Einleitung: Die Wiederkehr der Ostschrippe
Berlin, Prenzlauer Berg: Jeden Samstagvormittag ist in einer Seitenstraße im trendigen Szeneviertel der Hauptstadt die gleiche Szene zu beobachten. Vor dem kleinen Bäckergeschäft bildet sich eine lange Schlange, manchmal fast dreißig Menschen. Sie warten geduldig, bis sie an der Reihe sind – gleich, ob bei Schneeregen oder in der prallen Sommersonne. Denn hier gibt es sie noch: die original Ostschrippe, gebacken in der eigenen Backstube nach altem DDR-Rezept. Das Publikum ist gemischt: Alte Männer mit grauen, strähnigen Haaren und Jacken aus Leder-Imitat, die aussehen wie Überbleibsel aus Erich Honeckers Partei- oder Erich Mielkes Stasi-Apparat, warten genauso geduldig wie Studenten, junge Väter mit kleinen Kindern oder schicke Frauen, die aus Westdeutschland zugezogen sind und auch am Wochenende rasch ins Büro müssen, um ein paar Kunden zu betreuen. Wer zwei Häuser weitergeht und seine Schrippen beim türkischen Bäcker kauft, sieht sich bei der Rückkehr durchaus manch kritischem Blick ausgesetzt.
Szenenwechsel. Im März 2009 steht an einem Montagmorgen das Telefon bei der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Schwerin nicht still. Die Anrufer sind aufgewühlt, empört, ja, einige haben sogar Angst. Was ist geschehen? Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering hatte einer Wochenzeitung ein Interview gegeben, in dem er die These ablehnte, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen. Auszüge des Gesprächs waren am Samstag, just als die Ostschrippe im Ortsteil Prenzlauer Berg reihenweise über die Ladentheke ging, vorab verbreitet worden. Äußerungen wie die, dass es in der DDR lediglich einen „Schuss Willkür“ gegeben habe – angesichts der erschossenen Flüchtlinge an der Mauer eine denkbar unglückliche Formulierung – wirken vor allem auf jene Menschen, die im „Arbeiter- und Bauernstaat“ aus politischen Gründen im Gefängnis saßen, verfolgt wurden oder nicht studieren durften, weil sie aus einem christlich-geprägten Elternhaus kommen, wie ein Schlag ins Gesicht. Sie müssen ihrem Unmut Ausdruck verleihen und tun dies bei der Stasi-Beauftragten. Sonst hört sie ja fast niemand mehr.
Ob die original Ostschrippe nun besser schmeckt als das heißluftgebackene, deutlich größere Brötchen, kann jeder nach seinem eigenen Geschmack entscheiden. Die langen Wartezeiten von teilweise bis zu 30 Minuten vor dem samstäglichen Frühstück rechtfertigen den Unterschied aber wohl kaum. So scheint der Andrang auf die Ostschrippe im Kleinen für eine Entwicklung zu stehen, die wir ausgerechnet im 20. Jahr der Revolution von 1989 im Großen erleben: die Rückkehr der DDR. Egal ob aus eigenem Erleben oder aus lustigen Filmen und Retro-Shows – immer mehr Menschen, vor allem in Berlin und den neuen Bundesländern (aber nicht nur), erscheint nach verschiedenen Umfragen die untergegangene zweite deutsche Diktatur heute zunehmend wie ein soziales Paradies mit zahlreichen bewahrenswerten „Errungenschaften“: mit skurrilen oder auch liebenswerten Eigenarten und einem System, in dem alle gleich und hochgebildet waren, in einer sauberen Umwelt lebten und Ärger mit dem lustigen alten Staatschef Erich Honecker nur der bekam, der aufmuckte. Ein Staat, der die bösen Seiten deutscher Nazi-Geschichte vollkommen ausgemerzt hatte. Selbst die Ostschrippe symbolisiert im Kleinen bei vielen ihrer Käufer – wohl eher unbewusst – eine solche „Errungenschaft“.
Die sich empörenden DDR-Opfer zeigen eine zweite Entwicklung auf: Sie werden in der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen. Klar, Politiker melden sich noch zu Wort, die die DDR als Diktatur geißeln; Historiker weisen darauf hin, dass es die Mauer, die Stasi und die SED mit ihrem totalitären Verfügungsanspruch über die Menschen gegeben hat. Die Opfer will kaum noch jemand hören. Sie gelten als ewige Dauernörgler und Schlechtredner. Bei vielen Menschen in den neuen Ländern, auch solchen, die nicht zur Funktionärsschicht in der DDR gehörten, hat sich längst eine Meinung breitgemacht: Haben die nicht selbst schuld gehabt, wenn sie im Gefängnis gelandet sind, weil sie ausreisen oder auch nur ihre Meinung frei äußern wollten? Haben die nicht gewusst, dass sie ihr Hab und Gut zurücklassen müssen, wenn sie ihre Heimat gen Westen verlassen? Haben sie ihren Tod nicht in Kauf genommen, wenn sie versucht haben, über die Mauer mit ihren Selbstschussanlagen und den Grenzsoldaten, die darauf getrimmt waren, „Republikflüchtlinge“ zu „vernichten“, in den Westen zu entkommen?
