In den hier untersuchten klassischen Dystopien Brave New World und Nineteen Eighty-Four ist die Darstellung der Beziehung zwischen Staat und Individuum zentral. Einem unterdrückenden System wird eine unangepasste Hauptfigur entgegengestellt. Aus dieser Konstellation ergibt sich der Konflikt, in dem die eigentliche Wirkungsabsicht der Dystopie realisiert wird, nämlich das realweltliche, zeitgenössische Gesellschaftssystem zu kritisieren und seine Mängel und Probleme in der fiktiven Gesellschaft satirisch überhöht darzustellen. Innerhalb dieser Grundstruktur lassen sich zentrale Merkmale finden, durch die sich dystopische Texte auszeichnen. Diese betreffen zum einen den im Roman dargestellten Staat, seinen Aufbau und das bestehende Herrschaftssystem, durch das die fiktive Gesellschaft geprägt ist, sowie die Mechanismen, die zur Aufrechterhaltung dieses Systems beitragen. Zum anderen die Auswirkungen auf die Menschen, die in der beschriebenen Welt leben. Als Außenseiterfigur setzt sich der Protagonist durch sein non-konformistisches Verhalten gegenüber den anderen Mitgliedern der Gesellschaft ab, die die Unterdrückung des Staates aus unterschiedlichen Gründen, auf die im Folgenden noch eingegangen werden, erdulden.[51]
Da die Anti-Utopien Brave New World und Nineteen Eighty-Four maßgeblich und stilbildend für die Gattung der Dystopie sind, sollen die genannten Merkmale an diesen Texten exemplarisch aufgezeigt und ihre jeweilige Verwendung in der Panem-Trilogie untersucht werden. Denn obwohl zwischen diesen beiden Romanen des 20. Jahrhunderts und den Texten von Suzanne Collins mehr als ein halbes Jahrhundert liegt und sich das Genre in der Zwischenzeit weiterentwickelt und verändert hat, sind die genannten Gattungsmerkmale so zentral, dass sie sich auch in aktuellen dystopischen Texten der KJL wiederfinden lassen.
Um die Analyse der dystopischen Merkmale thematisch einzubetten, soll vorab das Genre der Dystopie in der Erwachsenenliteratur überblicksartig vorgestellt werden. Den Einstieg liefert eine Übersicht über die thematische und inhaltliche Entwicklung der Gattung, ausgehend von der Ursprungsgattung der Utopie. Es folgt eine kurze Darstellung der Begriffsgeschichte unter Einbezug der wichtigsten Forschungsstandpunkte und eine Darstellung des grundsätzlichen Erzählmusters. Dieses lässt sich in unterschiedlicher Ausprägung in den Texten, die dieser Gattung zugeordnet werden, wiederfinden.
Schon seit dem 16. Jahrhundert haben Menschen angesichts ihrer als mangelhaft empfundenen Lebenssituation von möglichen Veränderungen und besser funktionierenden Systemen geträumt, sie in ihren Gedanken ausgestaltet und anderen diese zugänglich gemacht. Die Gattung der Utopie, die mit Thomas Mores 1516 beschriebenem imaginären Staat „Utopia“ ihren Anfang nahm, ist über die Jahrhunderte, angepasst an die wechselnden gesellschaftlichen Gegebenheiten, „politischen Entwicklungen, geistigen Strömungen und geschichtlichen Ereignisse“[52] stetig verändert worden, aber in ihrer Grundtendenz erhalten geblieben: Dem Wunsch nach einem funktionierenden System, dass die vorherrschenden Probleme der Gesellschaft überwunden hat und eine positive Lebensperspektive bietet.
In späteren literarischen Utopien wurde dieses imaginierte Gesellschaftssystem nicht mehr nur als schöner (eutopia), aber unerreichbarer Ort (utopia), wie es der englischsprachige Begriff vermittelt, betrachtet. Die Raumutopie hat sich zu einer Zeitutopie gewandelt, in der das Ziel nicht mehr eine nicht zu erreichende Insel, sondern eine in der Zukunft erreichbare
Entwicklungsmöglichkeit der bestehenden Zustände ist.[53]
Die literarische Utopie war im Laufe der Zeit in ihrer inhaltlichen Ausrichtung zahlreichen Veränderungen unterworfen, was eine Reaktion auf den Wandel der gesellschaftlichen Neuerungen und den damit einhergehenden Schwierigkeiten darstellte. War in Mores Werk noch eine harmonische Gemeinschaft mit strenger staatlicher Reglementierung der angestrebte Gegensatz zur staatlichen Zerrüttung im damaligen Europa, so wandelte sich die literarische Utopie in der Aufklärung vom „regulativen Prinzip [...] zur Waffe gegen die absolutistische Herrschaft.“[54]
Zu Beginn des Industriezeitalters sind die literarischen Utopien von der Vision übergreifender materieller Versorgung durch maschinelle Massenproduktion, die dem Menschen potentiell mehr Freiheit ermöglichen könnte, geprägt und es entwickelt sich ein ausgeprägter Fortschrittsoptimismus. Dieser steigert sich noch im 19. Jahrhundert, während parallel ein anti-utopischer „Diskurs der Fortschrittskritik“[55] entsteht, der Zweifel an der positiven Wirkung von Wissenschaft und Technik verarbeitet und die Gefahren für die Natur und die Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt thematisiert. Durch die Auswirkungen der verheerenden Kriege zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet der Fortschrittsoptimismus in der utopischen Tradition sein jähes Ende.
