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Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück

Warum wir uns vor dem Tod nicht fürchten müssen

AutorAbt Muho
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783827079091
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Warum wir uns vor dem Tod nicht fürchten müssen Viele Menschen fürchten sich vor dem Sterben, vor Krankheit, Alter und Tod. Der in Japan praktizierende Zen-Meister Muho kann diese Ängste gut nachvollziehen: Der frühe Tod seiner Mutter, den er als siebenjähriges Kind erlebte, hat ihn zutiefst geprägt. In Deutschland geboren und aufgewachsen, führte ihn dieses einschneidende Erlebnis Jahre später zum Zen und schließlich nach Japan. Inzwischen leitet er das tief in den japanischen Bergen gelegene Zen-Kloster Antaiji. Kaum jemand versteht es daher besser, die westliche und die östliche Sicht auf die zentralen Aspekte unseres Lebens zu verbinden: Während sich die meisten Menschen im Westen um ihre Zukunft sorgen und festzuhalten versuchen, was sie an Beziehungen, Erinnerungen und Werten besitzen, konzentriert man sich im Zen ganz auf den gegenwärtigen Moment. Die Kunst des Loslassens beginnt demnach nicht erst am Ende des Lebens, sondern jetzt - wenn wir uns auf diesen Augenblick einlassen. »Es geht um die einzige Frage, die zählt: Bin ich wirklich einverstanden mit dem Leben, wie ich es heute lebe?«

Muho wurde 1968 als Olaf Nölke in Berlin geboren. Er studierte Philosophie, Japanologie und Physik an der Freien Universität Berlin. Während seines Studiums ging er für ein Jahr nach Japan, sechs Monate davon verbrachte er in dem buddhistischen Kloster Antaiji. Später wurde er dort als Mönch ordiniert und 2001 von seinem Lehrer als eigenständiger Zen-Meister anerkannt. Nach seiner Ernennung lebte Muho zunächst als Obdachloser in Ôsaka und leitete dort eine Zen-Gruppe. Nach dem Tod seines Meisters wurde er zu dessen Nachfolger in Antaiji berufen, wo er viele Jahre tätig war. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Ôsaka.

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Leseprobe

Die Hälfte des Lebens

Geburt, Krankheit, Alter, Tod –

vertrödel sie nicht, deine kurze Zeit hier!

Sawaki Kodo

Jeder Mensch stirbt. Selbst ein Kind weiß das schon, doch so mancher scheint es auch im hohen Alter noch nicht akzeptieren zu können.

Wir machen uns Sorgen um das, was nach dem Tod kommen könnte, und vergessen dabei, das Leben zu leben, solange wir es haben. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wer kann das wissen? Aber wenn es so weit ist, werden wir es schon herausfinden. Früher oder später werden wir alle in den Besitz der Antwort kommen. Wir können also gespannt sein!

Die beste Nachricht für das Hier und Jetzt aber lautet: Es gibt ein Leben vor dem Tod.

Selbst wenn es, wie viele Buddhisten glauben, ein Leben nach dem Tod geben sollte, dann wäre ja auch das nur ein weiteres Leben vor dem Tod. Und wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann muss es auch einen Tod nach dem nächsten Leben geben.

Wenn wir daher die Tage dieses Lebens damit verbringen, über ein Leben nach dem Tod zu phantasieren, von dem wir noch nicht einmal sicher sein können, ob wir es erleben werden, werden wir dann nicht auch das nächste Leben (falls es das tatsächlich geben sollte) vergeuden mit Tagträumereien über das übernächste Leben? Es ist so wie mit einem, der nie etwas zustande bringt, weil er sich ständig sagt: »Noch ist nicht aller Tage Abend. Wenn ich auch heute nicht mehr alles schaffe – morgen ist auch noch ein Tag. Und wenn es in diesem Leben nicht mehr passieren sollte, dann warte ich eben auf das nächste.«

Wir kennen es alle aus eigener Erfahrung: Wenn aus morgen heute wird, verschiebt man das ungelebte Leben einfach um einen weiteren Tag in die Zukunft. Und immer so weiter.

Doch der einzige Tag, den ich wirklich leben kann, ist der heutige. Da hilft mir auch kein nächstes oder übernächstes Leben. Das Leben, das ich heute nicht lebe, wird ewig ungelebt bleiben. Das Leben, das ich in diesem Augenblick lebe, ist das einzige Leben. Es gibt allein das Jetzt. Nur wenn ich diesen Tag so lebe, als wäre er mein letzter, werde ich auch den nächsten zu leben wissen.

