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An diesem Zeichen kannst du mich erkennen

Leben mit Narben an Körper und Seele

AutorHanna Rheinz
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl334 Seiten
ISBN9783105602911
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Hanna Rheinz untersucht das Phänomen »Narbe« in all seinen Facetten. Ob durch Unfälle, Operationen oder auch »nur« einen Körper, dessen Form und Aussehen nicht den gängigen Idealen entspricht: Das Leiden an der eigenen körperlichen »Mangelhaftigkeit« ist eine Grunderfahrung jedes Menschen. Auch Schönheitsoperationen, Tätowierungen oder Piercing-Ringe verursachen Narben, doch wer sie trägt, identifiziert sich mit ihnen, da sie das Ergebnis einer freien Entscheidung sind. Und das wiederum kann den Weg weisen zu einem anderen Umgang mit den Malen der Seele und des Körpers, wenn es gelingt, sie positiv in die eigene Lebensgeschichte einzubinden. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Hanna Rheinz, Publizistin, ist promovierte Psychologin und Psychotherapeutin.

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Leseprobe

Gesichts-Los


Zerfall. Nichts funktioniert mehr. Das Gesicht, derangiert. Der Rücken krumm. Die Beine zu lang oder zu dick. Das laß ich mir wegmachen. Schicksal: Antlitz.

Leiden am eigenen Körper, oder genauer: am Zuschnitt, an der Ausstattung dieses Körpers, seines Gesichts, seiner Organe und Gewebe. Nicht nur vage und verschwommen wie jene Begünstigten der Natur, deren Mangel von anderen kaum oder doch nicht in der vom Leidenden geltend gemachten Strenge festgestellt werden kann. Nein. Hier sprechen die Tatsachen des Körpers wirklich Bände.

Die Narbe ist wirklich, ebenso die Verkrüppelung, das Schiefe, Ab-norme, Mißgebildete, all dies ist auch für andere erschreckend offenkundig. Denn es gibt sie ja wirklich, jene Menschen, denen Geburt, Unfälle, Kriegsgewalt, Risikobereitschaft, Mißgeschick (worunter auch verunglückte Operationsversuche zu rechnen sind) tiefere Wunden schlugen als jene, die ihrer ansichtig werden, ertragen können.

Daß »hassen« von »häßlich« abstamme, wurde behauptet, und daß man das Wesen eines Menschen aus der Physiognomie ablesen könne. Ein abstoßender Gesichtsausdruck deute zwangsläufig auf einen ebensolchen Charakter.

Eine irgendwie bekannte Körperform, ein Gesichtsausdruck, der an Vertrautes erinnert, doch nur entfernt, denn etwas Fremdes hat sich in die Züge geschlichen und verwandelt sie in eine Fratze, die wir fürchten, so wie wir uns als Kinder vor dem Fremden fürchten, von dem wir nicht wissen, was wir zu erwarten haben. Das entstellte Gesicht wirkt, da es vertraut und zugleich fremd ist, unheimlich. Dies ist der Frankenstein-Effekt. Jedes Teil ist aus einem anderen Zusammenhang her bekannt, doch aus der Willkür, die im Aneinandergestückeltsein liegt, entsteht eine Bedrohung, die uns in unserem innersten Kern trifft; die Sicherheit unserer Existenz gefährdet.

Wir fürchten uns vor dem, was einst nah war und nun fremd geworden ist. Ein Verräter, der einst das Weite suchte, heimlich zurückgekehrt ist, sich eingeschlichen hat, nun auf der Schwelle steht.

Das unvollständige Gesicht läßt den Träger anonym ebenso wie durchsichtig werden. Der Betrachter vermeint, bis auf den Grund dieses fehlerhaften Gesichts sehen zu können. Dort blickt ihn jemand an, der keine Erinnerung mehr in ihm auszulösen vermag.

Das Unbekannte im eigentlichen Vertrauten erzeugt massive Angst. Was vertraut war, hat sich unter unbekannten Bedingungen verändert. Die Gefahr, die wir sonst erfolgreich von unserem Bewußtsein fernhalten, lauert ebenso auf den unbeteiligten Betrachter. Ein Gesicht, das sich im unruhigen Wasser zur Fratze verzerrt, findet nicht mehr zurück zur ursprünglichen Form, findet keinen Ruhepunkt mehr. Namenloser Schrecken. Worauf wir Anspruch zu haben glaubten, ist null und nichtig und für immer verloren: Selbstverlust.

