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Eigensein entdecken

Lustvoll älter werden

AutorIrmtraud Tarr
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783451801150
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
'Eigensein halte ich für die wichtigste Aufgabe schöpferischen Älterwerdens', sagt Irmtraud Tarr und lädt ein zum lustvollen, lebensfrohen Älterwerden: finden, was das Ureigene ist, eigene Grenzen abstecken, neue Aussichten wagen, pfiffig älter werden, sich vorwagen und den eigenen Raum einnehmen, den Herbst in die Seele nehmen, frei navigieren und reichlich Früchte ernten. Wer Irmtraud Tarrs Anregungen aufnimmt, erfährt: es ist schön, eigen zu sein und ungehemmter, als wir es vielleicht sein sollten. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, nicht tun zu müssen, was man nicht tun will, und sich von innen nach außen zu kehren, statt sich von außen nach innen bestimmen zu lassen. Auch auf Bäume klettern ist eine Möglichkeit ...

Univ. Prof. Dr., Universitätsprofessorin an der Universität Mozarteum Salzburg, Konzertorganistin, Psychotherapeutin und Autorin zahlreicher Veröffentlichungen.

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~

Was ist mir wichtig?


»Eigen sein« – das ist schnell gesagt. Fast alle wollen es. Aber was bedeutet es eigentlich? Eigen sein, das ist wie aufwachen. Bei sich sein, wach sein, berührbar sein, erschütterbar sein und trotzdem unbeirrbar bleiben. Es heißt, zwischen eigenen und fremden Gefühlen, zwischen eigenem und fremdem Wollen unterscheiden zu können. Sich selbst zu durchschauen und sich mit sich selbst immer besser auszukennen. Als Weg in diese Richtung schlage ich Ihnen zunächst eine Art Selbstbefragung vor, die Ihnen zumindest in groben Zügen Übersicht über sich selbst verschafft.

Fragen Sie sich: Was ist mir wichtig?
Die folgenden Punkte, die ich meinen Klientinnen verdanke, lesen Sie bitte lieber nicht. Sie könnten ja manipuliert werden:
Meine FreundeSommer
Meine FamilieBaden im Meer
Im Bett lesenFrisches Brot
Spaziergang im WaldMein Café
KäsefondueKirche
GartenwirtschaftenKabarett
Abendessen mit einem LieblingsmenschenWeintrinken mit Freunden
MittagsschlafSonnenblumen
Meine CouchKomplimente
 Sich kaputt lachen
Nun fragen Sie sich: Was mag ich nicht?
Früh aufstehenAbschminken
SteuererklärungPflichteinladungen
RechnungenPutzen
DosenfutterSchlampige E-mails
MaschinengeräuscheSahnetorten
WohnwagenHandy-Telefoniererei
TechnikKaugummikauer
FormulareUnsinns-Vehikel
TelefonumfragenZahnarzt
KleingedrucktesBilligtarife
DresscodeZelten
Büstenhalter 

Haben Sie doch weitergelesen? Vielleicht sind Sie ein wenig irritiert. Selbstverständlich haben Sie die Freiheit, diese Punkte zu lesen oder eben nicht. Mit dieser Einleitung wollte ich Reaktanz auslösen, wenn auch nur minimal. Sie wollten diese Ideen lesen, und nun schränke ich Sie von vornherein ein. Was ist wahrscheinlich geschehen? Sie werden noch motivierter gewesen sein, sie zu lesen, weil Sie selbst entscheiden möchten, was Sie machen oder was Sie wollen. Vielleicht gelang es Ihnen über diesen kleinen Umweg nun, selbst herauszufinden, was Ihre eigenen Ideen sind. Oder Sie werden vielleicht protestieren: »Passt mir nicht!« »Ist bei mir ganz anders!« »Ich lass mich nicht in irgendwelche Punkte stecken!« »Ich will selbst bestimmen!«

