EINLEITUNG
Das Sichtbare ist das Geheimnis,
nicht das Unsichtbare
Thornton Wilder
Während meiner beruflichen Tätigkeit als Krankenschwester auf einer Intensivstation an den Uni-Kliniken in Mainz erlebte ich Mitte der 70er Jahre, dass an die berufliche Pflege in Deutschland die Forderung gestellt wurde, die einzelnen Pflegehandlungen zu definieren und die einzelnen Leistungen in Zeitgrößen berechenbar zu machen. Was als Qualitätssicherung der Pflege und als Ermöglichung einer finanziellen Berechenbarkeit der Pflegeleistungen generell eingeführt wurde, zeigte jedoch schon bald seine Schattenseiten. Die als pflegende Zuwendungen qualitativ gestalteten Leistungen wurden zeitlich getaktet, also abstrakt quantifiziert und sodann in einen Geldwert umgesetzt. Damit waren sie zur Ware geworden, welche dem Patienten als einem „Kunden“ zur Bezahlung präsentiert wurden. Es wurde den Pflegenden durch die zeitlichen Vorgaben gleichzeitig die Möglichkeit genommen, den Patienten außer den in den Pflege-Modulen verbindlich und kontrollierbar vorgesehenen Verrichtungen durch weitere, sich aus der jeweiligen Situation ergebende Hilfestellungen Erleichterung zu verschaffen und ihre Genesung damit zu unterstützen und zu fördern. In der Beobachtung des wirtschaftlich orientierten Leistungsdruckes bei den Pflegenden wurde mir deutlich, dass in dieser Art von Leistungsberechnung der wichtige Aspekt der individuellen Aufmerksamkeit und Zuwendung zur Erbringung einer qualitativ guten Pflege in seiner Bedeutung nicht erfasst und daher auch weder inhaltlich noch zeitlich berücksichtigt worden ist1. Mir waren jedoch die angemessenen, kleinen Hilfestellungen und Anleitungen als begleitende Maßnahmen in der Pflege als Schlüsselgrößen für die Qualität der Pflege immer bedeutsamer geworden.
Aus persönlichem Interesse und zur Einflussnahme auf eine spezielle Erkrankung, die damals labordiagnostisch noch nicht erfasst werden konnte, erlernte ich als erste Krankenschwester in den 80er Jahren bei der Lehrerin für Krankengymnasten und Physiotherapeuten, Christel Heidemann, Freiburg, die Gesetzmäßigkeiten der reflektorischen Bindegewebsmassage, die Tastdiagnostik nach Professor Wolfgang Kohlrausch und die von ihr entwickelte Meridianfarbtherapie als Farbakupunktur. Dieses neue Wissen und die entsprechenden Praxiserfahrungen führten mich zu einem erweiterten Verständnis von Pflegephänomenen, zum Beispiel bei Schmerzen oder bei regulativ wirkenden Berührungen mit den Händen. Ich begann, die Erkenntnisse meiner Lehrerin Christel Heidemann von der möglichen „Wiederherstellung der Ordnung lebendiger Prozesse“ in den Grundformen der pflegenden Interaktion mit den Händen anzuwenden. Dabei entdeckte ich in der muschelförmig gewölbten Hand einen „Kunstgriff“, der eine schnelle Erwärmung z.B. in den Gelenkbereichen auslöste und erfahrbar machte. Bereits nach drei Minuten des Verweilens waren Bewegungen leichter möglich. Ich erkannte, dass auf diese Weise ohne größeren Zeitaufwand eine qualitative Pflege salutogen, d.h. gesundheitsfördernd, zu gestalten möglich ist.
Aus der vergleichenden Beobachtung veranlagte ich zunächst die Regulative Wärmestimulation mit den muschelförmig gewölbten Händen bei einer regulären Verweildauer von mindestens drei Minuten auf oder über der betreffenden Körperstelle und ergänzte diese Behandlung durch die Minimale Bewegungsstimulation mit minimalen körpereigenen Bewegungen und mit Streichungen im Verlauf der Meridiane. Es wurde mir zunehmend erfahrbar, dass die Grundformen der Pflege auch die Grundformen der Heilkunde sind. Es gibt ein „offenbares Geheimnis“ der Pflege in ihren originären „Handgriffen“ 2. In der einfachen pflegenden Interaktion lässt sich das Besondere entdecken. Originär pflegende Verrichtungen enthalten gerade in ihrer äußeren Einfachheit gesundheitspflegende und therapeutische Wirkungen. Aus dieser Orientierung hat sich mir ein neues, salutogen orientiertes Aufgabenfeld in der Pflege erschlossen3.
Die etwas später in Deutschland in die Pflege eingeführte Kinästhetik und Basale Stimulation regten mich an, die erworbenen therapeutischen Kenntnisse über das Vorhandensein und den Verlauf der Meridianströme mit der besonderen, von mir entdeckten Wärmewirkung der Hohlhand und der minimalen Bewegungsstimulation zu verbinden. So entstanden die Konzepte der Elementartherapie® und der Elementaren Gesundheitspflege nach Erna Weerts®4. Ihr originärer Wirkungsbereich ist die Pflege selbst. Aus deren grundlegenden, das heißt elementaren Handlungsformen und Haltungen wurden sie in der Praxis für die Praxis veranlagt, damit die Pflegenden die Rhythmen der Selbstregulation zur Wirksamkeit bringen können und damit angemessen die eigene Würde und diejenige der Patienten verteidigen und schützen können.