Die Unterdrückung der Menschen durch faschistische und totalitäre Systeme, die zum Verlust der Rechte des Individuums auf Freiheit und Eigenständigkeit führen, wirken sich stark auf den utopischen Diskurs aus. Besonders der Totalitarismusvorwurf gegenüber utopischen Modellen und utopisch propagierten Reformabsichten dominiert die inhaltliche Ausrichtung der ersten anti-utopischen Texte. Diese Thematik lässt sich deutlich in den hier näher betrachteten Werken Nineteen Eighty-Four und Brave New World wiederfinden und stellt eine Weiterentwicklung der Motive und Merkmale dar, die bereits in der ersten klassischen AntiUtopie We von Evgenij Zamjatin auftauchten.[56] An dieser Stelle soll nicht näher auf Motive und Elemente eingegangen werden, da diese unter 3.3 näher thematisiert werden.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird die Gestaltung der Dystopien in der Tradition Orwells und Huxleys weiterverfolgt, da die Bedrohung durch den Totalitarismus wegen der Entstehung konservativer politischer Systeme noch immer als real empfunden wurde. Elena
Zeißler nennt als zentrale gesellschaftliche Themen, die als Anregung für die weitere Entwicklung der literarischen Dystopie dienten, die unkontrollierte Entwicklung von Wissenschaft und Technik und die „Entstehung verschiedener oppositioneller Bewegungen - Feminismus, Ökologie- und Friedensbewegung“[57], welche nicht nur zu einem Wiederaufleben der utopischen Tradition führt, sondern damit gleichzeitig auch neue Formen der Dystopie, wie die feministische oder ökologische hervorruft. Das Thema des Totalitarismus wird in den 1980er Jahren, mit der Verhärtung politischer Fronten und konservativer Entwicklungen, wieder aktuell und führt zur Entstehung von Texten, die sich eng an die Dystopien Zamjatins, Huxleys und Orwells anlehnen oder direkte Antworten darstellen (Anthony Burgess 1985) [58] Seit den 1980er Jahren ist laut Zeißler die als postmodern einzustufende Tendenz zu beobachten, „diese alternative[n] Weltentwürfe unter surrealen, phantastischen Prämissen zu entwickeln.“[59] Dabei werde die Dystopie in parallele Räume verlagert, die ein Spiegelbild der Gegenwart darstellen, das nicht nur verzerrt, sondern zum Teil auch neu konstruiert ist.[60]
Auf Grund der Tatsache, dass die literarische Gattung der Dystopie stark von den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Entstehungszeit abhängig ist, unterliegt sie, wie gezeigt wurde, einem dauerhaften Wandel. Die daraus resultierende Vielfalt innerhalb des Genres hat dazu beigetragen, dass bis heute die Diskussion über einen Begriff zur adäquaten Beschreibung dieser ambivalenten Gattung geführt wird.
Aus der Kritik an der zeitgenössischen Vorstellung von Utopie entwickelt sich Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts die Dystopie als eigenständiges Genre. Innerhalb der Literatur steht sie seitdem in einem Spannungsverhältnis zur Ursprungsgattung der Utopie, wodurch bis heute eine Diskussion um eine angemessene Bezeichnung bzw. Differenzierung des Phänomens besteht. In der Forschungsdiskussion der letzten 50 Jahre wurden daher zahlreiche unterschiedliche Begriffe hervorgebracht, diejeweils unterschiedliche Aspekte der Gattung hervorheben und zu unterschiedlichen Definitionen führten. Stephan Meyer macht in seiner Studie „Die anti-utopische Tradition“ deutlich, dass eine passende Bezeichnung für die anti-utopischen Texte nur durch die Kombination mit einem Attribut oder Präfix erreicht werden kann, das zum einen die Beziehung zur literarischen Gattung der Utopie deutlich macht, jedoch auch hervorhebt, dass sich die Texte gegen utopische Zielvorstellungen richten und auf eine eigene Traditionslinie zurückgreifen können.[61] Meyer stellt im Anschluss die aus der Schwierigkeit dieser Anforderung an einen passenden Terminus hervorgegangene Begriffsvielfalt durch ausgewählte Beispiele ausführlich dar, die bei Zeißler zusammengefasst sind:
In der Forschung der letzten 50 Jahre wurden u.a. Begriffe wie „Gegenutopie“ (Seeber, Schonke), „Mätopie“ (Huntenmann), „negative Utopie“ (Broich),...