Damit sind wir mitten im Thema. Wird einem die Freiheit genommen oder ist sie bedroht, so entsteht der Drang zur Wiederherstellung der Freiheit – das nennt man Reaktanz. Reaktanz haben Sie gerade praktiziert, indem Sie trotz der Bitte, die einzelnen Punkte nicht zu lesen, wahrscheinlich weitergelesen haben. Sie haben sich vielleicht ein wenig geärgert, aber vielleicht gelang es Ihnen so leichter, auf eigene Ideen zu kommen. Denn Sie haben ganz recht. Es ist Ihre Entscheidung, zu machen, was Sie wollen. Egal, was andere sagen, meinen oder raten. Jede Anpassung, an was auch immer, ist pure Zeitverschwendung, vor allem wenn man erst einmal über sechzig ist.

Das lasse ich mir nicht gefallen!


Sicher kennen Sie solche Situationen, in denen jemand eine Gemeinsamkeit mit Ihnen hinausposaunt, ohne dass Sie vorher um Ihre Zustimmung gefragt wurden oder darum gebeten haben. Vielleicht ist es die Formel »Wir Frauen … wir als Familie … wir Lehrer … wir Nachbarn … wir Krebskranke … wir Jogger … wir Alten«. Sobald man selbst zur angesprochenen Gruppe gehört, stellt sich bei vielen eine Art Irritation ein. Selbst wenn wir dem Gesagten zustimmen, geraten wir in eine gewisse Trotzigkeit, weil wir nicht ungewollt vereinnahmt werden wollen. Wir wollen nicht, dass jemand über uns verfügt. Wir wollen nicht eingemeindet werden. Und schon gar nicht, dass Äußeres über unser Inneres gestülpt wird. Wie kommt der andere dazu, eine Gemeinsamkeit mit mir zu verkünden, ohne meine Zustimmung zu haben? Wir wollen gefragt werden und selbst beurteilen und entscheiden.

Nehmen wir das Beispiel Flugsicherheit. Im Prinzip ist wahrscheinlich jeder von uns dafür. Ich kenne jedenfalls niemanden, dem es gleichgültig ist, in die Luft gejagt oder gesprengt zu werden. Dennoch reagiert man gereizt, wenn man die Schuhe, den Gürtel oder die Jacke ausziehen soll. Selbst wenn man frisch deodoriert und normalgewichtig ist und auch sonst nichts zu verbergen hat, ist man genervt. Geradezu reflexartig gerät man in die Haltung: »Das geht zu weit. Das ist zu intim. Das geht euch nichts an.« Mit anderen Worten: Die Abneigung gegen diese Art Kontrolle hat nichts mit Querulantentum zu tun, sondern mit einer bestimmten Weltsicht, die sich nichts aufzwingen lassen möchte. Auch nicht die wohlmeinende Sorgfaltspflicht der Durchleuchtung des eigenen Körpers. Es geht um das rechte Maß und die Verhältnismäßigkeit im Respekt vor der Intimität des Einzelnen.

»Ich möchte mich nicht durchleuchten lassen, ich bin doch kein Koffer!« »Ich lasse mich nicht wiegen, ich bin doch kein Stück Fleisch oder Fisch.« Diese Art ästhetischer Widerwille gegen jegliche Form von Vereinnahmung zeigt, dass eben alles eine Frage des Maßes ist. Es muss Grenzen geben. Es muss Bremsen geben. Und vor allem: Es kommt auf die verträgliche Dosis an. Die Frage ist doch: Was ist der Situation und der menschlichen Würde angemessen? Eine Gesellschaft, in der alles auf Transparenz hinausläuft, macht Angst. Nicht, weil die einzelnen Maßnahmen ungerechtfertigt sind, sondern weil sie für etwas stehen, das uns widerstrebt. Wir wehren uns dagegen, dass uns eine bestimmte Lebensweise aufgezwungen wird. Insofern sollte eine wahrhaft demokratische Gesellschaft dieses »Nein!«, dieses »So nicht!« ermutigen. Wenn wir nicht motiviert werden, unsere Freiheit zu verteidigen, was bewahrt uns dann vor der Einheitsgesellschaft mit Einheitsmeinungen und damit vor dem Totalitarismus?