Und doch, der Tod ist immer da. Ich sterbe, Sie sterben, jeder stirbt. Und das nicht irgendwann, sondern bereits jetzt, in diesem Moment.

Ob wir es wollen oder nicht, das Sterben hat bereits begonnen, und es existiert kein einziger Augenblick, der uns nicht mit dem Tod konfrontieren würde.

Wie wir über den Tod nachdenken, spiegelt oft die Einstellung wider, die wir gegenüber dem Leben einnehmen. Wie schön könnte doch alles sein, sagen manche, gäbe es nur das Altern nicht, die Krankheit, den Tod. Die Medien machen es uns leicht, ans ewige Leben zu glauben. Jeder Tag verspricht eine neue Erfahrung, jedes Erlebnis wird zum aufregenden Event, und wer sich richtig ernährt, wer joggt und natürlich nicht raucht oder trinkt, wird für immer jung bleiben.

Doch je mehr ein Mensch das Leben bejaht, desto mehr wird er sich vor dem Tod fürchten. Unsere Tage sind gezählt, auch wenn viele versuchen, das Unabwendbare so lange zu ignorieren wie nur möglich. »Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.« Wahrscheinlich wird es nicht einmal Woody Allen gelingen, damit durchzukommen.

Im Alltag ist der Tod oft unsichtbar. Wir verbannen ihn auf die Intensivstationen der Krankenhäuser oder in die Zimmer der Pflegeheime, die wir an den Rand der Städte bauen. In den Nachrichten erreicht uns das Sterben im Sekundentakt: Hundert Tote in China, zwanzig in der Türkei, drei oder vier auf der Autobahn. Unfälle, Attentate, Naturkatastrophen. Die Toten füllen die täglichen Schlagzeilen, aber das betrifft uns nicht. Die anderen sterben, nicht wir. Damit können wir leben.

Anders verhält es sich, wenn ein uns naher Mensch stirbt. Sein Tod geht unter die Haut. Wir fühlen uns, als klaffte ein Loch in unserer Brust. Mit der geliebten Person stirbt auch ein Stück von uns. Wir werden nie mehr dieselben sein wie vorher. Wir beginnen, über unser eigenes Leben zu reflektieren, und auf einmal kommt es uns vor, als hätten wir das größte Stück des Weges bereits zurückgelegt. Der eigene Tod rückt in den Blick und wir werden uns unserer Sterblichkeit bewusst. Was immer so weit weg schien, ist auf einmal ganz nah gerückt.

»Bis sie vierzig sind, halten viele das Sterben für eine schlechte Angewohnheit alter Leute, die sie selbst nichts angeht«, schrieb der Psychiater Oswald Bumke zu Weihnachten 1943 in einem Brief an seinen Sohn, der im Krieg kämpfte. Während ich diese Sätze schreibe, bin ich siebenundvierzig Jahre alt. Die Hälfte des Lebens? Letztlich bleiben die Jahre unbegreiflich in ihrem Vergehen. Als ich am Abend vor meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag zurückblickte auf die vergangenen zwölf Monate, konnte ich kaum glauben, wie sehr sich die Welt verändert hatte. Im Herbst war die Berliner Mauer gefallen, die Wiedervereinigung stand vor der Tür. Und auch ich befand mich an einem Wendepunkt in meinem Leben, denn im Frühjahr würde ich zum Studium nach Kyoto fahren. Überall gab es so viel zu erleben, so viel zu lernen. Auf jede Enttäuschung folgte eine neue Liebe. Ganze Horizonte öffneten sich. Jedes Jahr war ein zusätzliches, ein geschenktes Jahr. Ein Jahr mehr. Nichts schien unmöglich. Was konnte man nicht in einem Jahr alles an Erfahrungen sammeln! Warum nicht einfach auf einem Schiff anheuern und um die Welt fahren?

