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Das Mädchen mit der Satinhose
Unauslöschlich jener Tag, an dem Christine und ich uns zum ersten Mal begegneten. Ich muss nur die Augen schließen, und ich fühle mich wie im Rausch. Ich hatte mich in die Gesellschaft der Touristenmassen begeben, die man bereits am frühen Vormittag auf der Uferpromenade des Hamburger Hafens antrifft. Ich trottete im Schneckentempo pummeligen, Softeis vertilgenden Mädchen im Teenageralter hinterher. Bis ich ausscherte, um zu verharren. Und mich im Spiel der glitzernden Wogen am Horizont zu verlieren, an dem die Hafenkräne kaum noch zu erkennen waren, im grellen Gegenlicht.
Es war warm. Ungewöhnlich warm für einen Tag in der Mitte des März. Den Schal, den ich noch gebraucht hatte, als ich frühmorgens auf die S-Bahn zum Münchner Flughafen wartete, hatte ich in der Reisetasche versenkt, die ich hinter mir herzog. Den Mantel trug ich offen. Ich genoss den lauen Wind, der meine Kleidung durchwehte. Und ein damit einhergehendes Gefühl von aufkeimender Schwerelosigkeit. Allmählich vergaß ich, warum ich hier war.
Der Rausch setzte sich fort, auch dann, als die schroffen Glasfronten vor mir auftauchten, hinter denen sich das Büro der Redaktion verbarg, in dem ich künftig arbeiten sollte. Reinhardt, der Chefredakteur, war ein alter Kollege. Ein Münchner, wie ich. Der mich begrüßte, wie sich manchmal Leute begrüßen, wenn sie in der abgelegenen Fremde aufeinandertreffen, mit überschwänglicher Herzlichkeit.
Ich verbrachte den Rest des Vormittags in seinem Zimmer auf einer charakterlosen, aber sehr gemütlichen IKEA-Couch lümmelnd, kippte abwechselnd San Pellegrino und lauwarmen Automatenkaffee, während ich mit Reinhardt unbekümmert Branchenklatsch tauschte, als wäre das, was vor uns lag, ein launiger Urlaubstrip. Ab und zu steckten Leute ihre Köpfe durch die Tür. Manche wagten sich in den Raum, behielten aber währenddessen die Türklinke in der Hand und verschwanden schnell wieder. Reinhardt hatte den Posten erst vor ein paar Wochen übernommen. Und man fremdelte noch.
Und dann kam sie, diese ältere Frau. Blieb länger als all die anderen zuvor. Verbreitete ihren heiteren Kobold-Charme. Ging wieder. Und blieb dennoch, in meiner Fantasie, denn ich hatte plötzlich das mich selbst befremdende Bedürfnis, mit dieser Frau zu schlafen.
Christines Erscheinung war die einer hübsch gebliebenen Blondine um die Mitte fünfzig, deren Körper dem Alter kaum hatte Tribut zahlen müssen, bis auf die eine oder andere Stelle. Manches war rundlicher geworden. Voluminöser. Man konnte diesen Körper immer noch schön finden. Immer noch anziehend. Aber es schien keinen Sinn zu machen, solange man Anfang vierzig war, einigermaßen passabel aussah und bestätigen konnte, dass sich der zunehmende Altersunterschied in dieser Lebensphase zu Frauen unter dreißig eher positiv auf deren Wertschätzung auswirkt.
Zunächst erklärte ich mir diesen Tagtraum als hormonelle Fata Morgana, wahrscheinlich eine Folge der morgendlichen Ozoneinwirkung. Bis es mir gelang, dieses Gefühl zu akzeptieren als das, was es war: weniger Lüsternheit als eher eine sonderbare, aus den Untiefen meiner Seele heraufsteigende Sehnsucht nach Nähe zu dieser Frau. Ich schämte mich des Blicks, den ich auf Christine geworfen hatte, der ein anzüglicher gewesen sein mag. Aber es war kein geiler Blick. Eher ein prüfender. Konnte ich diesen Körper mögen? Anfassen? Lieben?
Und dann vergingen drei Monate, bis ich Christine wiedersah. Inzwischen war ich nach Hamburg gezogen. Und fühlte mich paradoxerweise beengt in der weitläufigen Umgebung eines Großraumbüros, während ich vor einem kahlen Schreibtisch saß, Zeitungen las und versuchte, die Tatsache zu ignorieren, dass man mich von allen Seiten beobachtete wie ein exotisches Tier.
Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben mit Leuten aus der Yellow-Branche zu tun. Einige wenige bestätigten meine schlimmsten Befürchtungen, die anderen fand ich akzeptabel, manche sogar sympathisch. Ich war unschlüssig in der Frage, ob ich es gut fand, dass der überwiegende Teil der Belegschaft weiblich war und kaum älter als fünfunddreißig.
Den ersten Vorstoß in meine Richtung wagte ein klein gewachsenes Mädchen mit draller Figur, das sich erkundigte, ob ich schwul sei. Dann folgt der Rest. Ich lernte sie alle kennen in den nächsten Tagen, die ganzen Frauen, die stillen und die lauten, die schönen und die unscheinbaren, die trampeligen und die feinsinnigen. Jede wollte mit mir reden, telefonieren, vor der Tür rauchen, Kaffee trinken, Mittagessen, Abendessen, sich betrinken, die meisten wollten sich wirklich nur betrinken, andere letztendlich das, was nach dem Betrinken kommt.
