten beobachteten relativen Stabilität. Im Gegensatz zu Borderline-Patienten zeigen »durchschnittlich neurotische« Menschen meist ein solideres, beständigeres Identitätsgefühl, und sie wenden reifere Bewältigungs- und Abwehrmechanismen an, um mit ihren Konflikten umzugehen.
Die Grenzlinie zeigte sich in drei Bereichen:
• Vordergründig leichter neurotische Patienten, die zuerst nur wenig neurotische Symptome und ein paar Lebensprobleme zu haben schienen, dann aber in der Therapie rasch schwere Symptome wie akute Suizidalität, selbstschädigendes Verhalten oder ausgeprägte Identitätsstörungen entwickelten.
• Vordergründig psychotische Patienten, die zwar mit deutlichen wahnhaften Symptomen, Schlaflosigkeit, Ängsten oder bizarrem Verhalten in die Klinik kamen, sich dann (entgegen dem klassischen Verlauf schizophrener Störungen) aber erstaunlich rasch erholten und dann eher ein Muster von Instabilität und neurotischen Symptomen zeigten. Hier wurde manchmal der Begriff der »pseudoneurotischen Schizophrenie« verwendet12.
• Vordergründig depressive Patienten, die aber im Gegensatz zur tiefen Traurigkeit und Apathie des durchschnittlich Depressiven rasche Stimmungsschwankungen, einschießende Suizidalität und ausgeprägt wechselhafte Beziehungsmuster zeigten, die Angehörige und Betreuer in Atem hielten.
Alle drei beschriebenen Verläufe passen also nicht ins herkömmliche Bild dieser Störungen und machten es nötig, eine neue gemeinsame Beschreibung zu suchen. In der Literatur setzte sich zunehmend der Begriff »Borderline« durch. 1968 beschrieb Grinker13 vier Untertypen des Borderline-Syndroms:
1. eine schwer leidende Gruppe, die an der Grenze zur Psychose lag,
2. eine »Kern-Borderline«-Gruppe mit stürmischen zwischenmenschlichen Beziehungen, intensiven Gemütszuständen und einem Gefühl chronischer Leere,
3. eine »Als-ob«-Gruppe, die sich leicht von andern beeinflussen ließ und der es an einer stabilen Identität fehlte,
4. eine leicht beeinträchtigte Gruppe mit geringem Selbstvertrauen, die an das neurotische Ende des Spektrums grenzte.
Im Jahre 1980 wurde die Diagnose in die Amerikanische Klassifikation Psychischer Störungen (DSM-III) übernommen14 und erhielt damit die breite Anerkennung der Fachwelt. Der Psychoanalytiker Otto Kernberg15 stellt die Borderline-Persönlichkeit genau zwischen die neurotische und die psychotische Persönlichkeitsorganisation. Ein Patient mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ist zwar weniger beeinträchtigt als ein Psychotiker, bei dem die Wahrnehmung der Realität stark verzerrt ist, sodass ein normales Funktionieren unmöglich gemacht wird. Andererseits ist ein Mensch mit einer Borderline-Störung stärker behindert als ein Mensch mit einer neurotischen Persönlichkeit, dessen Ängste sich als Resultat emotionaler Konflikte deuten lassen. Die Identitätswahrnehmung des neurotischen Menschen und seine Bewältigungs- und Abwehrmechanismen sind meist anpassungsfähiger als die des Borderline-Patienten. Borderline-Patienten zeigen zudem oft eine Vielfalt an zusätzlichen Persönlichkeitsstörungen (paranoide, schizoide, narzisstische, histrionische16, antisoziale, zwanghafte oder phobische Züge sowie sexuelle Störungen und dissoziative Reaktionen), die sehr wechselhaft ausgeprägt sein können. Die ständig wechselnde Befindlichkeit von Borderline-Patienten wurde mit einem Kaleidoskop verglichen, das bei jeder noch so kleinen Drehung immer neue Farb- und Kristallmuster vor dem staunenden Betrachter erstehen lässt.
Für Kernberg waren folgende Eigenschaften wichtig:
• ein brüchiger und wechselnder Wirklichkeitsbezug
• Schwierigkeiten im Umgang mit Frustrationen und Enttäuschungen
• unreifes Denken17
• unreife Abwehrmechanismen
• verzerrte Selbstauffassung
• verzerrte Auffassung von anderen
Wechselnder Wirklichkeitsbezug: Die meiste Zeit über haben Borderline-Patienten einen angepassten Bezug zur Wirklichkeit. Unter Stress kann der Betroffene jedoch kurzzeitig in eine psychotische Verzerrung der Realitätswahrnehmung geraten. Borderline-Persönlichkeiten haben große Schwierigkeiten, Frustrationen und Enttäuschungen zu ertragen und mit Angst zurechtzukommen. Impulsives Verhalten ist der Versuch, diese Spannung abzubauen. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten mit der Sublimation. Sie sind also nicht in der Lage, Frustrationen und Unbehagen auf sozial angepasste Art zu kanalisieren. Oft zeigen sie starke Wechsel in den Gefühlen. Eine Borderline- Persönlichkeit kann sich so verhalten, als ob sie einen dramatischen Ausbruch,...