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E-Book

Ein ganzer Mann

Über das Leben & Lieben des H. G. Wells

AutorDavid Lodge
VerlagHaffmans Tolkemitt Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl650 Seiten
ISBN9783942989190
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Dies ist das neue Buch von Meistererzaäehler David Lodge über das Leben & Lieben des H. G. Wells, dem vormals meistgelesenen Schriftsteller der Welt. Der alte, kränkelnde Herbert George Wells - H. G. ('Aigee') für seine Freunde und Familie - lebt im Jahr 1944 zurückgezogen in seinem Londoner Stadthaus am Regent's Park und blickt zurück auf sein Leben, seine Bücher, seine Frauen, seine Begegnungen mit den Großen und Mächtigendieser Welt. War dieses Leben nun ein Erfolg? Er war einmal 'der Mann, der die Zukunft erfand', jetzt fühlt er sich wie einer von gestern, niedergeschlagen vom Zusammenbruch seiner Visionen. Er erinnert sich an seine hoffnungslose Kindheit, seinen Kampf um eine anstäendige Ausbildung und Anstellung, an seinen sagenhaften Aufstieg zu Erfolg und Ruhm als Schriftsteller von prophetischer Einbildungskraft und an seine Fähigkeit, sich in die Herzen der Leser aller Schichten zu schreiben. Er erinnert sich an seine Begegnungen mit den bedeutenden Literaten, Intellektuellen und Politikern seiner Zeit, an seinen Sprung in die sozialistische Politik, an seinen Glauben an die freie Liebe und die Energie, danach zu leben. David Lodge enthüllt ein erstaunliches Leben, so genial wie widersprüchlich: Wells war ein Sozialist, der seinen Reichtum genoss und großzügig teilte, ein anerkannter Romancier, der sich vom Roman abwandte, ein feministischer Macho, hochsensibel und unheilbar romantisch, gelegentlich vereinnahmend aber immer mitfühlend und unwiderstehlich.

David Lodge, geboren 1935 in London, lehrte 30 Jahre Englische Literatur an der Universität Birmingham. Zu seinem Werk zählen 14 Romane, Drehbücher, Theaterstücke und wissenschaftliche Schriften. Ortswechsel (1986), Therapie (1995), Denkt (2001) und Autor, Autor (2006) sind im Haffmans Verlag erschienen. Die Romane Kleine Welt: Eine akademische Romanze (1984) und Saubere Arbeit (1988) wurden für den Booker Prize nominiert. Der selbsterklärte Neurotiker lebt mit seiner Familie in Birmingham. Hier kann er sich damit beschäftigen, seinen Ruf als 'komischster Autor Großbritanniens' (Observer) zu verteidigen.

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Leseprobe

1


Im Frühjahr 1944 sieht man Hanover Terrace, einer hübschen klassizistischen Häuserreihe am Westrand des Regent’s Park, die Kriegsschäden deutlich an. Ihre cremefarbene Stuckfassade ist seit 1939 nicht renoviert worden und nun schmutzig, rissig und blättert ab. Viele Fenster sind durch Bomben oder Schockwellen der Flak auf Primrose Hill zerstört und mit Brettern vernagelt. Ein Haus am Ende der Reihe ist nach einem Brandbombentreffer nur noch eine verrußte Ruine. Die elegante Arkade an der Vorderseite, eine Art gemeinsame Veranda vor den Haustüren, ist voller Scharten und abgeplatzter Stellen, genau wie die massigen dorischen Säulen, die das Hauptmerkmal des Gebäudes tragen – einen Giebel, der klassische Figuren bei verschiedenen nützlichen und künstlerischen Tätigkeiten einrahmt, von denen zwei den Kopf und verloren haben und eine einen Arm. Die Göttin, die früher mit einer Weltkugel auf der Giebelspitze stand, ist als potenzielle Gefahr entfernt worden, damit sie nicht durch eine Explosion plötzlich herunterfällt; und der gusseiserne Zaun, der in elegantem Schwarz und Gold die Anliegerstraße und ihre Sträucher vom äußeren Rundweg des Parks trennte, wurde schon vor langer Zeit abmontiert und für Munition eingeschmolzen.

Nur Nr. 13 ist den ganzen Krieg hindurch von seinem Besitzer Mr. H. G. Wells bewohnt worden. Während des Blitz von 1940/41 hat man ihn häufig damit aufgezogen, diese Zahl könne Unglück bringen, worauf er im Einklang mit seiner lebenslangen Verachtung für Aberglauben eine noch größere 13 auf die Wand neben der Haustür malen ließ. Er hat sich standhaft geweigert, aufs Land zu ziehen, und stets gesagt: »Mich wird Hitler (oder in männlicher Gesellschaft »dieser Scheißkerl Hitler«) nicht vertreiben«. Er ist in Hanover Terrace geblieben, während ein Nachbar nach dem anderen eine sichere Zuflucht auf dem Land gesucht hat und die Häuser von Untermietern bezogen wurden oder leer blieben.

