In »The Frontier in American History«, Frederick Jackson Turners berühmtem Vortrag, den er am 12.7.1893 auf der World’s Columbian Exposition (der Weltausstellung) in Chicago hielt, erklärte er, dass die Besiedelung des Landes seit 1890 abgeschlossen und die »Frontier« damit Geschichte sei. Es ist eine Geschichte der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, die sich seit der Entdeckung des nordamerikanischen Kontinents von der Ostküste stetig in den Westen ausbreitete und eine kontinuierliche Entwicklung von einer europäischen hin zu einer amerikanischen Frontier zeitigte: »At first, the frontier was the Atlantic coast. It was the frontier of Europe in a very real sense. Moving westward, the frontier became more and more American.«1
In der Anfangszeit der Kolonisierung war Amerika für die Europäer ein Arkadien, dessen Entdeckung und Eroberung im Sinne einer Erneuerung Europas vollzogen wurde.2 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte das Fehlen der unmittelbaren Frontier-Erfahrung dazu, dass sich in Europa ein weiterhin von traditionellen Werten und Empfindungen geprägter Mythos fortschrieb. Literarische Erzählungen über den »Wilden Westen« entstanden insbesondere im 19. Jahrhundert in Europa bekanntlich viele. Unter den deutschen Autoren ist neben Karl May auch Friedrich Gerstäcker zu nennen, der Nordamerika zudem bereist hatte. Literarisches Vorbild für ihn wie für viele andere waren James Fenimore Coopers »Leatherstocking Tales«, die zwischen 1823 und 1841 erschienen waren.3 Der wesentlich von Cooper beeinflusste Prozess der Mythenbildung bei amerikanischen Autoren wies aufgrund der Konfrontation mit der kontinuierlichen Verschiebung der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, die das tägliche Leben unmittelbar prägte, andere Züge auf: »The American myth-maker, in order to satisfy the demands of his audience, had to turn to consummatory myth-making, in his approach to the frontier. He had to revoke the primary, mythopoetic consciousness of the people in order to establish a new faith, a new sense of cultural identity, a new basis for moral order.«4
Zu einer ersten Vermischung der Perspektiven auf die Frontier könnte es gegen Ende des 19. Jahrhunderts gekommen sein, als »Buffalo Bill’s Wild West« 1887 in London europäische Premiere feierte und 1889 durch Europa tourte. Diese Show gilt als erste audiovisuelle Darstellung des »Wilden Westens«. Aus Geschichte wurde zum ersten Mal im großen Stil ein Mythos kreiert, indem narrative Stereotype etabliert und zu einem Programm verbunden wurden: »The re-enactments were not re-creations but reductions of complex events into ›typical scenes‹ based on the formulas of popular literary mythology.«5
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in europäischen Ländern auch Western gedreht bzw. Filme produziert, die einen deutlichen Bezug zum Western aufweisen. Dies hat sich bis in die Gegenwart nicht geändert. Doch ist das gleichbedeutend damit, dass von einem europäischen Western gesprochen werden kann, genauso wie vom amerikanischen Western gesprochen wurde und wird? Um diese Frage beantworten zu können, soll zunächst der von der Frontier-These dominierte Diskurs zum Western grundsätzlich hinterfragt werden.