Der Körper wird zur Lawine, die wie ein Mahlstrom hinab in die Tiefe reißt. Denn der Körper ist der Austragungsort des Selbst. An ihm und seinem Leiden manifestiert sich seine Vitalität, die Schwingungen seiner Seele.

» Das Leben eines Menschen «, schrieb Alexander Lowen in seiner »Bioenergetik«, »ist das Leben seines Körpers.«

Ein Motiv in Alpträumen, aus denen wir rasch zu erwachen wünschen. Unkontrollierbare Veränderungen des Selbstausdrucks. Die Zähne brechen ab, ebenso die Gliedmaßen, und büschelweise fallen die Haare aus. Man ist ein anderer. Nein. Man ist nicht mehr.

Die wirklichen Verwundungen des Körpers brechen unvorbereitet in den Alltag ein. Sie zerbrechen das Selbstverständliche von einer Sekunde zur anderen. Sie werden zu Bruchlinien, die den Alltag in ein Vorher und Nachher zerstückeln. Risse, die beunruhigen und stören, aber auch den Blick freigeben auf Zugrundeliegendes. Eine Last.

Etwas, das in Aufruhr versetzt. Eine Belästigung. Ganz und gar überflüssig. Denn jeder will unbeschwert sein Leben fristen, will nur dem begegnen, was geplant, was erwartet wird. Unpassendes lehnt man unisono ab. Man will sich nicht zur Unzeit krümmen, im Schmerz die Erde umklammern. Und jeder ist froh, wenn der Schmerz endlich wieder abklingt und die Befindlichkeiten des Körperinnern aus dem Mittelpunkt des Bewußtseins wieder in die Peripherie rücken. Und dort gehören sie schließlich hin. Der erträgliche Status ist wiederhergestellt. Wohl nicht lange. Denn Schmerzen kehren lebenslang zurück. Wie der scharfe Herbstwind, der das Blut in den Adern gefrieren läßt, wie der heulende Sirenenton, der eine kaum wahrgenommene Hintergrundmusik gewaltsam unterbricht.

 

Leiden unter Blessuren? Wie verniedlichend dies klingt. Die Wunden an den Oberflächen des Körpers sind beileibe keine Bagatellen.

Sie kitten Leib und Seele zusammen und ebenso das Gesicht, das sein Gegenüber anblickt. Seit neuestem erhalten die verwickelten Beziehungen zwischen Identität und Körperbild endlich die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.

Dem Heer der Verwundeten, Unfall- und Kriegsopfer mit ihren oft lebenslangen Streßreaktionen stehen Experten gegenüber, die aus oft miteinander konkurrierenden Disziplinen stammen: von der Wiederherstellungschirurgie bis zur Bionik (um was es sich dabei handelt, wird im Kapitel »Eine Philosophie der Prothese« noch erläutert werden). Jeder, propagieren sie in Kursen und Ratgebern, solle an seiner Wunde arbeiten, damit sie endlich nicht länger negativ auffalle. Dies gilt für die Wunden des Körpers ebenso wie für die Wunden der Seele.

Natürlich ackern sie auch auf pychosozialen Berufsfeldern: Therapeuten vieler Couleur (im Fall der optimalen Versorgung) stehen dem Verwundeten zur Seite, um ihm seine Wiederanpassung an den Alltag zu erleichtern.

Weil dem Betroffenen vorgegaukelt wird, alles ließe sich leicht wiederherstellen und reparieren, kann der seelische Druck, der auf den Gesundungsabsichten jedes einzelnen liegt, ins Unermeßliche steigen.

Was, wenn gerade ich scheitere? Was, wenn das neue Gerät, das Implantat, die Behandlung gerade bei mir nicht hilft? Was, wenn ich mit Haut und Haaren und endgültig unpassend unangepaßt bin?

