Vorwort
Was ist nur los mit Iris?
»Sie ist einfach in der Entwicklung ein bisschen hinterher«, sagte der Arzt beim »Mjölkdroppen«, der gemeinnützigen Organisation zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit auf dem Lande. Doch dieser Arzt war ohnehin mehr an Blinddärmen und anderen Krankheiten als an der psychischen Befindlichkeit eines Kindes interessiert.
»Sie ist geistig behindert«, sagten andere. »Vielleicht hat sie ja auch eine Psychose. Gebt sie in eine Anstalt, da wird man ihr schon Manieren beibringen.«
»Sie kann ein totes Pferd auf die Palme bringen«, sagte ihre geplagte Mutter.
»Eine Tracht Prügel würde ihr nicht schaden«, sagte ihr Onkel.
Doch Iris’ Vater wusste, dass seine Tochter nicht geistig behindert war. Zwar konnte man oft keinen Kontakt zu ihr bekommen, und sie war störrisch und fast völlig lernunfähig. Was sie sprach, war unzusammenhängend, monoton und unverständlich. Sie nässte ein, verweigerte die Nahrung, schrie meistens, biss kleine Kinder und machte niemals, was man ihr sagte, ja, schien nicht einmal zu verstehen, was man sagte. Dann wieder konnte sie stundenlang allein dasitzen und nur hin und her schaukeln.
Aber warum war sie dann imstande, während seltener, kurzer Augenblicke Probleme zu lösen, die nicht einmal die Erwachsenen bewältigen konnten, und warum beherrschte sie so viele komplizierte Wörter, auch wenn sie sie nur ein einziges Mal gehört hatte? Warum vermochte sie die Nachbarsfrau zu trösten, die soeben erfahren hatte, dass ihr Sohn gestorben war? Wie schaffte sie es ständig und mit so einfachen Mitteln und so großer Präzision, ihre Mutter, ihre Onkel und (fast) auch noch tote Pferde auf die Palme zu bringen? Warum wurde sie niemals überfahren, obwohl sie immer auf das Auto der Nachbarn zurannte? Und wieso verhielt sie sich einerseits wie ein unwissendes Kleinkind und gleichzeitig wie eine ausgefuchste Betrügerin, die die kompliziertesten Strategien entwickelte, um ihre unehrenhaften Ziele zu erreichen?
Niemand wusste Rat. Aber Iris’ Vater gab nicht auf. Mit seiner Liebe schützte er sie vor den anderen und vor sich selbst. Mit unglaublicher Geduld erklärte er ihr die Welt und zeigte ihr wieder und wieder, was andere Kinder von selbst verstanden und lernten.
Und als Iris zwölf Jahre alt war, entschied sie sich schließlich, aus ihrer autistischen und unkommunikativen Welt herauszukommen und »normal« zu werden.
Mit viel Mühe begab sie sich in die »Normale Welt« und entdeckte mit dem ganzen Denkvermögen einer intelligenten Zwölfjährigen alle Besonderheiten dieser Welt, die allen anderen selbstverständlich und natürlich erschienen, für Iris aber Rätsel bedeuteten, die entschlüsselt werden, Verhaltensweisen, die nachgeahmt, Strategien, die erdacht werden mussten.
Gleichzeitig war ihr das »Primäre« nach wie vor voll bewusst, das also, was gilt, wenn nichts anderes gilt – bevor unsere Erziehung und unsere Kommunikation es uns vergessen lassen.
Als Iris ein Kind war, wusste man nichts über Autismus, und es wurde auch nie eine wirkliche »Diagnose« für ihren Zustand gestellt. Als Erwachsene dann stieß Iris auf Beschreibungen des Autismus und erkannte darin vieles von ihrem eigenen Leben wieder. Plötzlich konnte sie eine neue Dimension in ihren Erlebnissen erkennen und diese ganz anders verstehen. Mit einem Mal sah sie den Teil ihrer Kindheit, von dem sie in den ersten beiden Kapiteln dieses Buches erzählt, aus neuer Perspektive. Im Kapitel »Die unbegreifliche Welt, in der Iris lebte« formuliert sie die Geschichte ihrer Kindheit im Lichte dieser neuen Erkenntnis um.
Als Iris später etwas über Außerkörperliche Erfahrungen und Nahtod-Erlebnisse erfuhr, konnte sie dann schließlich weitere Aspekte ihrer Kindheit benennen, Erlebnisse, für die ihr bis dahin Worte gefehlt hatten und von denen sie als Kind meinte, dass jeder Mensch sie erlebe. Wieder einmal musste sie die Geschichte ihrer Kindheit neu formulieren (s. Kapitel »Außerhalb des Normalen, im Richtigen«).
Es ist Iris nicht gelungen, »normal« zu werden. Aber sie wurde so viel mehr. Sie hat sich dem »Normalen Leben« so weitgehend angepasst, dass niemand, der ihr heute begegnet, noch glauben kann, dass sie als Kind solche Schwierigkeiten hatte. Und sie besitzt ein so weitreichendes Verständnis für das, was in den Menschen und zwischen ihnen geschieht, dass sie als Erwachsene vielen Jugendlichen mit Problemen helfen konnte und seit zwanzig Jahren als gesuchte und erfolgreiche Beraterin für Leute arbeitet, die Menschen mit Behinderungen betreuen. Darüber hinaus hält sie Vorträge und leitet Studientage und Seminare über Kommunikation, intuitive Pädagogik, Majoritätsmissbrauch, fehlgeleitetes Denken und vieles andere, und dies nicht nur in Schweden, sondern auch im übrigen Europa und in Russland.
