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Annäherungen, Akzente
Mit welchen Augen wir die Welt auch betrachten
und welche Auswahl wir dabei treffen, was wichtig ist und was nicht,
es ist nur eine Möglichkeit, die Dinge zu betrachten,
und es gibt unendlich viele Betrachtungsweisen.
(Alan Watts)
Ihn zu verstehen, ist einfach und schwierig zugleich. Dietrich Bonhoeffer hat niemals Theologie um ihrer selbst willen, als Theologie für die Theologie, betrieben, sondern sie war das Auge, durch das er die Welt sah. Sie war die Dimension, durch die er sie begriff und begreiflich machen wollte. Seine Theologie war glaubendes Denken und denkender Glauben und zeigte große Vorliebe für die Ethik; diese war für ihn nicht nur eine Spezialdisziplin der Theologie – oder des Lebens. Aber seine Theologie und seine Ethik bilden kein in sich geschlossenes System; gleichwohl sind sie untrennbar miteinander verknüpft. Er hat sie und sich in unmißverständlich klarer, eindeutiger und prägnanter Art ausgedrückt.
Daneben gibt es Aussagen, die schwer nachvollziehbar klingen und paradox zu sein scheinen. Beides gehört zusammen: einerseits seine gerade, unmittelbar einleuchtende, buchstäblich »treffende« Redeweise, die voraussetzungslos ist und direkt; andererseits seine stark abstrahierende, mitunter kompliziert verkürzende Diktion, die mannigfache geistesgeschichtliche und speziell theologische Elemente oder auch nur Anspielungen enthält und sie variiert, verwirft, neu verwendet. Es ist verblüffend, wie sehr bei Bonhoeffer das Einfache und das Schwierige Hand in Hand gehen und sich das eine durch das andere erschließt.
Nicht weniger verblüffend sind andere Gegensätze, die bei Bonhoeffer zu entdecken sind. Es sind Gegensätze, die sich nur dadurch verstehen lassen, daß sie als »Gegen-Sätze« bestehen, aber zueinander gehören und sich eben nicht ausschließen müssen. Es sind aber auch Gegensätze, die sich nicht unbedingt miteinander versöhnen lassen: Der gottverlassene Mensch und der den Menschen suchende Gott; der religionslose Christ und der Christus nachfolgende Mensch; die Gemeinschaft der Heiligen und die übergroße Schuld der Kirche; der solidarische Gott und der ohnmächtige Gott; der mündige Mensch und der versagende, verlorene Mensch; die kinderleichte Ethik der Liebe und die vertrackte Verantwortungsethik; der Tod als Widersacher des Lebens und der Tod als Pforte der Freiheit.
Der im wahrsten Sinn des Wortes geistreichen, manchmal geradezu »hochfliegenden« Theologie Bonhoeffers korrespondierte, wenn vielleicht auch nicht von Anfang an, eine ganz alltägliche, geradlinige Praxis des Lebens, die schließlich in politische Praxis münden wird. Es war in der Tat eine »Theologie im Vollzug«,1 und zwar in mehrfacher Bedeutung des Wortes. Ihr korrespondierte nämlich, wenn vielleicht ebenfalls nicht von Anfang an, eine intensive persönliche Frömmigkeit.2 Die sich bei ihm findenden Legierungen einer sehr individuellen Spiritualität und einer ganz und gar durchdachten Theologie sowie die von verbindlichem Glauben und nachhaltigem Engagement suchen ihresgleichen. Bonhoeffers Theologie und Frömmigkeit enthielten ein staats- und kirchenkritisches Potential, das, würde es lediglich mit allgemeineren Attributen wie »gesellschaftskritisch« oder »religionskritisch« versehen, zu verschwimmen droht.
Scheinbar konträre Denk- und Lebenslinien sind in seiner Person, seinem Denken, Glauben und Handeln miteinander zu einem untrennbaren Gewebe verknüpft: eine rational nachvollziehbare, begriff lich ausgefeilte und überzeugend formulierte Theologie und ein emotional verwurzelter Glaube von immenser affektiver und aktivierender Kraft; ein theoretisches Christ-Sein und ein praktisches Christ-Sein; eine theologische Existenz, die zugleich und unweigerlich politische Existenz wird; nicht zuletzt die Idee eines religionslosen Christentums und das selbstverständliche Vorhandensein einer Frömmigkeit, die zutiefst und im besten Sinn »religiös« ist.
Weder horizontal noch vertikal läßt sich dieses Gewebe auftrennen, das Denken, Glauben und Handeln Bonhoeffers ausmacht. Ihn aufzuspalten, gar die einzelnen Elemente gegeneinander »auszuspielen«,3 hieße ihn verfehlen. Gewiß wäre es verführerisch, ihn aufzuteilen und zu etikettieren: in einen frühen und einen späten Bonhoeffer, so bei einem Leben, das mit neununddreißig Jahren zerbrochen wurde, überhaupt von früh und spät zu sprechen ist; in einen frommen und einen weltlichen Menschen; in einen theologisch denkenden und in einen politisch handelnden Christen; in einen konservativen und einen progressiven Theologen; in einen klassischen und einen modernen Denker. Aber seine theologische, seine denkerische Identität würde so nur beschädigt, wenn nicht zerstört.