Irgendwann ändert sich diese Perspektive. Spätestens dann, wenn man zum ersten Mal ans eigene Ende denkt. Dann ist ein Jahr nicht länger ein Jahr mehr, sondern ein Jahr weniger. Dann nimmt man das Schwinden der Möglichkeiten wahr. Was ich vor zehn Jahren noch konnte, kann ich nun nicht mehr. »Noch nie war ich so alt wie heute«, denkt man. Die Gedanken gehen zurück in die Vergangenheit, in die Jugend, die verloren scheint, oder eilen voraus in die Zukunft, in der man noch älter sein wird.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass mir beim Lesen plötzlich die Buchstaben seltsam verschwommen erschienen. Stimmte da etwas mit dem Buchdruck nicht, oder war es zu dunkel im Zimmer? Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich mir von nun an beim Lesen besser eine Brille aufsetzen sollte – etwas, was ich bis dahin tatsächlich nur für eine schlechte Angewohnheit alter Leute gehalten hatte.

Das war nur der Anfang. Hexenschuss, steife Schultern, Gelenkschmerzen und all die anderen Wehwehchen, über die ich Onkel und Tanten bei Familientreffen so oft hatte klagen hören, durfte ich nun am eigenen Leib erfahren. Als ich vor einigen Monaten mit Nierensteinen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, glaubte ich für ein paar Stunden sogar, mein Ende sei gekommen. Zum Leidwesen meiner Frau war ich am nächsten Tag wieder ganz der Alte.

Doch es hört nicht auf. An die Telefonnummern alter Studienfreunde kann ich mich zwar problemlos erinnern, aber neue Namen behalte ich nur noch schwer. Wenn mich jemand auf der Straße grüßt, mit dem ich vor zwei Monaten ein angeregtes Gespräch geführt habe, weiß ich manchmal nicht, wer vor mir steht.

Natürlich bringt auch ab vierzig noch jeder Tag neue Erfahrungen. Aber zumindest ein wenig gleicht das Gehirn dann einer Computer-Festplatte, die die Grenze ihrer Speicherfähigkeit erreicht hat. Für jede neue Information muss eine alte gelöscht werden, die Software läuft nicht mehr so schnell wie früher, und jeder Versuch eines Updates kann zum Absturz des Systems führen.

Dann fühlt man sich bisweilen, als sei man in der zweiten Halbzeit eines Fußballspiels angelangt. Das Spiel ist längst entschieden, es gibt nichts mehr zu gewinnen. Die erste und bessere Hälfte des Lebens ist vorüber. Jeder weitere Tag bringt einen dem Schlusspfiff näher. Eine beängstigende Vorstellung. Noch beunruhigender wird sie, wenn man auf einmal feststellt, dass ein Jahr nicht mehr so lang zu sein scheint wie früher. Natürlich hat es immer noch seine 365 Tage. Aber seltsamerweise fühlt es sich sehr viel kürzer an.

Jeder kennt das Phänomen, dass sich der Weg ans Ziel einer Reise länger anfühlt als der Weg zurück. Nach einem Ausflug zum Berggipfel erinnern wir uns deutlicher an den Aufstieg als an die Rückkehr ins Tal. Ich glaube, das liegt daran, weil wir auf dem Hinweg mehr und anders wahrnehmen. Alles ist neu, und daher sind unsere Sinne geschärft. Wir wollen uns keine Einzelheit entgehen lassen.

Auf dem Weg zurück hinterlassen die Dinge einen schwächeren Eindruck, denn wir kennen sie bereits. Statt einer Premiere haben wir es nur noch mit einer Wiederholung zu tun, die nicht mehr unsere volle Aufmerksamkeit genießt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Älterwerden. Allmählich lernt man, seine Erfahrungen in Schubladen einzuordnen. Hübsch beschriftete Fächer, in denen jeder Eindruck seinen Platz findet. Wir bekommen Routine im Umgang mit der Welt, was uns im Alltag zwar entlastet, doch dem Leben auch seinen Zauber nimmt. Wenn sich die verschiedenen Schubladen langsam gefüllt haben, dann dauert es nicht mehr lange, bis wir ganze Tage abhaken, als seien sie nie passiert: »Heute nichts Besonderes«. Aufstehen, Zähne putzen, zur Arbeit gehen, und abends das Gleiche im Fernsehen wie immer … Das sind die Tage »auf dem Rückweg« des Lebens. Man erlebt sie nicht mehr. Man verlebt sie bloß. Kein Wunder, wenn ein Jahr dann zu etwas Flüchtigem zusammenschrumpft, das kaum Erinnerungen hinterlässt.

Das Dahinschwinden der Zeit gibt uns das Gefühl, alt zu sein. Aber müssten wir nicht viel eher sagen: »Ich werde nie wieder so jung sein wie heute«? Und versuchen, noch einmal neugierig wie ein Kind zu sein?

Als Kind denkt man noch...

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