Der BVB ist wieder da!
Borussia Dortmund im Mai 2016.
Ein kerngesunder Fußballklub am Ende einer herausragenden Saison. Einer Spielzeit, der zur absoluten Perfektion letztlich nur eines fehlte: die Krönung, die Kirsche auf der Sahne. Ein Titel! Und dennoch: Wären Rot und Blau in Dortmund keine Tabufarben, dann müssten pralle knallrote Bäckchen das schwarzgelbe Logo zieren, und über der BVB-Zentrale am Rheinlanddamm müsste von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ein wolkenloser Himmel in sattem Königsblau leuchten.
Nur 15 Monate nach akuter Abstiegsangst und 12 Monate nach dem tränenreichen Abschied von Jürgen Klopp ist Borussia Dortmund zurück an der Spitze. Deutscher Vizemeister hinter dem FC Bayern München. Nie zuvor in der Geschichte der Fußball-Bundesliga hat ein Zweitplatzierter mehr Punkte gesammelt als der BVB in der Premierensaison von Neu-Trainer Thomas Tuchel. Mehr noch: In 46 von 53 Spielzeiten hätten die 78 Zähler der Dortmunder – zugleich das zweitbeste Ergebnis der Klubgeschichte – zum Titelgewinn gereicht. Noch besser waren nur der FC Bayern München (1972, 1973 und 2013 bis 2016) sowie Borussia selbst in der Double-Saison 2011/12. Zum Vergleich: Als der BVB 1995, 1996 und 2002 Deutscher Meister wurde, reichten dazu 69, 68 bzw. 70 Zähler.
Noch ein paar statistische Fakten, die eindrucksvoll belegen, welch eine überragende Saison der BVB gespielt hat: Bis zum 32. Spieltag lag Dortmund auf Kurs in Richtung neuer Vereinsrekord. Der liegt bei 81 Punkten aus der Spielzeit 2011/12. Erst das 0:1 in Frankfurt und das 2:2 zum Abschluss gegen Köln kosteten die möglichen 83 Punkte. Ärgerlich, aber kein Drama, denn die Schwarzgelben hatten bereits sieben Spieltage vor Saisonende, und damit früher als je zuvor ein Tabellenzweiter, die direkte Champions-League-Qualifikation perfekt gemacht. Schon nach dem 28. Spieltag war klar, dass sie mindestens Vizemeister werden würden. Herausragend!
Die vielleicht wichtigste Erkenntnis aber war: Borussia konnte umsetzen, was Tuchel bei seiner Vorstellung am 3. Juni 2015 ebenso selbstbewusst wie realistisch als Losung ausgegeben hatte: Der BVB wolle in allen Wettbewerben die Besten herausfordern. In der Bundesliga also den FC Bayern, der in den Jahren zuvor 25, 19 bzw. 33 Punkte Vorsprung auf Dortmund hatte und den Titel 2014 schon Ende März feiern durfte. Diesmal mussten die Münchner bis zum Schluss kämpfen. Erst am 33. Spieltag brachten sie die Meisterschaft unter Dach und Fach.
Mit 82 Toren stellte Borussia Dortmund in der Saison 2015/16 zudem einen internen Bundesliga-Rekord auf. Torjäger Pierre-Emerick Aubameyang (25 Saisontreffer) wurde dank seiner glänzenden Leistungen im Trikot des BVB als erster Bundesliga-Spieler überhaupt zu Afrikas Fußballer des Jahres und bei der Wahl der Profikicker-Gewerkschaft VDV vor Torschützenkönig Robert Lewandowski (FC Bayern München) und Teamkollege Henrikh Mkhitaryan zum besten Bundesliga-Spieler des Jahres gewählt. Auch die beiden anderen Kategorien gingen an den BVB: Das Votum für den »Newcomer der Saison« entfiel auf Julian Weigl, »Trainer des Jahres« wurde Thomas Tuchel.
Die jährliche Umfrage des Fachmagazins Kicker gewann ebenfalls ein Borusse: Hier wurde Henrikh Mkhitaryan (11 Tore/20 Vorbereitungen allein in der Liga) von den Profi-Kollegen zum besten Feldspieler der Saison gekürt. Christian Pulisic gelang nicht nur im zarten Alter von 17 Jahren der Sprung in den Profi-Kader. Er avancierte auch zum viertjüngsten Torschützen der Bundesliga-Geschichte und zum jüngsten Spieler, dem es gelang, zwei Treffer zu erzielen. Jürgen Klinsmann berief ihn daraufhin in den US-Kader für die Copa America, wo Pulisic immerhin dreimal eingesetzt wurde – u. a. beim Halbfinal-Aus gegen Argentinien. Im Testspiel gegen Bolivien hatte sich das BVB-Talent zuvor als jüngster Torschütze in die Geschichtsbücher seiner Nationalmannschaft eingetragen.
Mindestens ebenso erfreulich war die Entwicklung der Zuschauerzahlen. Zu den insgesamt 26 Pflicht-Heimspielen der Saison 2015/16 begrüßte Borussia Dortmund 1 948 880 Zuschauer. Noch einmal fast 100 000 mehr als im bisherigen Rekordjahr 2013/14. In der Bundesliga liegt die Auslastung der Stadionkapazität von 81 359 Plätzen bei 99,88 Prozent. Mit der durchschnittlichen Besucherzahl von 81 178 belegte der BVB zum 17. Mal in Folge Platz eins in Deutschland. Zuschauer-Weltmeister ist er obendrein. Kein anderer Fußball-Klub auf dem Globus hat mehr Besucher als Borussia Dortmund.
