September
Tausendundeine Nacht
Der Fahrtwind bläst mir heiß ins Gesicht, meine Oberschenkel kleben an den Kunststoffbezügen der Sitze, meine Augen brennen. Es ist Anfang September, und gerade bin ich über die Grenze zwischen Kastilien-La Mancha und Andalusien gefahren, durch die Schlucht von Despeñaperros. Vor mir ein Meer von Olivenbäumen, ab und zu taucht dazwischen ein weiß getünchtes Cortijo, ein Bauernhaus, auf. Ich drehe die Musik auf volle Lautstärke. Die Klänge der Flamenco-Fusion-Band Chambao dröhnen aus den kleinen Boxen, „Volando voy“ singt Frontfrau La Mari, ich fliege. Es ist eine Coverversion des Lieds der Flamenco-Legende Camarón de la Isla. In meinem knallroten VW-Bus bin ich auf dem Weg nach Granada. Später Nachmittag, die Sonne steht tief, der Asphalt der Autobahn flimmert in der Hitze. Die gefühlte Temperatur in meinem Bus liegt bei über vierzig Grad. Ich greife nach der Wasserflasche auf dem Beifahrersitz; sie ist kochend heiß. Ohne zu zögern, schütte ich mir den Rest des Wassers einfach über den Kopf. Aber die Erfrischung hält nur kurz an, schon nach wenigen Minuten hat der Fahrtwind mein T-Shirt wieder staubtrocken geblasen.
Drei Jahre ist es her, dass ich ein Jahr lang in Granada studiert und in dem arabischen Viertel Albayzin gelebt habe. Ein Anruf genügte, um mich wieder in die lebensfrohe Stadt am untersten Rand von Südspanien zu locken. Eine befreundete Regisseurin rief mich an, sie plane einen Dokumentarfilm über die spanische Frau. „Am liebsten würde ich in Andalusien drehen“, sagte sie und fügte schnell hinzu, ich würde mich dort doch sehr gut auskennen. Ob ich nicht die Vorrecherche und die Produktion übernehmen wolle. Mehr war nicht nötig, meine Entscheidung war gefallen. Den Job als Reporterin bei der Lokalausgabe einer Münchner Zeitung gab ich kurzerhand auf. Mein wichtigstes Hab und Gut packte ich in den Bus, und schon ging es los. Innerhalb von zwei Tagen hatte ich Frankreich und Nordspanien durchquert, nach einem Zwischenstopp bei einem Bekannten in Madrid ging es dann weiter nach Andalusien. Jetzt sitze ich in meinem Auto, singe laut „Volando voy“ mit der Sängerin von Chambao und beschließe, die vierzig Grad im Schatten zu genießen, während mein Blick immer wieder von der Straße in die von der Sonne golden angestrahlten Ölbaumhaine schweift.
In ein weiches Orangerot hat die Abendsonne die Stadt getaucht, als ich in Granada ankomme. Selbst die hässlichen Vorortsiedlungen, die ich auf dem Weg in die Altstadt passieren muss, bekommen in diesem Licht einen schönen Anstrich. Für die letzte Etappe der Fahrt habe ich echten Flamenco aus meiner CD-Sammlung gefischt, die sich während der drei Tage Fahrt auf dem Beifahrersitz und auf dem Boden verteilt hat. Camarón de la Isla singt jetzt „Como el Agua“. Auf der Hauptstraße Gran Vía de Colón empfangen mich der vertraute Lärm der röhrenden Vespas und die Halbwüchsigen, die auf ihren Mopeds ohne Helm und mitten im dichtesten Verkehr waghalsige Kunststücke vollführen. Touristen und Granadinos in luftigen Sommerkleidern drängen sich auf den Gehsteigen. Die ersten Nächte in meiner alten Heimat will ich bei meiner Freundin Esther verbringen. Sie wohnt mitten im Albayzin, meinem alten Viertel, das genau gegenüber der maurischen Palastanlage Alhambra liegt. Während ich im chronischen Stau an der Gran Vía stehe und aus dem Fenster das bunte Treiben auf den Gehwegen verfolge, erinnere ich mich an einen Schleichweg, der einem die lästige Parkplatzsuche in der Innenstadt erspart. In dem Viertel Haza Grande, genau oberhalb des Albayzin gelegen, gab es immer ausreichend Platz. Und auch jetzt enttäuscht mich der Geheimtipp nicht: Kaum bin ich in Haza Grande angekommen, stehe ich auch schon vor einer großen Parklücke. Ich packe Wäsche zum Wechseln, die Zahnbürste und die Kamera in meine Umhängetasche.
Bevor ich in die Gassen des Albayzin eintauche, halte ich kurz am Aussichtspunkt San Cristóbal an. Die Alhambra glüht jetzt rot, die letzten Sonnenstrahlen fallen auf die Stadt, dahinter liegen die grünen Gartenanlagen des Generalife bereits im Dunkeln, die Dachziegel des Häusermeers leuchten. Ich atme die Stimmung ein, jeden Moment, so scheint es, könnte hinter einer Ecke ein dunkelhäutiger Maure mit Kopftuch auftauchen. Ein Hochgefühl macht sich in mir breit, und die Müdigkeit der Autofahrt ist plötzlich von mir abgefallen. Beschwingt laufe ich die Gassen hinunter.
