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E-Book

Ein Jahr in Paris

Reise in den Alltag

AutorSilja Ukena
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451333552
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Paris - die Stadt der Liebe und der Literatur, der schönen Frauen und der charmanten Männer. Mit Anfang 30 zieht Silja Ukena in die Stadt ihrer Träume und macht sich auf die Suche: nach einer Wohnung, dem Mann fürs Leben, den Geheimnissen des Subjonctif, einem Job und der besten Boulangerie der Stadt. Ein hinreißendes Buch darüber, wie es ist, zur Pariserin zu werden.

Silja Ukena, 1975 geboren, hat nach einer Ausbildung zur Journalistin Kunstgeschichte und Politikwissenschaft in Hamburg und Paris studiert. Danach arbeitete sie als freie Journalistin und Literaturkritikerin - unter anderem für Brigitte, Stern, KulturSPIEGEL, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.

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Leseprobe

Mai – Anfänge


1. Kapitel, in dem ich enttäuscht bin, dem Geist von Paris nachlaufe, eine erste Bekanntschaft mache, beinahe überfahren werde und lerne, was eine grammatische „Ausnahme“ ist.



Erkenntnisse: 1. Das Baguette ist eine Frau. 2. Die Regel ist die Ausnahme.

Aufgabe des Monats: Die Franzosen verstehen und die Franzosen dazu bringen, mich zu verstehen.



ALS ICH AM FLUGHAFEN CHARLES DE GAULLE das erste Stück Pariser Himmel erblickte, da war es grau. Ich musste an Hemingway denken, an seinen Roman „Paris – ein Fest fürs Leben“, der mit dem Satz beginnt: „Dann war das schlechte Wetter da“, und dann rammte mir jemand seinen Koffer in die Hacken und raunzte etwas Unverständliches, etwas, das wahrscheinlich bedeuteten sollte, ich möge hier gefälligst nicht den Verkehr aufhalten. Die Menschen stürzten sich auf ihre Koffer, rannten hinaus über das schwarze Pflaster in den Regen, zum Taxi, zum Bus, zum Bahnsteig der RER. „Welcome to Paris“, hatte die Stewardess gesagt. „We wish you a pleasant stay.“ Vom Regen hatte sie nichts gesagt und auch nicht davon, dass der Aéroport Charles de Gaulle ein vollkommen unverständliches Ungetüm aus Sichtbeton sein würde, eine Art Gebäude gewordene Metapher der französischen Grammatik. Als internationaler Flughafen jedenfalls nur bedingt geeignet. Ich musste einen Bus finden, der mich zum Étoile bringen sollte. Dort würde Arnaud mich abholen. Arnaud war ein Freund von Freunden, und er und seine Frau Isabelle hatten sich freundlich erboten, mich in der ersten Zeit bei sich wohnen zu lassen.

Isabelle und Arnaud waren das typische Pariser Paar, das es zu etwas gebracht hat. Beziehungsweise hatte Arnaud es zu etwas gebracht, und Isabelle ihn dazu, sie zu heiraten. Inzwischen hatten sie zwei Autos und zwei Kinder, jede Menge Streit und verbrachten die Ferien mit den Schwiegereltern in der Vendée. Arnaud war Absolvent der Eliteuniversität „Sciences Po“, mit vollem Namen „Institut d’Études Politiques de Paris“1, und arbeitete in einer großen Unternehmensberatung. Isabelle machte auch irgendetwas in der Firma ihres Vaters. Was, habe ich nie genau begriffen.

Sie erwartete uns mit einem „kleinen Imbiss“. Salat, Pasteten, etwas Brot und Käse. Wein und Wasser in Karaffen. Ich glaube, das war meine Rettung an diesem Abend – diese Fähigkeit der Franzosen, zu jeder Zeit und an jedem Ort ein gutes Essen zu servieren. Meine Angst vor dem Neuanfang, die mich schon am Flughafen in Deutschland übermannt hatte, die Enttäuschung über das schlechte Wetter, die Fremdheit in dieser mit gelben Stoffen und Stores überladenen Wohnung im 16. Arrondissement.

