1. Kapitel
Zeuge der eigenen Geburt
»Nein. Ich will nicht. Ich will nicht hinaus. Mama, lass mich doch bei dir bleiben. Warum drückst du mich nach draußen? Oh, das tut weh. Nein – Nein – Ich kriege keine Luft mehr. Mama – Nein. Hilf mir doch. Ich ersticke – Ich ersticke –«
Eine junge Frau, 23 Jahre alt, benimmt sich wie ein Baby, das gerade geboren wird. Friederike Häussermann windet sich auf der großen schwarzen Liege. Sie kauert sich zusammen, zieht die Knie zum Bauch und verschränkt die Arme auf der Brust. Ihre Stimme ist dünn und zerbrechlich wie die eines kleinen Kindes. Friederike ringt nach Luft, als wäre sie in diesem Augenblick wirklich am Ersticken. Das Gesicht verfärbt sich blau, der Mund ist weit aufgerissen, die Lippen beben in maßloser Angst.
Dann geht es plötzlich wie ein Ruck durch den verkrampften Körper. Friederike streckt sich. Sie lässt die Arme fallen. Ihr Hilferuf wird zu einem leisen, kläglichen Wimmern. »Es ist so kalt. Bitter kalt. Ich will hier nicht sein. Oh, dieses grelle Licht! Sie heben mich in die Höhe – Ich schreie – Mama, warum hast du mich hergegeben? – Papa schaut mich nicht einmal an. Er mag mich nicht – Er hat nie gewollt, dass ich sein Kind werde – Und du auch nicht. Ich weiß es, Mama. Du hast mich nicht lieb – Du wolltest kein Kind mehr haben – Jetzt bin ich aber da. Du musst mich lieb haben –«
Friederike stammelt. Die Sätze kommen stockend, fast lallend, aber so flehentlich, als hinge das Leben davon ab. Die junge Frau wirft den Kopf von einer Seite auf die andere. Tränen rinnen über die Wangen, die vor Aufregung glühen.
In diesem Augenblick greift der Hypnosearzt ein, der neben der Liege sitzt. Mit ruhiger, fast sanfter Stimme spricht er zu Friederike Häussermann.
»Wir verlassen jetzt den Augenblick der Geburt. Wir gehen noch weiter zurück. Die Zeit spielt für uns keine Rolle. Alles, was wir sehen und erleben, ist von Bedeutung. Deshalb versuchen wir, uns daran zu erinnern. Aber wir lassen uns nicht erschrecken. Wir gehen einfach weiter. Denn wir wollen herausfinden, warum Sie glauben, von Vater und Mutter nicht geliebt und erwünscht zu sein. Suchen wir einen Augenblick, der uns einen Einblick gestattet. Gehen wir zurück, bis das Gedächtnis etwas findet. Was sehen Sie?«
»Es ist schön. Warm. Ich fühle mich wohl – Ein bisschen eng. Aber gut. Es rauscht. Und gluckst. (Friederike lacht, ihr Gesicht ist glücklich.) Mutters Herz klopft ganz ruhig. Es ist wirklich gut – Aber jetzt –« Ihre Miene verändert sich schlagartig.
»Was ist jetzt?«
»Mama ist aufgeregt. Ihr Herz klopft ganz wild. Mama hat Angst. Furchtbare Angst–«
»Wovor hat sie Angst?«
»Ich weiß es nicht – Vor mir. Sie will mich nicht –«
»Gehen wir noch weiter zurück. Was ist jetzt?«
»Ich bin winzig klein. So klein, dass ich in einer Hand Platz habe.«
»Und noch weiter. Erzählen Sie, was Sie sehen.«
Friederike Häussermann richtet sich in der Liege auf und umklammert die Lehnen. Ihr Atem geht heftig. »Ich bin da – Ich bin wieder da –«
»Wo bist du?«
»In einem … in einem neuen Körper. Bei meiner neuen Mutter.«
»Warum sagst du ›neue‹ Mutter? Gibt es denn auch eine alte?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich musste zu diesen Eltern. Und sie mögen mich nicht. Mama sagt: ›Hoffentlich ist nichts passiert. Wir haben nicht aufgepasst.‹ Und Vater meint: ›Mach dir keine Sorgen. Nach so langer Pause ist das Risiko nicht mehr so groß. Und wenn schon, dann haben wir eben drei Kinder.‹ Mama schüttelt den Kopf: ›Aber wir sind schon zu alt für ein Kind. Und die Wohnung ist auch zu klein. Was sollten nur Britt und Lotti von uns denken? Die beiden sind bald erwachsen!‹ Papa macht sich jetzt auch große Sorgen, dass ›etwas passiert‹ sein könnte. Er blickt zur Decke, die Hände unter dem Kopf verschränkt. ›Warten wir’s ab‹, sagt er. ›Wenn es eben passiert ist, dann sehen wir weiter. Vielleicht ist es ja auch ein Junge, dann wäre alles halb so schlimm.‹«
Friederike weint. »Ich bin kein Junge. Ich bin ein Mädchen. Aber ich kann doch nichts dafür. Mama, du musst mich lieb haben, sonst kann ich nicht leben –«
So hört sich die Tonbandaufzeichnung einer Hypnosesitzung an. Friederike Häussermann lässt die Sitzungen über sich ergehen, weil sie nicht mehr weiter wusste. Die Medizinstudentin im vierten Semester, hochaufgeschossen, bildschön, langes blondes Haar, rätselhaft eindrucksvolle, graue Augen, wird umschwärmt. Die Verehrer drängen sich in ihre Nähe. Doch nach zwei, drei Begegnungen wenden sie sich ebenso rasch entschlossen wieder von ihr ab. Einer wie der andere.