Im ersten Kapitel haben Sie es an sich selbst erfahren. Reaktanz nennt man in der Psychologie dieses Abwehrverhalten gegen jegliche Art der Freiheitsbeschneidung. Erfunden wurde der Name »Reaktanz« 1966 von dem Sozialpsychologen Jack W. Brehm. Reaktanz bedeutet, vereinfacht gesagt: Auf Einschränkungen, auf psychischen Druck oder auf Verbote reagieren wir mit genau dem Gegenteil von dem, was von uns erwartet wird. Reaktanz äußert sich durch Trotz, erhöhte Anstrengung, Widerspruch, Aggression oder demonstratives Ersatzverhalten. Die meisten, die ich befragte, wussten zwar, wie es sich anfühlt und was es heißt, sich gegen Verbote und Einschränkungen zu wehren, aber sie kannten den Begriff »Reaktanz« nicht, obwohl er ein wichtiger Sammelbegriff für ein Verhalten ist, das wir alle mehr oder weniger praktizieren. Im Unterschied zum Widerstand und zum Trotz, die mit Widerspenstigkeit oder Aufmüpfigkeit assoziiert werden und umfassender sind, ist Reaktanz eine positive, produktive Kraft, die zunächst einmal schlicht sagt: »Da muss ich reagieren«, »Nicht mit mir«, »Das lasse ich mir nicht gefallen«, »Das geht mir gegen den Strich«, »Das geht zu weit«. In diesen Sätzen schält sich das Eigene heraus. Man will etwas anderes als das, was gewollt wird. Man spricht für sich selbst, statt mitzumachen. Man verteidigt die bedrohte Freiheit und will selbst über das eigene Leben bestimmen. An dieser Stelle erwacht unser Ich.

Muss ich wirklich?


Bin ich nun verantwortungslos, wenn ich mich in meinem Alter diesen Appellen, ich solle meine »inneren Werte« messen lassen, entziehe? Muss ich wirklich ständig wissen, wie meine Knochendichte, meine Lungenkapazität, mein Blutdruck, meine Blutwerte, mein Kalorienverbrauch, mein BMI beschaffen sind? Natürlich muss man sie nicht ständig wissen, aber dennoch sind diese immer wieder zu hörenden Fragen und Bedenken ernst zu nehmen, weil in ihnen die Ursache von Krankheit als persönlicher Schuld wieder anklingt. Vor allem im Alter werden wir heute durch Angebote und Anreize motiviert, uns mehr denn je um unsere Gesundheit zu kümmern. Und messen lässt sich ja mittlerweile ziemlich viel, und zwar nicht nur präventiv, sondern einfach aus Neugier oder Interesse für den eigenen Körper. Aber wehe, wir kümmern uns nicht genügend oder nur nach Bedarf, dann dürfen wir uns auch nicht beschweren! Dann sind wir ja selbst schuld, weil wir nicht genügend Selbstsorge und Selbstvermessung geleistet haben. Der oft zitierte Spruch, dass jeder seiner Gesundheit Schmied sei, bedeutet ja nicht nur, dass jeder selbst zu seinem Wohlbefinden beitragen soll, sondern verrät auch zwischen den Zeilen: »Selbst schuld, wenn du nicht regelmäßig ins Fitness-Studio gehst, täglich Obst isst, meditierst und viel joggst.«

Was wir alle tun sollen ist schließlich das, was uns allen fehlt. Wenn man also Gesundbleiben in Form von ständiger, anstrengender Aktivität verordnet, so führt dies genau zu dem, was eigentlich bekämpft werden soll: Bevormundung der Einzelnen im Gewand der verordneten...

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