Als ich später auf dem mit Bourbonen-Lilien gemusterten Schlafsofa lag, hatte ich die erste Lektion in Pariser Gesellschaftskunde hinter mir: wie man conversation macht. Arnaud, ganz junge Elite, hatte die Situation gewandt im Griff. Er brillierte und hatte zu allem etwas zu sagen. Zum Käse: „Unser traiteur bekommt ihn direkt aus der Gegend von Chartres, musst du wissen.“ Zur Kunst: „Du solltest ins Musée Picasso gehen. Picasso hat mir einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnet.“ Zur Lage der Nation: „Nein, ich würde nicht vom Niedergang sprechen. Die Nation befindet sich in einer Krise. Aber es gibt Hoffnung.“

Isabelle blickte dazu auf ihren makellos gedeckten Tisch. Da meine Meinung in Arnauds Diskurs sowieso nicht gefragt war, hatte ich Zeit, sie zu betrachten. Sie war schön, Isabelle, kein Zweifel. Ihr Teint ebenso fein wie das Porzellan auf dem Tisch, allerdings ohne Landhausbemalung. Eine von diesen Frauen, die niemals enttäuschen. Immer passen die Mokassins zur Handtasche, nie verlässt ein Haar die Frisur, und dass sie zwei Kinder hat, sieht man ihr nur an, wenn sie mit ihnen unterwegs ist. Trotzdem ist da immer dieser leicht gespannte Zug um den Mund, diese Falte an der Nasenwurzel, das leise Signal. Etwas nagte in ihr. Aber sie wusste nicht, was. Meine erste Pariserin seit Madame Merseburger, unserer Französischlehrerin. Ich hatte vor, eine größere Sammlung an Modellen anzulegen. Schließlich wollte ich selbst eine werden. Doch würde das noch eine Weile warten müssen. Denn der Gedanke an Madame Merseburger brachte mich zu einem ganz anderen Problem: meinen Französischkenntnissen. Oder vielmehr deren Abwesenheit. Dabei hatte ich die Sprache doch geliebt, vom dem Moment an, als Madame – von „l’amour“ einst ins kalte Deutschland verschlagen – uns die ersten Worte beigebracht hatte. Dass deren überaus komplizierte, vollkommen unlogische und stellenweise ins Neurotische tendierende Grammatik durchaus einen Hinweis auf den Charakter ihrer Sprecher bietet, sollte ich ja erst viel später begreifen. Freund Georg fand schon damals: „Subjonctif ist krank.“ Ich hingegen lernte begeistert jede grammatische Ausnahme (es waren hunderte), las alles von Zola (geschätzte achttausend Seiten) und beschloss, gleich nach dem Abitur meine grobe Heimat zu verlassen und nach Paris zu ziehen. Wenn Madame Merseburger in Deutschland die große Liebe gefunden hatte, warum sollte mir das nicht umgekehrt gelingen?

Es kam wie immer im Leben: anders. Die Details spielen hier keine Rolle, jedenfalls blieb ich, wo ich war, studierte, arbeitete, hatte andere Dinge im Kopf. Und als ich es nun doch endlich geschafft hatte, saß ich da und brachte außer „Oui“ und „Merci“ und „C’est vrai!“ kein Wort heraus.

Als ich an diesem Abend meine Füße zwischen die fest gespannten Laken schob und mich nicht traute, sie einfach unter der Matratze hervorzuziehen, weil man hier nun einmal so schlief und ich, wenn ich in diesem Land leben wollte, versuchen musste, so zu werden wie sie, fasste ich zwei Entschlüsse. Erstens würde ich einen Sprachkurs belegen und zweitens musste ich so schnell wie möglich eine eigene Wohnung finden. In diesem Moment vermisste ich Georg sehr. „Lass dich nicht fertigmachen von denen“, hatte er zum Abschied gesagt. „Denk immer dran: Auch wir haben große Schriftsteller hervorgebracht.“