Heute wissen wir viel mehr über Autismus als Ende der 1940er Jahre. Wir wissen, dass sich der Autismus sowohl von der Psychose als auch von der Intelligenzminderung oder »geistigen Behinderung« unterscheidet und dass die Intelligenz bei Autisten oft sehr hoch sein kann. Wir wissen, dass es sich bei Autismus um ein verringertes Kommunikations- und Sozialisationsvermögen handelt. Und wir wissen, dass Menschen mit Autismus Seh-, Hör- und Gefühlseindrücke anders und manchmal auf schmerzhafte Weise empfinden können.
Aber wie erleben autistische Personen ihre Umwelt? Warum reagieren sie so, wie sie es tun? Was sehen sie? Was nehmen sie auf? Darüber wissen wir nicht viel, und das liegt einfach daran, dass es ihnen schwerfällt, zu kommunizieren. Doch gibt es einige Bücher von sogenannten Hochfunktionalen Autisten, die Einblick in die autistische Welt ermöglichen. Und da kommt nun Eine andere Kindheit, wo Iris Johansson ihre Welt wortgewandt, nuancenreich und scharfsinnig beschreibt. Mit den verbalen Fähigkeiten, die sie sich als Erwachsene angeeignet hat, erklärt sie die ursprünglich wortlosen, begrifflosen Erlebnisse ihrer Kindheit, manchmal kristallklar und manchmal mit impressionistischer Ausdrucksfülle.
Als Kind war Iris nicht klar, dass Menschen ein Inneres besitzen. Sie sah menschliche Gefühle lediglich als etwas an, das »in die Atmosphäre« gekommen war und dort sehr schön aussah. Besonders schön zeigten sich ihr die negativen Gefühle, und deshalb liebte sie es, andere zu provozieren. Wenn diese dann wütend wurden, freute sie sich und genoss das schöne Spiel von Farben und Formen. Als sie etwas älter war, lernte sie dann, das, was sie von den Gefühlen anderer sah, zu interpretieren, und zwar so tiefgehend und exakt, dass einem dabei unheimlich werden konnte.
Iris erfasste auch Laute synästhetisch, das heißt, sie hörte sie nicht nur, sondern sah sie auch als Farben und Formen.
Wenn Iris dasaß und hin und her schaukelte, dann geschah das oft, um nach »Außen« zu kommen, um den »Iriskörper«, wie sie es nennt, und die »Normale Welt« zu verlassen und in die »Richtige Welt« zu kommen. Wenn sie im Außen war, dann war sie ganz. Dort verstand sie die Welt. Sie konnte sich zwischen den Menschen, den Tieren und den Häusern auf dem Hof bewegen, sie erkannte, wie alles zusammenhing, konnte – oder wollte – es aber nicht in Worte fassen. Sie sah ihren eigenen Körper von außen, wie er da still und abwesend schaukelte. Das da war Iris, aber sie war es nicht richtig.
Ihrem Vater erzählte sie von ihren Spielen und Erlebnissen, wenn sie im Außen war, und er betrachtete das als ihre innere Fantasiewelt.
Ich selbst bemerkte, als ich Iris kennenlernte und sie von ihrem Außen erzählen hörte, dass ihre Beschreibung manchmal bis aufs kleinste Detail denen glich, die Menschen mit Außerkörperlichen Erfahrungen machten. Vor allem ihre wortlose Kommunikation mit ihren beiden »Seelenverwandten« gleicht auf erstaunliche Weise dem, wovon eine der größten Autoritäten in Sachen Außerkörperliche Erfahrung, Robert Monroe, in Über die Schwelle des Irdischen hinaus und seinen anderen Büchern berichtet. Somit kann das Außen, von dem Iris spricht, nicht nur ihrer eigenen völlig privaten Fantasie entstammen, sondern es trägt viele gemeinsame Züge mit den Erlebnissen anderer, nicht autistischer und nicht psychotischer Menschen. Hier ist nicht der richtige Ort, um länger auszuführen, was eine Außerkörperliche Erfahrung ist, aber das von Iris benannte »Außen« besitzt einen inneren Zusammenhang und eine innere Logik, und wenn sie im Außen ist, dann erlangt sie wertvolles Wissen sowohl über das »Primäre« als auch über die »Normale Welt«, das sie wahrscheinlich auf keine andere Weise hätte erlangen können.
Darüber hinaus gewährt dieses Buch scharfsinnige und humoristische Einblicke in das Leben auf einem Bauernhof und in einer Großfamilie in den 1940er- und 1950er-Jahren mit seiner Mischung aus Bigotterie und vorbehaltloser Liebe, und es schildert interessante und ergreifende Lebensschicksale.
Am Ende des Buches hat Iris ein paar der Fragen gesammelt, die ihr im Laufe der Jahre von Eltern autistischer Kinder gestellt worden sind und die sie in ihrer einzigartigen Fähigkeit, das Dasein eines Autisten zu formulieren und zu beschreiben, beantwortet.
Iris hat uns viel zu sagen: darüber, was es heißt, Autist zu sein, und auch darüber, was es bedeutet, ein »normaler« Mensch zu sein, wie Kommunikation zwischen Menschen funktioniert und nicht funktioniert, und wie man sein Lebensschicksal zum Besseren wenden kann. Nicht ohne Grund ist Iris’ Kalender auf zwei Jahre im Voraus mit Vortragsterminen und Seminaren...