DIE GESCHICHTE VON ,MIR‘
Alles, was es gibt, ist Ganzheit … grenzenlose Energie, die als Alles erscheint … der Himmel, Bäume, Gefühle, Gedanken, was auch immer. Es ist das Mysterium des Nichts, das gleichzeitig Alles ist.
Außer dem grenzenlosen Alles existiert nichts – und doch: weil es frei ist, kann es scheinbar getrennt von sich erscheinen ... es kann als Geschichte von ‚Mir‘ erscheinen. Und an dieser Erscheinung, diesem scheinbaren Geschehen der Ganzheit, ist nichts richtig oder falsch.
Kontrahierte Energie scheint im Menschen aufzusteigen und ein Gefühl der Trennung zu erzeugen, mit dem ein einzigartiges Identitätsgefühl einhergeht ... Selbst-Gewahrsein. ‚Ich‘ wird geboren und die Geschichte von ‚Mir‘ scheint zu beginnen. ‚Ich‘ ist die Geschichte und die Geschichte ist ‚Ich‘, eines kann ohne das andere nicht existieren. Sie erscheinen und funktionieren beide nur in einer dualistischen Subjekt-Objekt-Realität, die durch die Funktion des Gewahrseins aufrechterhalten wird. Alles scheint persönlich als eine Serie von Ereignissen in Echtzeit erlebt zu werden, die einem realen ‚Ich‘ zustoßen. Innerhalb dieser Geschichte scheinen die Zeit, die Reise, das Ziel, der freie Wille und die Wahl real zu sein.
Dieses Gefühl des Getrenntseins ist nicht nur eine Idee, ein Gedanke oder ein Glaube. Es ist eine kontrahierte Energie, die im gesamten Organismus verkörpert ist und jede Erfahrung beeinflusst. Das führt dazu, dass das ‚Ich‘ einen Baum, den Himmel, einen anderen Menschen, einen Gedanken oder ein Gefühl durch einen Schleier des Getrenntseins erlebt. Es ist, als sei das ‚Ich‘ ein Etwas, ein Ding, während alles andere als viele verschiedene Dinge wahrgenommen werden, die ‚Mir‘ geschehen. Dieser Eindruck des Abstands zu allem erzeugt ein subtiles Gefühl der Unzufriedenheit; ein Gefühl, dass irgendetwas verloren gegangen oder verborgen ist. Für die meisten Menschen ist dieses Gefühl der Unzufriedenheit nicht sehr offenkundig und weil sie sich für Individuen mit freiem Willen und eigener Entscheidungsfähigkeit halten, scheinen sie zu versuchen, eine erfolgreiche Geschichte zu erschaffen … gute Beziehungen, gute Gesundheit, Wohlstand, persönliche Macht oder was auch immer.
Doch bei einigen gibt es eine größere Sensibilität dafür, dass etwas zu fehlen scheint. Aus diesem Gefühl erwächst die Sehnsucht nach einer tieferen Erfüllung. Sie kann zur Beschäftigung mit Religionen, Therapien oder der Bedeutung von Erleuchtung führen. Weil das ‚Ich‘ zu der Überzeugung gelangt ist, es besäße die Mittel, um seine Geschichte zu beeinflussen, nimmt es auch an, es könne durch eigene Entscheidungen, Entschlossenheit und Aktivitäten tiefe Erfüllung finden.
Das ‚Ich‘ kann zum Beispiel zu einem Priester oder Therapeuten oder Erleuchtungslehrer gehen, um zu finden, was es zu brauchen glaubt.
Weil das ‚Ich‘ oft fühlt, dass es etwas verloren hat, kann ein Gefühl der Unzulänglichkeit auftauchen und so wird eine Lehre verfolgt, die das Bedürfnis befriedigt, etwas zu tun, was zu persönlicher Transformation führt und das ‚Ich‘ würdig macht, Erfüllung zu erleben. Alle diese Aktivitäten geschehen scheinbar innerhalb der Geschichte des ‚Ich‘, das in einer künstlichen, dualistischen Realität funktioniert. So sucht das ‚Ich‘ im Endlichen nach dem, was unendlich ist. Ein Etwas sucht ein anderes Etwas, und wonach es sich wirklich sehnt, bleibt unerreichbar, weil es schon längst Alles ist. Das ist etwa so, als würde man versuchen, mit einem Schmetterlingsnetz die Luft einzufangen. Es ist nicht schwierig, aber es ist wunderbar unmöglich. Die absolute Vergeblichkeit dieser Suche stärkt unweigerlich die Vorstellung eines ‚Ich‘, das sich sogar noch wertloser und getrennter fühlt.
Doch die Aktivität des Suchens kann Erfahrungen mit sich bringen, die das ‚Ich‘ dazu ermutigen, weiter zu suchen und sich noch stärker zu bemühen. Therapien können innerhalb der Geschichte ein vorübergehendes Gefühl persönlicher Balance mit sich bringen. Übungen wie z.B. Meditationen können einen Zustand des Friedens und der Stille erzeugen. Selbsterforschung kann anscheinend zu wachsendem Verständnis und Gewahrsein führen. Aber Gewahrsein ist eine Funktion, die etwas außerhalb ihrer selbst benötigt, dessen sie sich gewahr sein kann. Gewahrsein verstärkt einfach nur die Trennung, und ein Gefühl der Distanziertheit kann auftauchen und fälschlich für Erleuchtung gehalten werden. Alle diese Zustände erscheinen und verschwinden wieder innerhalb der Geschichte des ‚Ich‘.