Solange seine Gesundheit es zuließ, setzte H. G. einen Helm auf und nahm an der Feuerbeobachtung auf dem Dach von Hanover Terrace teil, teils aus patriotischem Pflichtgefühl, teils aus Sorge um den Aubusson-Teppich in seinem Wohnzimmer. Es verschaffte ihm auch eine düstere Befriedigung, sozusagen von einem Logenplatz aus das Eintreffen seiner Prophezeiung von 1908 aus dem Roman Der Luftkrieg zu sehen, dass künftige Kriege durch Flugzeuge entschieden und Städte und ihre Bewohner bei Flächenbombardements untergehen würden. Gewiss hatte er irrtümlich angenommen, diese Strategie würde durch riesige Luftschiffe, groß wie Ozeandampfer, verwirklicht werden, statt durch Flugzeuge, aber beim Stand der Luftfahrttechnik von 1908 lag das nicht so fern, und gewiss nicht ein paar Jahre später, als deutsche Zeppeline am Nachthimmel über England erschienen. Penguin Books hielt den Luftkrieg auch in diesem Krieg noch für so aktuell, dass es den Roman 1941 neu auflegte. Er hatte ein kurzes neues Vorwort geschrieben, das mit dem Satz endete, der auch auf seinem Grabstein stehen sollte: »Ich hab es euch gesagt. Ihr verdammten Narren.«

Feuerbeobachtung ist jetzt zu viel für ihn, aber sie ist auch unnötig. Im Frühjahr 1944 heulen die Sirenen nur noch selten. Der unerwartete Neubeginn der deutschen Nachtangriffe Anfang des Jahres stellte sich als symbolische Vergeltung für das Flächenbombardement deutscher Städte durch die britische und amerikanische Luftwaffe heraus und war bald wieder vorbei. Nun gibt es nur noch gelegentliche Tagesangriffe durch niedrig fliegende Kampfbomber, die unter dem Radar hindurch schlüpfen und selten das Zentrum von London erreichen. Nazideutschland hat andere militärische Sorgen, es leistet dem Vormarsch der russischen Armeen im Osten erbitterten Widerstand und bereitet sich darauf vor, die Invasion des besetzten Frankreich zurückzuwerfen, die wie jeder weiß kurz bevorsteht. London ist wieder sicher, und einer nach dem anderen kommen die Besitzer von Hanover Terrace zurück, um ihr Eigentum wieder zu beanspruchen. H. G. beobachtet das mit einiger Verachtung, er war die ganze Zeit da, hat seine Routine erledigt, seine Bücher geschrieben, Briefe beantwortet, einen täglichen Spaziergang gemacht – über die Straße und in den Park zum Zoo oder zum Rosengarten oder die Baker Street entlang zum Savile Club mit einer Pause in Smith’s Buchhandlung, um ein bisschen zu blättern.

Vor kurzem hat er diese Ausflüge aufgeben müssen – sogar der Rosengarten ist zu weit. Es geht ihm nicht gut. Er hat keine Kraft. Er hat keinen Appetit. Er steht spät auf und sitzt in einem Sessel im kleinen Salon oder im Wintergarten, einem verglasten Balkon auf der Rückseite des Hauses, mit einer Decke auf den Knien, wo er abwechselnd liest und döst und hochschreckt, wenn sein Buch zu Boden fällt oder seine Schwiegertochter Marjorie, die seit dem Tod seiner Frau seine Sekretärin ist, mit ein paar Briefen kommt, die er beantworten muss, oder auch nur, um zu sehen, ob es ihm gut geht. Abends besucht ihn sein älterer Sohn Gip, Marjories Ehemann, oder Anthony, sein unehelicher Sohn von Rebecca West, der am ersten Tag des Ersten Weltkriegs geboren wurde. Er spürt, wie diese drei Menschen ein- und ausgehen und ihn mit besorgten Mienen mustern. Seit einiger Zeit ist nachts eine Krankenschwester im Haus, jetzt hat sein Arzt Lord Horder empfohlen, es sollte auch am Tag eine da sein. Er fragt sich, ob er bald sterben wird.