»Mit der ist nichts anzufangen. Friederike ist verklemmt. Sie steckt voller Probleme und Komplexe«, sagen sie bedauernd.
Die Eltern halten ihre Tochter für ungewöhnlich verschlossen und scheu und tun alles, sie glücklich zu sehen. In den 23 Jahren fiel nicht ein einziges böses Wort. Es gab niemals eine Zurechtweisung. Keine Bitte des Kindes blieb unerfüllt. Friederike wurde jeder Wunsch von den Augen abgelesen. Mit beispielloser Geduld. Doch alles Bemühen schien das Kind nur verstockter zu machen. Zwischen den Eltern und Friederike stand eine unüberwindliche Mauer. Beide Seiten wussten das – und alle litten darunter.
»Mit mir stimmt etwas nicht. Ich fürchte, ich bin seelisch krank. Und ich will endlich wissen, was dahintersteckt«, sagte Friederike eines Tages und vertraute sich einem erfahrenen Psychoanalytiker an.
»Ich liebe meine Eltern über alles. Was hindert mich nur daran, es ihnen zu zeigen? Warum laufen alle jungen Männer vor mir davon?« fragte sie den Arzt und bat um Hilfe.
Schon in der dritten Sitzung erlitt sie einen Schock. »Ich hasse meine Mutter«, brach es heftig aus ihr hervor. »Ja, jetzt weiß ich es ganz klar: Ich hasse sie. Und meinen Vater kann ich auch nicht ausstehen. Aber warum nur? Sie sind doch so wunderbar zu mir. Bin ich undankbar? Oder gar böse?«
Der Arzt gab ihr zu verstehen: »In der Kindheit muss irgend etwas vorgefallen sein, das diesen Hass – oder was immer es sein mag – ausgelöst hat. Wir müssen dieses Ereignis finden. Versuchen Sie sich zu erinnern.«
Tatsächlich fielen Friederike nach und nach einige längst vergessene Zwischenfälle ein. Bedeutungslose ›Bagatellen‹, die sich jetzt aber wie Meilensteine aneinanderreihten. Merkwürdigerweise passten sie auch alle zusammen:
Da war plötzlich jener Tag wieder lebendig, an dem der Vater mit ihr und einem Jungen aus der Nachbarschaft Fußball spielte. Ganz deutlich hörte sie ihren Vater sagen: »Eigentlich schade, dass du nur ein Mädchen bist«, wobei er sie einfach stehen ließ, um dem fremden Jungen über den Wuschelkopf zu streichen.
Oder jener Augenblick, als die Mutter mit ihrer Schwester über die Abtreibung diskutierte und mit erhobener Stimme ausrief: »Ich kann junge Frauen verstehen, die nach Holland reisen. Lieber kein Kind als eines, das man nicht liebt und nur als Last empfindet.«
Und schließlich ein Gespräch der Mutter mit der Nachbarin, in dem die Sätze fielen: »Manchmal gehen die Kinder einem doch ganz schön auf die Nerven. Keine Minute hat man mehr für sich. Man ist schrecklich angebunden.«
Waren das die gesuchten Ereignisse, die – ohne dass Friederike so recht darum wusste – den Hass gegen die Eltern in ihr Herz gepflanzt hatten? Zuerst sah es ganz danach aus. Doch dann wurde Friederike noch eigenartiger. Sie bekam Kopfschmerzen, vernachlässigte ihr Studium und brach die Sitzungen beim Psychiater ab. Das alles, so empfand sie, hatte irgendwie an etwas ganz Wichtiges gerührt, dabei aber die ganze Sache nur noch schlimmer gemacht. Sollte sie niemals das Rätsel ihrer Bedrückung lösen können?
In dieser recht verzweifelten Situation hörte Friederike von sehr merkwürdigen umstrittenen Hypnoseexperimenten. Bei manchen Ärzten und Psychotherapeuten, so sagte man ihr, könne man nicht nur erfahren, was in frühester Kindheit passierte, dank der Hypnose wäre es sogar möglich, über die Schwelle der Geburt hinauszugehen und sich ganz deutlich an das zu erinnern, was man als Baby im Mutterleib erlebte und empfand.
»Einfach lächerlich«, sagte Friederike spontan. »Ein Embryo kann weder denken noch empfinden.« Doch dann siegte die Neugierde in der angehenden Ärztin. Sie ging zum Hypnosearzt und erzählte ihm von ihrer Bedrängnis und von den bisherigen Bemühungen, sie loszuwerden.
Der Arzt erklärte ihr: »Was Sie bisher an Zwischenfällen in Ihrer Kindheit gefunden haben, das sind tatsächlich nur kleine Begebenheiten, die jedes unbelastete Kind sehr wohl verkraften könnte. Bei Ihnen war offensichtlich schon ein Schock vorhanden. Und an diesen haben sich die Bemerkungen von Mutter und Vater angeheftet wie eine neue, zusätzliche Bekräftigung: ›Also stimmt es doch, dass sie mich nicht mögen.‹ Nun müssen wir diesen allerersten Schock finden. Vermutlich liegt er sehr weit zurück.«
So kam es also zu den Hypnosesitzungen – zu jener Sitzung schließlich, in der Friederike ihre eigene Geburt und zuletzt sogar die eigene Zeugung schilderte.
Wirklich schilderte, so wie es damals gewesen ist – oder nur zusammenphantasierte?
Es war mehr, viel mehr als Phantasie. Denn Friederike erlebte in der Hypnose die schlimmen Augenblicke so intensiv wieder, dass der Arzt an ihrer Seite um ihren Zustand besorgt war.
Doch etwas anderes ist noch...