Die DDR kehrt zurück, und der Zeitpunkt im Jahre 2009 ist kein Zufall. Vor allem seit der westliche Kapitalismus und die Soziale Marktwirtschaft als seine typisch bundesrepublikanische Ausprägung infolge der globalen Finanzmarktkrise in Turbulenzen geraten sind, erscheinen die DDR und der in ihr herrschende Sozialismus immer mehr Menschen als eine Alternative. Während das totale Scheitern der Planwirtschaft verdrängt wird, werden die angeblichen sozialen Vorteile schöngeredet. Keine Frage, das kapitalistische System steckt in einer Krise. Aber genauso klar sein muss auch: Der Kapitalismus hat ein Problem – der Sozialismus war selbst das Problem. Ein Blick auf die in der DDR herrschenden Realitäten, auf die Fakten, die ihr gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches System prägten, können rasch viele Missdeutungen zurechtrücken.
Die Diskussion über die DDR ist indes auf eine schiefe Bahn geraten, ja, sie hat teilweise groteske Züge angenommen. Kritik an der ideologischen Ausrichtung der SED mit ihren Auswirkungen im alltäglichen Leben der Menschen (wie die Militarisierung des Bildungswesens, in dem schon Dreijährige in Kasernen der Nationalen Volksarmee geführt wurden), gelten als „holzschnittartig“. Warum eigentlich? Gerade wenn das angeblich so gute Bildungssystem als Vorbild für die Gegenwart gefeiert wird, müssen doch auch die Schattenseiten Erwähnung finden. Wer das kritisiert, kann scheinbar mit einem offenen Meinungsdiskurs nicht viel anfangen. Er will dann nicht das bessere Schulsystem für seine Kinder, sondern seine ideologische Sichtweise durchsetzen.
Der gewichtigere Vorwurf ist aber ein anderer, der zugleich ein Totschlagsargument ist und jede weitere Diskussion mit einem Tabu belegen soll: Wer die DDR kritisiere, entwürdige damit gleichzeitig die Biografien und die Lebensleistungen der Menschen, die in ihr gelebt haben. Schon seit die PDS Anfang der Neunzigerjahre die „Komitees für Gerechtigkeit“ gegründet hat, steht dieser Vorwurf im Raum. Noch heute wird er am lautesten von denen formuliert, die wie die Stasi-Generäle oder der letzte nicht frei gewählte Ministerpräsident Hans Modrow halfen, das Volk zu unterdrücken, und viele um ihr Leben oder ihre Lebenschancen betrogen. Im Laufe der Jahre fand diese eigentlich makabre These immer mehr Anhänger – bis weit in die Kreise der ostdeutschen Christdemokraten (deren Mitglieder ja zum Teil selbst als einstige Angehörige der Blockpartei CDU zu den Begünstigten des Systems gehörten). Deshalb ist diese These noch lange nicht richtig, sie ist sogar grundfalsch. Denn es ist das eine, das Unterdrückungssystem, das die DDR unstreitig war, zu kritisieren, und etwas völlig anderes, über die Menschen, die in ihm lebten, zu berichten oder zu „urteilen“. Wer die Staatssicherheit, die Mauer oder die Unterdrückung der Meinungsfreiheit anprangert, kritisiert damit in keiner Weise die Menschen. Ganz im Gegenteil: Er erkennt gerade an, dass diese unter bedrückenden Umständen versuchen mussten, möglichst aufrecht durch ihr Leben zu gehen, ohne sich allzu sehr zu verbiegen. Und er erkennt damit auch gerade an, dass das Leben in diesem System, vor allem in der völlig versagenden Planwirtschaft, zweifellos nicht so funktioniert hätte, hätte es nicht trotz allem Menschen gegeben, die sich einsetzten, Leistungen erbrachten, Erfindungsreichtum an den Tag legten. Schließlich: Wer die SED und ihren auf Unterdrückung aufgebauten Allmachtsanspruch kritisiert, kritisiert damit noch lange nicht die große Masse der eher unpolitischen Menschen, weil sie sich ihr Leben in der Diktatur so gut einrichteten, wie es nun einmal ging.
Das gilt natürlich auch für den Alltag. Dass die Menschen in der SED-Diktatur, die – wie zu zeigen sein wird – bis weit in den alltäglichen Bereich eines jeden reichte, ständig bedrückt und unglücklich durch die Gegend gelaufen seien, wäre eine absurde Behauptung. Die Menschen in der DDR haben gelacht und geweint, getanzt, geliebt, gehasst. Sie haben geheiratet und ihre Angehörigen beerdigt. Sie hatten Phasen des Glücks und des Leids, sie hatten Hobbys, haben sich für Sport interessiert und sonntägliche Ausflüge mit ihrer Familie gemacht. Nur – was sagt das über den Charakter des politischen Systems als Diktatur aus? Nichts. Denn all das haben die Menschen im „Dritten Reich“ auch getan. Darf man die Zeit von 1933 bis 1945 deshalb nicht als Diktatur bezeichnen? Die Behauptung, die DDR-Kritiker wollten den Ostdeutschen ihr alltägliches Leben nachträglich mies...