Der europäische Western als Ausprägung eines globalen Genres
Edward Buscombe hat darauf hingewiesen, dass der amerikanische B-Western durch seinen weitgehenden Verzicht auf die Mythologisierung der amerikanischen Historie bereits die Rede von einem kohärenten US-amerikanischen Western problematisch mache.6 Davon ausgehend, kommt Buscombe auf die Bedeutung des »Wilden Westens« für die europäische und außereuropäische Populärkultur zu sprechen: »By the time the movies arrived, the Wild West was an established part of popular culture, in Europe and elsewhere. It’s not surprising, therefore, that European film industries should have begun to produce Westerns of their own.«7 Bereits um 1910 wurden in Europa Western realisiert wie die Camargue-Western von Gaumont in Frankreich. Gleichzeitig wird der australische Bushranger-Film The Story of the Kelly Gang aus dem Jahre 1906 nicht nur als erster abendfüllender Spielfilm des Landes gehandelt, sondern er weist auch deutliche Parallelen zum Outlaw-Western auf.8 Auch in lateinamerikanischen Ländern finden sich nationalspezifische Genres wie der Cangaceiro-Film in Brasilien und der Gaucho-Film in Argentinien. In Mexiko – unmittelbar an die scheinbare Wiege des Western angrenzend und oft genug Schauplatz für Hollywoods Westernszenarien – existieren gleich mehrere Genrebezeichnungen für Filmgruppen, die Genre-Elemente des Western aufweisen.9 Das japanische Kino hatte in Form des Samurai-Films schon früh Berührungspunkte zum Western und hat nicht zuletzt in der jüngeren Vergangenheit Mischformen herausgebildet, die als »Hybrid-Genrefilme« bezeichnet werden können, in denen Bruchstücke des Western (meist Elemente des Italo-Western) und des Samurai-Films derart kombiniert werden – wie etwa in Sukiyaki Western Django (2007, Takashi Miike) – dass das »Nichteinheitliche oder Inhomogene« akzentuiert wird.10
Geht man davon aus, dass der US-Western kein kohärentes Gebilde ist, sondern stattdessen aus zahlreichen unterschiedlichen Ausformungen oder »Subgenres« besteht, von denen nur ein Teil einen Gründungsmythos oder den Frontier-Mythos transportiert, und geht man zudem davon aus, dass der US-Western bis in die 1960er Jahre zu den »most coveted American cultural imports«11 zählte und deshalb in zahlreichen nationalen Kinematografien als narrative und ikonografische Referenz integriert wurde, dann kann man auch den europäischen Western in einem ersten Schritt als eine ebenfalls heterogene Spielart des US-Western begreifen. War der Western-Diskurs zum europäischen Kino bislang in erster Linie von drei Erscheinungsformen geprägt – dem Western all’italiana, dem Karl May-Film und den DEFA-Indianerfilmen –, so bewies nicht zuletzt das Cinefest 2011, welche Variationsbreite der europäische Western tatsächlich aufweist und dass es sich nicht nur um eine historisch eher kurze und zeitlich recht klar eingrenzbare Erscheinung handelt.12
In diesem Sinne umfasst der europäische Western auch die französischen Camargue-Filme; die britischen Stummfilm-Western, von denen nach Buscombe allein 30 vor 1915 entstanden;13 die »Neckar-Western«, die ab 1919 bei Heidelberg und Ludwigshafen gedreht wurden; Der Kaiser von Kalifornien (1935/36) in der Regie von Luis Trenker; die ab den 1960er Jahren im Rahmen des europäischen Autorenkinos entstandenen Filme, etwa Hark Bohms Tschetan, der Indianerjunge (1972) und Marco Ferreris Touche pas à la femme blanche (Berühre nicht die weiße Frau, 1973/74), und neben den DEFA-Filmen die Produktionen anderer Ostblock-Länder wie der Tschechoslowakei mit Oldøich Lipskýs Limonádový Joe aneb Konská opera (Limonaden-Joe, 1963/64), der Sowjetunion mit Vladimir Motyl’s Beloe solnce pustyni (Weiße Sonne der Wüste, 1969) oder Polens mit Jerzy Hoffmans und Edward Skórzewskis Prawo i pięść (Das Gesetz und die Faust, 1964).
Euro-Western und populäres europäisches Kino
Wie nähert man sich aber nun diesem heterogenen Gebilde des europäischen Western? Ein Vorschlag von Christopher Frayling hierzu lautet: »Before studying European Westerns, one must first analyse the studios from which they emerged (and the relationship – economic or cinematic – between those studios and Hollywood). They are not fully comprehensible without reference to the previous work of the individual directors concerned, and to the attitudes of these directors towards the Hollywood Western. A thorough analysis of them should be able to distinguish the specifically ›European‹ elements (technical, cultural or ideological) from the extensions of Hollywood ›forms‹ or ›dominant codes‹, the attempts to manipulate audience expectations about the Hollywood product, and the elements which are directly derived from the Hollywood originals«.14 Frayling empfiehlt demnach, den europäischen Western bezüglich bestimmter filmhistorisch etablierter Parameter (Studio, Regisseur) in seiner Differenz zu Hollywood zu fassen und den Umgang mit Genre-Elementen zu analysieren.
Blauvogel (1978/79, Ulrich Weiß): Robin Jäger
Foto: DEFA-Kleist
Man sollte das Thema aber m.E. in einem ersten Schritt grundsätzlicher angehen und mit Bezug auf Richard Dyer und Ginette Vincendeau die Frage nach dem europäischen Western zunächst einbetten in die Frage nach einem populären europäischen Kino und damit nach einem europäischen Genre-Kino. Europäisches Kino ist lange Zeit vor allem in der Differenz zum Hollywood-Kino betrachtet worden. Und diese Differenz...