Der Branchenverband der deutschen Digitalindustrie Bitkom stellt in seiner 2018er-Ausgabe des Digital Office Index fest, dass sich die deutschen Unternehmen in ihrer Digitalisierungsstrategie, in ihren konkreten Nutzenerwartungen, in der Geschwindigkeit der Umsetzung und in den zur Verfügung stehenden Ressourcen unterscheiden (Bitkom 2018). In diesem Kapitel soll es darum gehen, warum das so ist und welche Auswirkungen das hat. Ich suche Antworten auf die Fragen, wer die Macht hat, die Digitalisierung voranzutreiben, auf welchen Stand das wen gebracht hat und welche Konsequenzen für die Führungspraxis sich daraus ergeben.
Ich möchte mich der Welt der Digitalisierung und der Führung in allen Kapiteln mit der Beobachtung von real existieren Unternehmen annähern. Ich habe dafür in der Regel weltweit bekannte Namen wie Google, Tesla, Facebook, Amazon und Uber gewählt. Eine Beschäftigung mit den in diesen Unternehmen praktizierten Führungsansätzen liefert nicht nur für viele von uns spannende Einblicke. Sie gelten in der öffentlichen Wahrnehmung als Musterbeispiele moderner Unternehmen, an denen sich viele orientieren. Als Neugründungen der letzten Jahrzehnte konnten sie fast vorbedingungslos Strukturen aufbauen, deren genauere Analyse sich für unser Thema lohnt. Sie haben mit ihren Geschäftsmodellen und Managementtechniken Beeindruckendes erreicht. Es wird beim genaueren Hinsehen auch klar, wo sie als Inspiration dienen können und wo sie Muster aufweisen, die viele von uns nicht in ihre Verantwortungsbereiche übertragen können.
Als Gegengewicht dazu beschreibe ich sehr konkret einen Vertreter aus unserem Wirtschaftsraum und dessen Führungskräfte auf dem Weg in die digitale Transformation, der nach den Maßstäben der Bitkom-Studie »durchschnittlich« in seinem Digitalisierungsbemühen ist. Ich beobachte das Unternehmen bei der strukturierten Übergabe von einem Altgesellschafter an die nächste Unternehmergeneration. Dieses Beispiel nenne ich hier die Spezialpumpen Alt GmbH. Ich habe sowohl die Branche sowie den Ort der Handlung als auch die Namen der handelnden Personen so verändert, dass sich alle Protagonisten geschützt fühlen können. Eine Übereinstimmung mit real existierenden Personen und Unternehmen wäre rein zufällig. Alle hier dargestellten Sachverhalte, Rollen der beteiligten Personen sowie genutzte und diskutierte Technologien sind deren tägliche Praxis.
2.1 Drei Richtungen digitaler Transformation
Bernhard Alt hat aus dem Gas- und Wasser-Installationsbetrieb seines Vaters eine mittelständische Spezialpumpenfirma mit 60 Mitarbeitern in Augsburg und einer kleinen Produktion in Bratislava gemacht, in der 40 Kollegen arbeiten.
Seit der Übernahme der Firma 1990 hängt sein Herz an der Produktentwicklung und dem Prototypenbau für Kollegen. Den Vertrieb, den Service und andere Ressorts des Unternehmens hat er nach der Umwandlung des Unternehmens in eine GmbH an langjährige Weggefährten im Unternehmen übergeben. Einige von ihnen haben inzwischen ihrerseits schon Nachfolgerinnen und Nachfolger gefunden. Den Standort Bratislava hat ein slo wakischer Mitarbeiter aufgebaut, der im Jahr 2000 zum Unternehmen kam und der nach sieben Jahren in Deutschland wieder zurück in seine Heimat wollte. Er leitet den Standort völlig selbstständig. Einige seiner Mitarbeiter werden von Führungskräften von Deutschland aus gecoacht.
Die aktuell vorhandene IT wurde von den Mitarbeitern in kleinen Projekten mit viel Vertrauen in externe Partner im Laufe der Jahre ohne große strategische Debatten Stück für Stück implementiert. Bernhard Alt setzte durch seine Budgetvorgaben die Rahmen. Diese hat er nur wenig verändert, auch wenn er vor zwei Jahren den 20 Jahre jüngeren Stefan Weber, einen Wirtschaftsingenieur, eingestellt hat, damit der sich um die Prozesse im Unternehmen und um »die betrieblichen Informationssysteme« kümmert. Der Firmengründer hat über die Jahre vier wichtigen Mitarbeitern je fünf Prozent des Unternehmens übertragen und Stefan Weber hat jetzt nach zwei Jahren zwei Prozent Anteile mit der Aussicht bekommen, dass er einmal die Mehrheit der Unternehmensanteile erwerben und damit einen Generationswechsel einleiten kann. Bevor Stefan Weber den nächsten Schritt zu gehen bereit ist, will er, dass der seiner Meinung nach herrschende digitale Innovationsstau aufgelöst wird. Konkret hat er drei Innovationsbereiche identifiziert, die er in einem Grobkonzept für den Altgesellschafter formuliert.