Eines Abends im April ruft Anthony West seine Mutter an. Sie ist in Ibstone House, dem stehengebliebenen Teil eines Regency-Anwesens mit eigener Farm auf dem Land bei High Wycombe, wo sie mit ihrem Ehemann Henry Andrews lebt, einem Bankier und Ökonomen, der jetzt für das Ministerium für wirtschaftliche Kriegführung arbeitet.

»Ich hab leider schlechte Neuigkeiten«, sagt Anthony. »Horder sagt, H. G. hat Leberkrebs.«

»Mein Gott! Das ist ja schrecklich. Weiß er es?«

»Noch nicht.«

»Du wirst es ihm hoffentlich nicht sagen, oder?«

»Ich hab mit Gip darüber geredet. Wir meinen, wir sollten es tun.«

»Aber warum?«

»H. G. hat immer daran geglaubt, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Das hat er oft gesagt.«

»Es ist eine Sache, das zu sagen …«

»Ich finde, das sollten wir nicht am Telefon diskutieren, Rac«, sagt Anthony und benutzt den Spitznamen, den sie bekam, als sie Henry heiratete und sie sich Ric und Rac nach zwei französischen Cartoonhunden zu nennen begannen. »Ich wünschte, ich wäre rübergekommen und hätte es dir direkt gesagt.«

»Weil du dich schrecklich fühlst?«

»Weil ich dachte, du würdest dich schrecklich fühlen.«

»Das tu ich ja auch«, antwortet Rebecca etwas aufbrausend. Ihre Gespräche sind oft gespickt mit kleinen indirekten oder vermuteten Vorwürfen und Entgegnungen, die oft zu größeren werden.

»Ich kann im Moment nicht nach Ibstone«, sagt Anthony. »Wir haben zu wenig Leute in Fernost, und ich hab sehr viel zu tun.« Er ist gerade Redakteur in der Fernostabteilung des BBC-Überseeservice.

Anthony fasst Horders Prognose zusammen. H. G. bekommt vielleicht noch einen Aufschub, aber wahrscheinlich hat er höchstens noch ein Jahr zu leben. Sie diskutieren wieder, ob man es ihm sagen sollte, bis Rebecca ärgerlich das Gespräch beendet. Sie geht ins Arbeitszimmer und hält es in ihrem Tagebuch fest. Das Ende lautet: »Meine größte Sorge ist, dass Anthony nicht zu sehr von der Nachricht getroffen ist. Ich habe meinen Frieden mit H. G. gemacht. Ich habe die grausamen Dinge nicht vergessen, die er mir angetan hat, aber unsere Zuneigung ist echt und lebendig.« Sie schreibt ihr Tagebuch auch mit Blick auf künftige Biographen, die einmal daraus zitieren werden.

Anthony ruft Jean an, eine hübsche junge Brünette mit wundervollen Brüsten, die Sekretärin bei der BBC ist und mit der er eine leidenschaftliche Affäre hat, um ihr die Neuigkeiten von seinem Vater zu erzählen. Sie ist mitfühlend, kann seine Gefühle aber nicht völlig nachempfinden, weil sie H. G. nie begegnet ist und weil sie weder ihm noch dem Rest der Familie vorgestellt werden kann, denn Anthony ist mit Kitty verheiratet, die sich um die Familienfarm und die beiden Kinder kümmert, während er bei der BBC arbeitet, und Kitty weiß noch nichts von Jean. Wenn er in London ist, wohnt Anthony in der Remisenwohnung am Ende des Gartens von Hanover Terrace Nr. 13, die in der Familie »bei Mr. Mumford« heißt, nach einem früheren Mieter, der schon lange fort und wahrscheinlich tot ist.

»Hast du es deiner Frau schon gesagt?«, fragt Jean Anthony mit gesenkter Stimme, damit ihre Mitbewohnerin Phyllis nichts mitbekommt. Ihre Affäre findet fast nur in dieser Wohnung statt, die in bequemer Nähe zur BBC liegt, wenn sie tagsüber mal frei haben und Phyllis arbeitet.

»Noch nicht.«

»Und wann?«

»Ich muss den richtigen Moment abwarten.«

»Es gibt keinen richtigen Moment. Du musst es einfach tun.«

»Ich kann nicht, während diese Sache mit H. G. noch so frisch ist.«

»Tja …«

»Ich liebe dich, Jean.«

»Ich liebe dich auch, aber ich hasse diese Heimlichtuerei.«

»Ich weiß, aber hab Geduld, Liebling.«

Ein paar Tage später bekommt Rebecca einen Anruf von Marjorie, die sie bittet, H. G. zu besuchen. »Wäre ihm das recht?«, fragt Rebecca. Die Wunden ihrer Trennung 1923 oder ’24 (es war ihnen nie ganz klar, wann sie endgültig war) nach einer stürmischen und...

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