Seitdem begleiten mich die Fragen: Welche Wirkungen werden mit den Händen durch die elementaren Anwendungen ausgelöst? Wie lassen sich letztere wissenschaftlich erhellen?
Daraus ergab sich die Suche nach interdisziplinären Forschungsergebnissen, die die originären, seit alters her verwendeten „Handhabungen“ der Pflege in Berühren, Wahrnehmen, Wärmen und Bewegen als salutogene, gesunderhaltende und gesundheitsfördernde Prozesse ausweisen. Die bisherigen Resultate sollen in dieser Arbeit als Grundlage der Konzepte dargestellt werden.
ELEMENTARE GESUNDHEITSPFLEGE UND ELEMENTARTHERAPIE IN DER UKRAINE
Die Grundformen regulativer Anwendungen in Berühren, Wärmen und Bewegen habe ich bereits seit Mitte der 80er Jahre in meinen privaten und beruflichen Alltag integriert. In gleicher Weise habe ich sie bei den tschernobylverstrahlten ukrainischen Kindern im Kindererholungszentrum „Rote Nelke“ im heutigen Swjatogorsk angewendet. An einige Erlebnisse während meiner verschiedenen dortigen Aufenthalte erinnere ich mich besonders. Davon möchte ich etwas mitteilen.
Für einige Kinder war selbst eine behutsame, freilassende Berührung alles andere als selbstverständlich. „Tut das weh?“ war oft die erste spontane Frage. Erst als die Brücke des Vertrauens hergestellt war, konnten sie das Berühren zulassen. Dann wurde bereits das Waschen der sandigen Füße vor den Anwendungen und das Streichen und Einölen bei der Fußstimulation zu einem Erlebnis. Wenn die muschelförmig gewölbten Hände einige Minuten auf Organbereichen und Gelenken ruhig verweilten, wurde zunächst die Stille von den Kindern wohltuend wahrgenommen, ehe sie die Wärmefühlung sanft in den Schlaf tauchte. Selbst unruhige Kinder kamen auf diese Weise zu einer erholsamen Mittagsruhe. Danach wurden alle mit sanften Streichungen im Strömungsverlauf der Meridiane entlang des Leibes und der Glieder oder über die Fußsohlen wieder aufgeweckt.
Ein beobachtender Arzt kommentierte: „Sie arbeiten mit der Ruhe. Das ist eine noch wenig beachtete Größe für die Aufbau- und Heilungsprozesse“.
„Ich fühle mich warm,“ bemerkten die meisten Kinder spontan nach der Behandlung und man konnte ihnen ansehen, dass sie fröhlich und ausgeglichen waren, was bei Tschernobylkindern nicht selbstverständlich war.
Für die Erzieher war die mittägliche Schlafenszeit der Kinder oft eine Bewährungsprobe. Mit der Regulativen Wärmestimulation verwandelte sich die Situation zumeist schnell in erholsame Ruhe für alle. Das brachte den Anwendungen sowohl bei den Kindern als auch bei den Erziehern Anerkennung ein. Mit der bald einsetzenden Mundpropaganda wuchs bei den Erziehern das Interesse und der Wunsch, eine Ausbildung in Elementarer Gesundheitspflege zu erreichen.
Diese Kinder haben mich bewogen, die einfachsten Anwendungen „zur Wiederherstellung der Ordnung lebendiger Prozesse“ (Christel Heidemann) einzusetzen. Sie haben sie nicht nur erlebt und erlernt, sondern auch zu Hause davon erzählt. So kam es, dass Eltern fragten: „Können wir auch lernen, was Sie mit unseren Kindern gemacht haben?“ Während dieses Unterrichtes entstand im Laufe der Jahre ein Teil der Hinweise zur praktischen Durchführung.
Den ukrainischen Erziehern und Kollegen im Pflegeteam, der ärztlichen Leitung, der Direktion, vor allem aber den Kindern und ihren Eltern bin ich dankbar verbunden. Ein besonderer Dank gilt den Kursteilnehmern, die mir zur schriftlichen Fassung der Praxisanleitungen ihre Mitschriften aus meinem Unterricht und ihre Beratung zur Textfassung zur Verfügung gestellt haben: Charlotte Allmer, Susanne Bausch, Brigitte Gierse, Ute Hild, Walburg Hoffmann, Barbara Köpke, Diana Rannacher, Edith Stößel und Gisela Wallbruch, sowie Prof. Dr. mult. Ruth Schröck, die mich von Beginn an zur Entwicklung der Konzepte ermutigt und dabei begleitet hat. Ute Köncke, meine designierte Nachfolgerin, stellte mir ein Kompendium von Praxisberichten zur Verfügung. Für die fotographischen Dokumentationen...