Ich lief viel umher in dieser ersten Zeit, trotz der für den Mai ungewöhnlichen Kälte, fuhr kreuz und quer durch die Stadt, verbrauchte unzählige Metrotickets, bis ich verstand, dass sie im Carnet – im Zehnerpack – billiger sind, und versuchte, den Raum dieser Stadt zu ermessen. Louvre, Madeleine, Marais, Palais Royal, Place Vendôme, Croissants bei Fauchon, Tee in der Galerie Vivienne. Ich kaufte neue Schuhe. Natürlich brauchte ich keine, aber mit den Schuhen ist das so eine Sache bei mir. Ich kann schwer widerstehen. Diese jedenfalls waren sehr sexy, schwarz und mit so einem kleinen spitzen Absatz. Kurz, ich verhielt mich wie eine Touristin, und naiv wie ich war, glaubte ich, Paris auf diese Weise kennen zu lernen.

Nach einer Woche war ich bereits fix und fertig. Indem ich ihre Plätze abschritt und Denkmäler besuchte, wollte ich diese Stadt begreifen. Aber Paris wäre nicht die Hauptstadt des Raffinements, wenn sie es einem so einfach machte. Sie stellt es schlauer an. Sie erlaubt es jedem, nach Lust und Laune in ihr herumzuspazieren, sie zu fotografieren und romantische Ansichten mit nach Hause zu nehmen. Ihre Seele aber wird man auf diese Weise nicht entdecken. Er ist flüchtig, der Geist von Paris, und weigert sich, freundlich lächelnd fotografiert zu werden. Was nicht bedeutet, dass man ihm nicht auch in der Warteschlange vor der von I. M. Pei gebauten Glaspyramide des Louvre, der längsten Schlange der Welt, begegnen kann, wenn dort zufällig mal ein Pariser steht und einem mit einem überaus höflichen „Après vous“ den Vortritt lässt.

Die Erkenntnis jedoch, dass es in der Regel nicht ganz so einfach ist, Paris zu verstehen, verdankte ich Gaetano. Er war Italiener, in Rom geboren, Sohn einer Französin und schlug sich in Paris als Fotograf durch. Ich lernte ihn im Metrotunnel unter der Place Charles de Gaulle kennen, nachdem wir etwa eine Stunde lang den gleichen Weg gehabt hatten. Nachdem ich zum dritten Mal hinter ihm eine dieser scheinbar unendlich langen Rolltreppen hinabgefahren war, kam er plötzlich auf mich zu und sagte: „Verfolgen Sie mich etwa?“ Ich lief knallrot an, brachte dann aber ein halbwegs selbstbewusstes „Nein, ich wohne hier“ hervor. „Schade“, sagte er nur. Ich war platt. Es war klar, dass jetzt irgendetwas von mir erwartet wurde. Aber was bloß?

Es war meine erste Begegnung mit diesem kleinen Schlagabtausch, irgendwo zwischen Flirt und Scherz, den der Franzose so liebt. Der nirgendwohin führen, aber unbedingt zu Ende gebracht werden muss. Gewonnen hat, wer das letzte Wort behält. Nur Anfänger scheitern so kläglich auf den ersten Metern wie ich damals. Jeder Franzose hätte mich an dieser Stelle links liegen gelassen, zumal wenn er Pariser gewesen wäre. Sie verachten Touristen nun einmal, jedenfalls solche, die nicht in der Lage sind, eine ordentliche conversation zu führen. Gaetano aber war selbst als Fremder in diese Stadt gekommen, und so hatte ich Glück.

„Was siehst du?“, fragte er mich, als wir ein paar Tage später auf der Aussichtsplattform des Kaufhauses Samaritaine standen. Was ich sah, war ein Meer von schiefergrauen Dächern, in dem wie Bojen die Wahrzeichen der Stadt schwammen. Sacré Cœur. Triumphbogen. Eiffelturm. Am Horizont die Türme von La Défense. „Sehr gut“, sagte er. „Aber weißt du, das...

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