Kindheit
In Amerika wurde nach einem Vortrag über Bonhoeffer einmal gefragt: «Dietrich Bonhoeffer muss einen sehr großen Einfluss auf seine Familie gehabt haben, wie wirkte sich dieser Einfluss denn aus?» Die Antwort, dass seine sieben Geschwister ihn mindestens ebenso beeinflusst hätten wie er sie und dass alle acht Kinder vor allem unter dem gleichen starken Einfluss der Eltern gestanden hätten, verwunderte. Man hatte sich einen Helden vorgestellt, der innerhalb wie außerhalb seiner Familie als Weltverbesserer wirkte. Bei Bonhoeffer reichte der Einfluss der Familie wohl über das übliche Maß hinaus. Diese große Familie hatte einen ungewöhnlichen Zusammenhalt, und das offene, großzügig geführte Haus seiner Eltern war und blieb ein bestimmendes Zentrum nicht nur für die engste, sondern auch für die weitere Verwandtschaft und viele gleich gesinnte Freunde.
Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 in Breslau als sechstes Kind der Familie geboren. Er hatte eine Zwillingsschwester Sabine. Die drei ersten Kinder waren Söhne: Karl-Friedrich und Walter, beide Jahrgang 1899, Klaus, Jahrgang 1901. Es folgten Ursula und Christine in den Jahren 1902 und 1903. Nach den Zwillingen Dietrich und Sabine wurde dann im Jahre 1909 als Letzte noch Susanne geboren.
Der Vater, Karl Bonhoeffer, war Professor für Psychiatrie und Neurologie. Er folgte 1912 einem Ruf nach Berlin und übernahm damit den in Deutschland angesehensten Lehrstuhl für dieses Fach. Von hier aus wurde der Name Karl Bonhoeffer über die deutschen Grenzen hinaus bekannt. Allerdings ist Karl Bonhoeffer wohl auch dafür verantwortlich, dass die Psychoanalyse von Freud und Jung damals kaum in die Berliner Fakultät eindringen konnte. Sein Kollege auf dem Heidelberger Lehrstuhl, Robert Gaupp, erklärte das folgendermaßen: «Es mag vielleicht auffallen, dass ein Mann, der als feinsinniger, mit hervorragender Einfühlung begabter Psychiater uns das wohl Beste über das Wesen der hysterischen Symptombildung gegeben hat, im Streit der Geister über die Lehren von Freud, Adler, Jung und anderen ‹Psychoanalytikern›, soweit ich sehe, nirgends ausführlicher und grundsätzlich Stellung genommen hat. ‹Psychoanalyse› heißt unvoreingenommene ‹Analyse der seelischen Erkrankung eines Menschen mit allen Mitteln einfühlender Psychologie bei sorgfältigster Beobachtung›. In dieser einfühlenden Psychologie und sorgfältigsten Beobachtung war Bonhoeffer wohl keiner überlegen. Aber er kam aus der Wernickeschen Schule, deren Orientierung sich immer am Gehirn vollzog und die Loslösung vom hirnpathologischen Denken nicht gestattete. […] Das Intuitive war ihm nicht fremd, das beweist sein ganzes Lebenswerk. Aber es drängte ihn nicht, ins Reich des Dunklen, Unbeweisbaren, der kühnen, phantasievollen Deutungen vorzudringen, wo so viel zu behaupten und so wenig wirklich sicher zu beweisen ist […].»[6]
Dietrich Bonhoeffer hat sich mit Freud nie ausführlich befasst, was sicher vor allem dem Einfluss des Vaters zuzuschreiben ist.
Karl Bonhoeffer war ein Mann von Autorität; sowohl in der Charité – der Berliner Universitäts-Klinik –, bei Assistenten und Studenten, als auch zu Hause. Er sprach leise und nicht sehr viel, doch was er sagte, merkte man sich. Gelobt und getadelt wurde sparsam, aber mit Gewicht. Er wirkte beherrscht und erwartete das auch von seinen Kindern. Nüchternheit und Abgewogenheit zeichneten ihn aus. Phrasen waren ihm ein Gräuel; man hatte sich sachlich, aber auch klar und möglichst kurz, ohne Umschweife auszudrücken. Die Kinder gewannen dadurch an Urteil, unterlagen aber sicher auch mancher Hemmung. Dietrich Bonhoeffer schreibt später: Manche verderben sich selbst dadurch, daß sie sich mit Mittlerem abfinden und so vielleicht schneller zu Leistungen kommen; sie haben eben weniger Hemmungen zu überwinden. Ich habe es als einen der stärksten Erziehungsfaktoren in unserer Familie empfunden, daß man uns so viele Hemmungen zu überwinden gegeben hat (in bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Natürlichkeit, Takt, Einfachheit etc.), bevor wir zu eigenen Äußerungen gelangen konnten. […] Und manchmal dauert es lange, ehe man eine solche Hürde genommen hat, und man denkt wohl auch gelegentlich, man hätte auf sehr viel billigere, leichtere Weise zu Erfolgen kommen können, wenn man diese Hindernisse einfach umgangen hätte […]. Hinter das, was man sich selbständig erarbeitet hat, kann man aber nie mehr zurück. Das ist für andere und auch für einen selbst vielleicht manchmal unbequem, aber das sind dann eben die Unbequemlichkeiten der Bildung.[7]
Die Kinder sahen den Vater vor allem bei Tisch, wo es etwas feierlich zuging und sie nur, wenn sie gefragt wurden, etwas sagen durften. An den Wochenenden, bei Geburtstagen und Festen konnte er dann aber auch ganz für sie da sein.