An der Plaza Larga, wo Esther wohnt, tobt jetzt in den frühen Abendstunden das Leben. Ein junger Mann mit Thaihosen und Rastazöpfen, der auf einer Bank sitzt, spielt auf seiner Gitarre eine Bulería, ein Mädchen in kurzem Sommerkleid steht daneben und begleitet ihn mit ihren Händen – die Palmas, die Handflächen, sind eines der wichtigsten Instrumente beim Flamenco. Ein paar der Tische auf dem Platz sind schon besetzt, die Kellner tragen Cañas, kleine Gläser mit Bier, heraus, dazu gibt es riesige Portionen Ensaladilla Rusa – Kartoffel-Mayonnaise-Salat – oder Weißbrot mit Chorizo, scharfer spanischer Paprikawurst. Wer in Granada ein Bier trinken geht, muss sich um sein Abendessen nicht mehr sorgen. Zu jedem Getränk gibt es ungefragt eine Tapa dazu.
Ich klopfe an der niedrigen Holztür. Es dauert ein bisschen, bis Esther mit verschlafenem Gesicht öffnet. „Hola!“, ruft sie mir entgegen und fällt mir um den Hals. Ein riesiger Hund drängt sich zwischen uns, „der gehört meinem neuen Freund“, sagt sie, als sie mich wieder aus der Umarmung entlässt, und da sehe ich schon schemenhaft hinter ihr in der Dunkelheit des Wohnzimmers einen langhaarigen Mann mit nacktem Oberkörper auf dem Sofa sitzen. „Wir haben gerade Siesta gehalten“, sagt sie entschuldigend und reibt sich die Augen. Seit ich Esther vor ein paar Jahren kennengelernt habe, wechselt sie ihre Freunde genauso oft wie ihre Jobs. Immer ist es die große Liebe, und immer hält sie höchstens ein paar Monate. „Komm rein, das ist Pedro“, stellt sie uns vor. Zwei Küsschen, und ich nehme neben ihm auf dem Sofa Platz. Während Pedro sich einen Tee macht, klärt Esther mich über die wichtigsten Veränderungen in ihrem Leben auf. Esther ist Sozialarbeiterin und wieder einmal auf der Suche nach dem nächsten Aushilfsjob, Pedro ist seit ein paar Monaten da – ein kleiner Rekord – und es hört sich alles so an, als würde er auch länger bleiben.
Eine Hand dreht eine Zigarette, die andere sucht zwischen den Sofaspalten nach einem Feuerzeug. Esther inhaliert tief und sagt dann wie nebenbei: „Du hast übrigens schon ein Zimmer. Bei Charo ist was frei. Nachher schauen wir bei ihr vorbei.“ „Das ist ja wunderbar!“ Charo ist eine junge Künstlerin, die in einem wunderschönen alten Haus mit Blick auf die Alhambra wohnt, nur ein paar Straßen weiter. Als ich in Granada studierte, war ich oft bei ihr auf der Dachterrasse. Es war damals so etwas wie der Treffpunkt unseres Freundeskreises nach der Uni. Wenn ich in Deutschland an Granada zurückdachte, erinnerte ich mich unweigerlich an Charos Terrasse.
Am liebsten würde ich gleich zu ihr gehen und alte Zeiten wieder aufleben lassen, aber erst einmal setzen wir uns an einen der Tische an der Plaza Larga und bestellen uns ein paar Bier. Kaum haben wir uns niedergelassen, springt Esther schon wieder auf und begrüßt ein Pärchen, das nebenan auf einer Bank sitzt. Die beiden gesellen sich dazu, und innerhalb weniger Minuten hat sich eine große Gruppe um uns geschart. Granada, wie es in meiner Erinnerung lebt. „Das ist Veronica“, stellt Esther mich vor, und ich begrüße jeden Neuankömmling mit zwei Wangenküsschen. Alle reden durcheinander, langweilig wird es nie, ich fühle mich wieder mitten in mein Studentenleben zurückversetzt. Nach zwei Bier sind wir satt und einer schlägt vor, zum Aussichtsplatz Mirador de San Nicolás zu gehen.
Auf dem Spaziergang durch die verwinkelten Gassen des Viertels erzähle ich Eva, einer jungen Frau aus der Gruppe, dass ich auf der Suche nach Protagonistinnen für einen Dokumentarfilm über die andalusische Frau bin. Gleich ist sie von der Idee begeistert und sieht sich anscheinend schon in der Rolle der Protagonistin, denn sie erzählt mir von der eigenen Familie, vor allem von ihrer Großmutter. Die Geschichte klingt wirklich spannend. Seit sie Witwe ist, ist die alte Dame anscheinend richtig aufgeblüht. „Sie tanzt Flamenco, spielt Theater und trifft sich mit Freundinnen zum Kaffee. Als mein Opa noch lebte, wirkte sie hingegen, als wäre sie schon fast tot. Sie ging nie raus, war den ganzen Tag mit Kochen und Putzen beschäftigt und war ihm zu Diensten.“ Eva selbst hat Regie in Barcelona studiert und versucht sich jetzt mit Kurzfilmen über Wasser zu halten. Ich notiere sofort ihre Telefonnummer und wir verabreden uns vage auf einen Tee in den nächsten Tagen.
Vom Mirador San Nicolás blickt man direkt auf die Alhambra. Jetzt, im Dunkeln, sieht die gelb angestrahlte Palastanlage aus, als würde sie über der Stadt, in der nur ein paar Lichter brennen, schweben. Auf dem Platz spielt jemand auf der Gitarre, ein Mädchen jongliert mit Feuerbällen, ein Junge trommelt auf einem afrikanischen Djembé. Zur fortgeschrittenen Stunde verirrt sich kaum ein Tourist auf den Platz, der weit oben im Albayzin liegt, die Bewohner, fast ausschließlich junge Alternative und Gitanos, spanische Roma, haben ihn jetzt ganz für sich. Als es schon fast zwölf Uhr ist, packt mich Esther am Arm. „Lass uns zu Charo gehen.“ Pedro lässt sie auf dem Platz zurück, er ist gerade in ein Gespräch vertieft.
Nur ein paar...