Und die Schwarzgelben stellten weitere Bestmarken auf: Sie erziehlten im Geschäftsjahr 2015/16 – nicht zuletzt durch die Transfers von Mats Hummels zum FC Bayern München und Ilkay Gündogan zu Manchester City – mit 376,3 Millionen Euro (+ 36,3 Prozent) den höchsten Umsatz der Klubgeschichte (bisher: 305 Mio. in 2012/13). Apropos Transfers: Anfang Juli war dann nach monatelangem Hickhack mit dem Spieler und seinem Berater Mino Raiola auch der Wechsel von Henrykh Mkhitaryan fix. Der Armenier spielt künftig mit Superstar Zlatan Ibrahimovic unter Star-Trainer Jose Mourinho im Star-Ensemble von Manchester United. Die 42 Millionen Euro Ablöse, die Borussia Dortmund für ihn verbuchen durfte, fallen bilanziell zwar schon ins Geschäftsjahr 2016/17. Insgesamt erzielte der BVB aus dem Verkauf dieser drei Akteure, die im Jahr darauf allesamt ablösefrei hätten wechseln können, mehr als 100 Millionen Euro. Unter finanziellen Aspekten eine gigantische Story. Europas Fußballmanager blickten staunend nach Dortmund. Und applaudierten.
In der sportlichen Bilanz ist zweifelsfrei festzuhalten, dass der BVB mit Hummels – Gündogan – Mkhitaryan seine zentrale Achse der Erfolgssaison 2015/16 verloren hat und vor dem, so Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, »größten personellen Umbruch der zurückliegenden zehn Jahre« steht. Also vor dem größten Umbruch der Ära Watze. Oder anders ausgedrückt: vor dem größten Umbruch innerhalb des Zeitraums, den dieses Buch beschreibt, denn der BVB nahm nicht nur über 100 Millionen Euro für drei Spieler mit jeweils nur noch einem Jahr Vertragsrestlaufzeit ein – er gab das Geld auch wieder aus und investierte unter anderem in die beiden Weltmeister Mario Götze (FC Bayern München) und André Schürrle (VfL Wolfsburg). Insbesondere die Rückkehr des »verlorenen Sohnes« Götze, der den BVB drei Jahre zuvor inmitten eines riesigen Hagelsturmes aus negativen Fan-Emotionen verlassen hatte, stellt Borussia Dortmund auch vor eine kommunikative Herausforderung. Die Mehrheit der Anhängerschaft begrüßt den Transfer – aber eben längst nicht alle Fans. Der BVB steht folgerichtig nicht nur vor einer sportlichen, sondern auch vor einer kommunikativen Herausforderung.
Der Blick in die Zukunft ist aufregend. Keine Frage. »Der BVB ist das spannendste Projekt des Fußballs«, titelte die Welt. Aber blicken wir zunächst noch einmal zurück auf die Saison 2015/16, in der Borussia Dortmund im fünften Jahr in Serie ein großes Finale erreichte: 2012 DFB-Pokal, 2013 Champions League, 2014 bis 2016 wiederum DFB-Pokal. Das haben zuvor nicht einmal die Bayern geschafft. Zur vollen Wahrheit gehört, dass der BVB nur das erste dieser fünf Endspiele – 2012 gegen die Bayern (5:2) – gewinnen konnte. Bei den vier Finalniederlagen seither spielten allerdings dreimal auch diskussionswürdige Schiedsrichterentscheidungen eine maßgebliche Rolle. So auch im Endspiel am 21. Mai 2016, das die Dortmunder erst nach Elfmeterschießen unglücklich mit 3:4 verloren. Statt Siegesfeier und Jubelkorso um den Borsigplatz endete die Spielzeit erneut mit Frust und Tränen.
Frust und Tränen beschreiben auch die schwarzgelbe Gefühlslage am 14. April 2016. Das Los wollte es, dass Borussia im Viertelfinale der Europa League auf den FC Liverpool traf, den neuen Arbeitgeber ihres langjährigen Erfolgstrainers Jürgen Klopp. In den Runden zuvor hatte der BVB den renommierten FC Porto und den englischen Spitzenklub Tottenham Hotspur souverän ausgeschaltet, dabei als erster deutscher Verein überhaupt an der White Hart Lane im Londoner Nordosten gewonnen.
Doch das Wiedersehen mit »Kloppo« gleich in Saison eins nach seinem Abschied vom BVB – noch dazu in einer K.-o.-Konstellation – wurde im Vorfeld medial so gnadenlos überhitzt, dass Dortmunds Profis im Hinspiel seltsam gehemmt wirkten und über ein 1:1 nicht hinaus kamen. Umso enthemmter traten sie im Rückspiel auf, führten blitzschnell mit 2:0 und lange mit 3:1. Standen also mit eindreiviertel Beinen im Halbfinale dieses einzigen Wettbewerbs von Bedeutung, den der BVB in seiner Klubgeschichte noch nie gewonnen hat.
Es folgte eine Schlussphase, die sich in Dortmund bis heute niemand so recht erklären kann. Liverpool gelang der Anschluss. Der Ausgleich – 3:3. Dieses Ergebnis, das den BVB immer noch unter die letzten Vier katapultiert hätte, hatte auch nach 90 Minuten Bestand. Dann flog eine letzte Flanke in den Strafraum, Dejan Lovren schraubte sich hoch und kam mit dem Kopf an das Leder. Für Sekundenbruchteile war es mucksmäuschenstill im Stadion. Dann beulte der Ball das Netz aus – und die Anfield Road explodierte. Borussia war ausgeschieden! Am Ende eines Spiels, das in die...