Der erste Innovationsschwerpunkt besteht in der Unterstützung der internen Prozesse durch eine zeitgemäße IT-Landschaft. Das in Deutschland und in Bratislava seit 15 Jahren eingesetzte Enterprise-Resource-Planning (ERP)-System ist zwar an beiden Standorten das gleiche, aber die beiden Systeme laufen auf zwei Servern und haben wegen lokaler gesetzlicher Regeln unterschiedliche Funktionalitäten. Updates wurden in beiden Systemen seit Jahren auf das gesetzlich absolut Notwendige beschränkt, weil ja »alles gut läuft« und Bernhard Alt die Zeit für Migrationsprojekte nicht investieren wollte. Der Hersteller hat jetzt die Unterstützung der aktuell eingesetzten Versionen abgekündigt. Die Schnittstelle zwischen den Systemen in Deutschland und Slowenien ist ein täglicher Datentransfer – sie ist bei Änderungen aufwendig zu pflegen und fehleranfällig. Die 2015 angeschaffte Customer-Relationship-Management (CRM)-Lösung ist nicht mit dem ERP-System verbunden und führt zu Doppelarbeiten. Der Webshop ist eine kleine Stand-Alone-Anwendung und erlaubt keine Interaktion mit den Kunden im Sinne eines Informationsaustausches direkt aus dem ERP. Das intern eingesetzte Office-Paket ist auf so einem alten Stand, dass sich die Anwender immer wieder darüber beschweren, dass sie zu Hause bessere Versionen einsetzen und vor allem, dass damit die gemeinsame Arbeit an den gleichen Dateien einen enormen Organisationsaufwand verursacht.
Stefan Weber schwebt vor, dass das ERP-System auf eine Version migriert wird, die nur einen Server notwendig macht, den alle Anwender über einen Browser in einer Private Cloud nutzen. Damit würden die Kollegen gleichzeitig mobil und könnten wirklich effizient im Homeoffice oder von den Servicekunden aus arbeiten. Eine Integration von CRM, ERP und Office-Anwendungen soll den Anwendern bei ihrer täglichen Arbeit helfen und für die Kunden soll es eine Plattform geben, auf der sie nicht nur Produkte und Ersatzteile bestellen können, sondern über eine Social-Media-Funktion in einen Austausch mit dem Unternehmen und anderen Kunden treten können. Für die Migration der Anwendungen und Daten mit den dafür notwendigen Spezifikationen und Workshops und der Ausbildung der Mitarbeiter rechnet Stefan Weber mit ungefähr drei Jahren. Es wäre eine aus seiner Sicht kontrollierte Transformation der betrieblichen Informationssysteme.
Der zweite Innovationsschwerpunkt betrifft die Pumpen. Zwar wird deren Entwicklung durch CAD- und andere Spezialprogramme unterstützt, aber im Moment fehlt den Systemen eine Integration ins ERP-System, um beispielsweise Varianten und Stücklisten auch kaufmännisch sinnvoll verwalten zu können. Viel schlimmer ist für Stefan Weber, dass die Innovationen bisher nicht einmal gedanklich in Richtung »aktive Online-Überwachung« der Pumpen gehen. Seiner Überzeugung nach müssen die Bauteile mit Sensoren ausgerüstet werden, damit die Anwender und der Hersteller ihren Zustand online überprüfen können und Fehler erkannt werden, bevor sie zu einem Stillstand der Pumpen führen. Letzteres löst jedes Mal einen Notfalleinsatz der Servicemannschaft mit entsprechendem Reiseaufwand aus. Er ist davon überzeugt, dass sie sich in Richtung Internet of Things bewegen müssen, wenn sie nicht von den großen Anbietern der Branche aus dem Markt gedrängt werden wollen, die alle an dieser Funktionalität ihrer Produkte arbeiten, die unter anderem unter dem Begriff Predictive Maintanance (vorausschauende Wartung) diskutiert wird. Mit einem Augenzwinkern schwärmt er von einem eigenen »Internet of Pumps«.
Der dritte Innovationsschwerpunkt, den Stefan Weber sieht, ist der Einsatz der Informationstechnologie zur Steuerung des Unternehmens und die Chance zur Übertragung von mehr Verantwortung auf die einzelnen Angestellten. Er ist dafür, dass nicht nur die Führungskräfte, sondern alle Mitarbeiter viel mehr Einsichten in die Daten der Systeme erhalten, damit sie mehr selbst entscheiden können als im Moment. Alle Module vom CRM bis zum Service im ERP sollen für alle Mitarbeiter zumindest einsehbar sein – nur bei der Finanzbuchhaltung würde er die Einsichtsrechte beschränken. Er selbst möchte für sich und die Führungskräfte ein Cockpit einrichten, in dem alle wichtigen Kennzahlen des Unternehmens minutenaktuell sichtbar sind, idealerweise auch von mobilen Geräten aus. Seine Idealvorstellung ist, dass er sich um die Zukunft des Unternehmens kümmern kann und im Tagesgeschäft nur dann eine Rolle übernimmt, wenn es darum geht, Eskalationen und Sonderprojekte zu managen. Mit seinen Kollegen...