Auf das, was er versprach, konnte man sich unbedingt verlassen. Seine Tageseinteilung hielt er selbst bei großer Belastung pünktlich ein. Er war immer mittags um zwei Uhr zum Essen zu Hause. Hielt er dann nachmittags im Haus Sprechstunde, wurde von den Kindern absolute Rücksichtnahme verlangt. Das Arbeitszimmer des Vaters war stets tabu und höchstens mit besonderer Erlaubnis der Mutter zu betreten. Karl Bonhoeffer war Schwabe. Aus Holland eingewandert (van den Boenhoff aus Nimwegen), waren die Bonhoeffers seit 1513 in Schwäbisch Hall ansässig. In der Haller Kirche gibt es noch etliche Gedenksteine der Bonhoeffers. An einigen Häusern der Stadt findet man das Bonhoeffer’sche Wappen, wie es im Wappenbrief 1590 bestimmt war: ein Löwe, der eine Bohnenranke in der Tatze hält. Dietrich Bonhoeffer trug einen Siegelring mit diesem Wappen.
Im Hause Bonhoeffer lernte man, sich seine Fragen oder Bemerkungen sehr genau zu überlegen. Peinlich war das fragende Hochziehen der linken Augenbraue des Vaters, erlösend, wenn es von einem freundlichen Lächeln begleitet war, vernichtend, wenn der Ausdruck ernst blieb.
Erst Dietrich Bonhoeffers Großvater, Friedrich Bonhoeffer, hatte Schwäbisch Hall verlassen. Er war Landgerichtspräsident in Ulm geworden. Von großer Bescheidenheit und allem Auffälligen abgeneigt, war er ein leidenschaftlicher Naturliebhaber und -kenner.
Friedrich Bonhoeffers Frau, Dietrichs Großmutter Julie, geb. Tafel, spielte in Dietrichs Leben noch eine große Rolle. Sie starb erst 1936, fast 94 Jahre alt. Bei den Tafels, ebenfalls Schwaben, gab es ein revolutionäres Element. Als Burschenschafter und Demokraten waren einige Tafels zeitweise aus Württemberg ausgewiesen worden. Swedenborgianer und Auswanderer gehörten zur Familie. Auch Julie war von kritischem Sinn und resolutem Charakter. Sie engagierte sich in der Frauenfrage. Hitler war ihr von Anfang an zuwider. Als am 1. April 1933 beim Boykott jüdischer Geschäfte SA-Wachposten vor dem Berliner Kaufhaus des Westens standen, ließ sie sich am Betreten des Geschäftes nicht hindern.
Dietrichs Mutter Paula, geb. von Hase, kam aus einer preußischen Familie. Ihr Vater, Karl-Alfred, war Hofprediger bei Wilhelm II. gewesen, gab dieses Amt allerdings nach einem Konflikt mit dem Kaiser auf. Er wurde dann Konsistorialrat und Professor für praktische Theologie. Sein Leben war stark bestimmt vom Vorbild seines Vaters, des bekannten Jenaer Kirchen- und Dogmengeschichtlers Karl-August von Hase. Pauline, geb. Härtel, eine Tochter des Leipziger Musik-Verlegers, war Karl-Alfreds Mutter.
Die Mutter seiner Mutter, Clara, geb. Gräfin Kalckreuth, hat Dietrich nicht mehr kennen gelernt. Aber die Tradition der Kalckreuths war ein wichtiges Element in der Bonhoeffer-Familie. Clara war sehr musikalisch gewesen und hatte bei Franz Liszt und Clara Schumann Klavierstunde gehabt. Mehr noch als die Musik waren für die Kalckreuths die bildenden Künste bestimmend, nachdem Claras Vater Stanislaus den militärischen Beruf seiner Vorfahren mit der Malerei vertauscht hatte. Bilder von ihm kann man in der Münchener Pinakothek finden; Arbeiten seines Sohnes Leopold in der Hamburger Kunsthalle. Auch im Bonhoeffer-Haus hingen natürlich viele Bilder dieser beiden Kalckreuths, dazu ihrer Lehrer, Freunde und Schüler, wie Lenbach und Achenbach.
Paula, lange Zeit das jüngste der Hase-Kinder, war optimistisch und kontaktfreudig, lebhaft, voller Einfälle und dabei energisch; unlösbare Probleme gab es für sie kaum. Als Kind und junges Mädchen setzte sie sich zuweilen temperamentvoll über die damals übliche Etikette hinweg. Dazu gehörte, dass sie es erreicht hatte, das Lehrerinnen-Examen ablegen zu dürfen.
Die christliche Erziehung, die Paula erhalten hatte, war ihr wichtig, und sie gab sie auf ihre eigene Art weiter. Die Kirche spielte für sie keine große Rolle – das änderte sich allerdings später, als die Bekennende Kirche die einzige Institution war, die dem Hitler-Regime einen gewissen Widerstand entgegensetzte –, aber sie sorgte dafür, dass den Kindern Bibel und Kirchenlieder, die sie schätzte, bekannt wurden. Sie unterrichtete die älteren Kinder in den ersten Schuljahren selbst, zusammen mit gleichaltrigen Kindern von Bekannten aus der Nachbarschaft, die jüngeren hatten eine Hauslehrerin, aber den Religionsunterricht übernahm die Mutter.
Das Hauptziel der Erziehung lag darin, die Kinder zu verantwortlichen Menschen heranzubilden. Die Mutter sah hierin einen christlichen, der Vater einen humanistischen Wert. Die Maximen, die sich aus diesem Ziel ergaben, wurden natürlich nicht immer streng behauptet, aber sie galten bei Bonhoeffers ebenso selbstverständlich wie in den Häusern, mit denen man Umgang pflegte.
So wurde sehr früh von den Geschwistern...