Bonhoeffer war ein protestantischer Theologe par excellence, aber er hat innerhalb des Protestantismus ein eigenständiges theologisches Denken entwickelt und einen theologisch höchst fundierten Glauben praktiziert. Beides enthielt zudem – seiner Zeit weit voraus – ökumenische und transnationale, in jedem Fall: grenzüberschreitende Dimensionen, deren Realisierung teilweise immer noch aussteht. Er gehört mit Sicherheit zu den berühmtesten Protestanten des zwanzigsten Jahrhunderts innerhalb und außerhalb des Protestantismus. Zu fragen ist jedoch, ob er gerade innerhalb des konkret existierenden Kirchen- und Christentums nicht gleichzeitig ein faktisch vergessener Protestant ist. Entspricht in unserer Gegenwart der Alltag christlicher Existenz – und zwar auf individueller, gemeindlicher und kirchlicher Ebene – dem Bonhoeffer, auf den wir uns so gern und so oft berufen? Bonhoeffer – Sand oder Öl im Getriebe von Theologie und Kirche? Anreiz und Ansporn oder Alibi und Aushängeschild? Bonhoeffer — ein zwar widerständiges, aber konkretes Vorbild oder reichhaltiger Zitatenschatz für Predigten und andere Sonntagsreden, weit mehr zitiert denn praktiziert?
Doch zurück zu ihm selbst. Kein Denken schwebt im luftleeren Raum, kein aus einem bestimmten Denken entstehendes oder zu ihm hinführendes Handeln und erst recht keine Theologie und Ethik (und ein ihr gemäßes Verhalten). »Das«, betonte Bonhoeffer übrigens schon in der Nachfolge (DBW 4, S. 38), wenn auch mit einem etwas anderen Schwerpunkt, »bedeutet, daß eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist.« Das Denken eines Menschen ist jeweils zu beschreiben und zu verstehen vor dem Hintergrund seines konkreten Daseins, was jedoch erstens nicht bedeutet, daß es sich nur und ausschließlich von ihm her erklären läßt, und was zweitens nicht impliziert, daß es nicht auch permanent Wechselwirkungen zwischen dem Denken und dem Handeln eines Menschen gibt. So auch bei Bonhoeffer. Die Interdependenzen, die gegenseitigen Abhängigkeiten von Sein und Bewußtsein könnten an ihm vielfältig verdeutlicht werden; es ist hier jedoch nicht der Ort, ihn unter wissenssoziologischen oder tiefenpsychologischen Aspekten zu behandeln. Aber eine zentrale Leitlinie – es geht im Blick auf Bonhoeffer gar nicht anders – wird das Verhältnis von Dasein und Denken, von Biographie und Theologie sein.
Die Quintessenz(en) seiner Theologie und seines Denkens insgesamt zu erschließen, kann nicht gelingen, ohne die Verquickung mit seinem so und nicht anders gelebten Leben herauszuarbeiten. Die Verflechtung von Abstraktion und Konkretion gehörte für Bonhoeffer zur theologischen Wahrnehmung selbst. Sie gehört schlechterdings zur Wahrnehmung der Existenz eines anderen Menschen, und diese besteht bekanntlich immer aus Sein und Bewußtsein. Die Wechselwirkungen zwischen Sein und Bewußtsein, zwischen Bewußtsein und Sein bilden im Leben eines jeden Menschen wie im gesellschaftlichen Leben ein ständiges Hin und Her; sie sind Suchbewegungen und Determinanten zugleich. Diese Wechselwirkungen manifestieren sich bei Bonhoeffer so massiv wie wohl bei kaum einem anderen Theologen. Anders gesagt: Sein theo-logisches Leben und seine lebendige Theologie gehören zusammen.
Dies auch unter einem anderen Aspekt: Bonhoeffer »realisierte«, d.h. setzte in die Wirklichkeit um, was als theologische Erkenntnis zur Basisausstattung, zu den unverbrüchlichen Gewißheiten seines Lebens gehörte, im wahrsten und schließlich bittersten Sinn des Wortes. Seine Ethik wurde durch seine Existenz transparent, sein Denken durch sein Handeln legitimiert, seine Theologie durch seine Biographie beglaubigt. Auf diese Kongruenz von »Lehre und Leben«, diese unmittelbare Verschränkung von Theologie und Biographie als Ausgangspunkt des Verständnisses Bonhoeffers wurde – berechtigterweise – oft und vehement aufmerksam gemacht. Selbstverständlich gibt es aber auch Brüche und Widersprüche in seinem Denken und Leben – wie könnte es auch anders sein? Vielleicht sollten wir statt von der häufig beschworenen »Einheit von Leben und Werk« etwas bescheidener davon sprechen, daß seine Ansichten und die Art, wie er sein Leben lebte, in vieler Hinsicht miteinander übereinstimmten – und das wäre doch schon sehr viel! Aber wie auch immer: In jedem Fall können wir an Bonhoef fer etwas davon erkennen, was authentisches Leben ist.
Dieses spezifische Verhältnis von Theologie und Biographie bei Bonhoeffer erfordert eine Synopse, eine Zusammenschau seines Denkens und Lebens, und insofern wird das Biographische zunächst und auch in der weiteren Entfaltung eine wichtige Rolle spielen. Aber es kann und soll trotz allem in diesem Rahmen nicht um eine weitere – sozusagen zur Hälfte — biographische Studie zu Bonhoeffer gehen, um von ihr aus dann zur anderen Hälfte, nämlich zu einer theologischen...