Und prompt läßt die Besserung auf sich warten. Das Wiederherstellungswunder bleibt einstweilen aus. Wie oft gelingt mir ein weiterer Versuch oder vielmehr: wie oft ist die Kasse nochmals bereit, die Kosten dafür zu übernehmen?

»Krankheit ist vor allem anonym«, schreibt Simone Weil[1], »sie beraubt ihre Opfer der Persönlichkeit und macht sie zu Gegenständen. Sie ist gleichgültig; und es ist die Kälte dieser Gleichgültigkeit – eine metallische Kälte –, die alle, die sie berührt, bis ins Mark ihrer Seele gefrieren läßt. Sie werden nie mehr Wärme finden. Sie werden niemals mehr glauben, daß sie jemand sind.«

Die Welt der Gezeichneten ist eine Welt der Waffenstillstände nach großen Erschütterungen. Ein Rückzug in Resignation. Ein Zuviel an Vorwürfen und Selbstbezichtigungen. Eine Welt der Selbstausgrenzung und des Ausgegrenzt-Werdens. Und wer kann schon sagen, wer den Anfang machte?

Verstümmelt. Ausgestoßen, arbeitslos, nicht selten suchtkrank. Ausgezehrt von der nie gestillten Begierde, gescheitert in einer Gesellschaft, die im Tanz um das goldene Kalb des Konsums ihre Seele verloren hat, wandern sie durch die Straßen und suchen, was sie selbst kaum glauben könnten, würde ein anderer es von ihnen verlangen.

Eine Kultur, auf Neid und Erfolg gebaut, nimmt nur selten Rücksicht auf die Schwachen.

Schon im Kindesalter verspotten die Gesunden, Unauffälligen jene anderen, die sie durch ihr Anderssein erschüttern und bedrohen. Das Kind, das sich körperlich und seelisch unterscheidet, ist »fremd«, »komisch«, »verrückt« oder, in zeitgenössischer Sprache: ein Kanake, ein Krüppel, ein Bimbo. Wer anders ist, wird beschimpft, geschlagen, gehänselt. Erst recht unter Erwachsenen. Und wieviel kraftvoller erst!

Außerhalb der Meßlatte sein birgt Gefahren.

Mit zunehmendem Lebensalter wachsen die Benachteiligungen. Zurückgesetzt werden, angeblich, damit der zu klein Geratene besser sehen kann. In Wirklichkeit, damit ihn aus der letzten Reihe nicht so viele andere Menschen sehen können. Der Anblick ist den anderen zuwider.

Im selben Maße wächst unter jenen, die noch hoffen können, der Wunsch, anders, wieder normal zu sein. Mißlingt auch dies, bleibt nur noch, in die Enge getrieben, die Wahl zwischen Flucht und Provokation. Und in den Augen der anderen spiegelt sich Neugierde und Schrecken.

 

Die Schönheiten der Narben entdecken. Verdichtete Erinnerungen. Die zerklüfteten Erdlandschaften alternder Gesichter, die Geheimnisse, die in angeborenen Verwerfungen des Körpers liegen. Die Wunde, die Erinnerung birgt, erlittene Gewalt, Aufbegehren, Mut. Scheitern und Überleben.

Der Körper ist Gedächtnis, sein Schmerz ein tägliches Gedenken. Eine Schicksalsgravur.

Eine gerade Linie verläuft vom Körper zum Selbst, zur Identität. Zum Image, jenem angepaßten, gesellschaftsfähigen Teil der Person.

Schicksal: Gesichtsverlust. Unfall. Kriegsversehrung.

Die Kette der Unglücke, die dem Körper widerfahren können, ist lang. Und wird immer länger. Denn immer länger wird die Liste der durch technischen Fortschritt, schnellere Autos, effektivere Waffensysteme, perfidere Chemikalienwirkungen verursachten Verstümmelungen. Und schon treten sie an die Stelle der angeborenen Mißbildungen, unter denen die Menschheit seit jeher litt und die, Gnade der Geburt im Zeitalter der medizinisch-industriellen Komplexe, durch allerlei chirurgische, kosmetische und neuerdings gentechnologische Interventionen aus der Welt geschafft werden sollen.

Genstrategen treten an die Stelle der Orthopäden, die den Klumpfuß richten, den krummen Rücken in Halterungen und Korsetts zwängen,...

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