Alle Lehren über das Erlangen der Erleuchtung basieren auf der Vorstellung, die Veränderung unserer Überzeugungen oder Erfahrungen könnte zu einer persönlichen Erkenntnis der Einheit, der Selbstrealisation oder der Entdeckung des eigenen wahren Wesens führen. Der gesamte Einsatz für einen sich entwickelnden Weg unterstützt einfach nur die Geschichte eines ‚Ich‘, das irgendetwas erreicht. Selbst die Vorstellung von persönlicher Hingabe oder Akzeptanz kann am Anfang sehr attraktiv sein und zufriedenstellende Zustände mit sich bringen … für eine Weile. Es gibt viele sogenannte non-duale Lehren, die die Geschichte eines ‚Ich‘ unterstützen, das befreit wird.
Doch die ersehnte Einheit ist grenzenlos und frei. Man kann sie weder ergreifen, noch sich ihr annähern. Es gibt an dem, was schon Alles ist, nichts zu tun, zu verändern oder zu verbessern.
Die ‚Ich‘-Erfahrung kann sehr überzeugend sein, weil ‚die Welt‘, in der sie lebt, von vielen verschiedenen ‚Ichs‘ in vielen verschiedenen Geschichten dominiert zu sein scheint. Aber das ‚Ich‘-Konstrukt hat keine Dauer. Diese gesamte ‚Ich‘-Geschichte ist einfach nur ein Tanz der Ganzheit ohne Sinn oder Ziel.
Eine tiefe und kompromisslose Enthüllung des künstlichen Konstrukts der Trennung und der Geschichte von ‚Mir‘ kann anscheinend die Fesseln lockern, die es fixieren. Ebenso kann sie aufzeigen, auf welche Weise die Suche das Dilemma einfach nur verstärkt. Das scheinbare Gefühl der Trennung ist im Grunde allerdings eine kontrahierte Energie, die nicht durch noch so viel konzeptuelle Klarheit aufgelöst werden kann.
Wenn Offenheit dem gegenüber besteht, was jenseits der Selbstsuche und der persönlichen Erfahrungen existiert, dann scheint die scheinbar kontrahierte Energie in die grenzenlose Freiheit hinein zu kollabieren, die sie schon längst ist. Und auch das ist eine weitere Geschichte, die versucht, ein totales Paradox in Worte zu fassen und zu beschreiben ... das scheinbare Ende von etwas, dass nie real war … der Geschichte von ‚Mir‘.
Alles, was ist, ist grenzenlose Freiheit
Hier und an verschiedenen weiteren Stellen des Buches folgen einige Fragen, die bei Meetings gestellt wurden.
Wie geschieht dieser Zusammenbruch?
Es gibt kein Wie. Getrenntsein ist nur scheinbar der Fall. Es ist nicht real. So bricht auch nichts zusammen, nicht auf reale Weise. Es gibt nur Erscheinen und das ist das Mysterium. Es ist sowohl real als auch irreal. Du meinst, es gäbe ein reales Ereignis. Das braucht es aber nicht, weil alles schon längst ganz ist. Was nicht mehr da zu sein scheint, ist der Eindruck, dass alles nicht ganz sei.
Aber du hast den Kollaps erwähnt.
Das offene Geheimnis versucht eine Geschichte zu erzählen, die von etwas handelt, das nur scheinbar geschieht. Die Worte beschreiben ein Paradox, aber das macht es nicht real. Ich könnte sagen, dies sei ‚Nichts, das als Alles erscheint‘, doch das sind einfach nur Worte. Sie sind nicht ‚Nichts, das als Alles erscheint‘, sondern Worte, die das zu beschreiben versuchen, was nicht verstanden werden kann. Sie weisen auf etwas hin, das jenseits allen Verstehens ist …
Wenn also nichts real ist, was ist dann dieser Stuhl?
Ein Stuhl ist das Nichts, das ‚stuhlt‘. Da das ‚Ich‘ mit einem Gefühl von Trennung hinschaut, sieht es ihn als etwas Festes. In Wirklichkeit ist der Stuhl eine Bewegung von Teilchen, die um das ‚Stuhlen‘ herumwirbeln, und dann schaut das ‚Ich‘ sich das an und sieht und erfährt es als ein reales, separates Objekt, das es Stuhl nennt.
Du erwähnst einen Unterschied zwischen Erwachen und Befreiung?
Da sprechen wir wieder über die Geschichte. Innerhalb der Geschichte kann es so scheinen, als lebte der Suchende sein Leben und plötzlich sei da kein Suchender mehr, und dann scheint es, als komme der Suchende auf der anderen Seite wieder heraus. Er denkt, etwas Erstaunliches sei geschehen und will daran teilhaben. Dieser Moment vor dem Zusammenbruch – oder nicht – wird Erwachen genannt. Es ist eine erwachende Energie, ein Tanzen...