Es sah so aus, als wäre ich im Paradies. Aber es sah eben nur so aus. Die Frauen schienen um mich zu kämpfen, aber es ging ihnen nicht um mich. Es ging ihnen um meine Aufmerksamkeit. Mein Urteil. Es ging um die vorderen Plätze in der Hackordnung der Mädchen.
Und ich fühlte mich einsam.
Sooft ich konnte, verdrücke ich mich in den Gebäudetrakt, in dem der Lärm des Flügelschlagens kaum noch zu hören war. Ich redete mir ein, dass ich Reinhardt besuchen wollte, blieb dann aber hängen. In seinem Vorzimmer. In Christines Reich.
Christine war die einzige Frau in der Redaktion, die keine Aufmerksamkeit von mir wollte. Sondern mir Aufmerksamkeit schenkte. Und Zeit. Und Kaffee.
Ich revanchierte mich, indem ich den Skater Boy auf dem Foto über Christines PC neben dem Fenster bemerkte. Ich sagte, dass er mir gefällt, dieser Skater Boy. Christine bekam rote Bäckchen. Der Skater Boy war David. Christines Sohn.
Ich hatte auch aufgehört, an Sex zu denken, wenn ich Christine begegnete. Ich dachte an diese Stadt, die sie so sehr liebte. Und in die ich mich zu verlieben begann, solange Christine sie mir schilderte wie einen Film, den es nicht mehr gab. Aber es gab Relikte, Plätze, Lokale, Kinos und eben Christine, die Protagonistin, jenes Mädchen aus Göttingen, das sich aufgemacht hatte, um der Enge der Provinz zu entfliehen.
1970 war das gewesen. Sie war neunzehn. Sie zog los, mit Mutters Stullen und dem weißen Beatles-Album im Gepäck. Ging nach London. Und kehrte zurück, nach einem Jahr, in die Heimat, nach Hamburg, wo sich Deutschland am ehesten wie London anfühlte, so britisch, so wild.
Christines Hamburg war ein nostalgischer Ort. Ein Ort für Kleinbürger, Arbeiter, Künstler, Zuhälter, schräge Vögel, die in Vierteln lebten, in denen mittlerweile gut situierte Leute, brave Studenten und Touristen die Sortimente von Bio-Supermärkten und Weinhandlungen durchstöberten. Ein Ort der kleinen Händler und der handwerklichen Betriebe, der Spielhöllen, der düsteren Kneipen, in denen harte Kerle ihre Motorräder vor dem Tresen parkten, sich prügelten, ihre Freundinnen liebten, in den dreckigen Kabinen der Toiletten.
Ein Ort, an dem ein entwurzeltes Mädchen lebte, das wenig besaß und wenig brauchte außer einer lilafarbenen Satinhose und einem Passautomaten, in dem es festzuhalten versuchte, was man nicht festhalten konnte: ein junges Leben.
Das Mädchen hatte kein richtiges Zuhause mehr. Es besaß eine alte Matratze, ein paar Bücher, einen Plattenspieler. Bewohnte mit Leuten, die es kaum kannte, eine schäbige Bude im heute szenigen und damals proletarisch geprägten Schanzenviertel. Die meiste Zeit verbrachte es in seiner Lieblingskneipe. Warf Kleingeld in die Jukebox und tanzte, ekstatisch, vor sich hin träumend, den Zustand genießend, dass es noch nichts ahnte von dem, was kommen würde, die Enttäuschungen, die Trostlosigkeit der darauffolgenden Jahre.
Mir schien, als ob Christine dieses Mädchen vermisste. Und immer noch haderte, mit sich, mit dem, was aus dem Mädchen geworden war.
Auch ich vermisste dieses Mädchen. Manchmal. Zumal das Mädchen immer noch da zu sein schien. Immer dann, wenn Christine lachte, in ihrer besonderen Art, knödelig, laut, hemmungslos, explosiv. Was sie ziemlich häufig tat.
Es schien sich etwas anzubahnen, zwischen mir und diesem Mädchen, denn in den nächsten Tagen trat es an mich heran, holte mich zu sich, in seine Welt. Christine begann mich einzudecken mit Büchern und DVDs, alles Porträts und Dokumentationen, alles Puzzlestücke, die am Ende nur ein zweidimensionales Bild ergaben, aber immerhin: das Bild einer märchenhaften Jugend.
Ich ließ mich mit Vergnügen durch die Menge treiben, auf dieser Party der Vergangenheit, begegnete Menschen, von denen die meisten nicht mehr da waren. Rockstars, Künstler, Boxer, Ganoven. Alles Außenseiter, Exzentriker, Durchgeknallte, Desperados. Ich hielt Ausschau nach Bekannten. Die ich nicht fand. Und auch nicht vermisste. Kein Rudi Dutschke. Kein Daniel Cohn-Bendit. Keine Alice Schwarzer. Keine Petra Kelly. Keine einzige der Figuren, von denen ich immer dachte, sie seien wichtig für Christine. Oder: für Leute in ihrem Alter.
Langsam zerbröckelte mein Bild von der Generation der unmittelbar nach dem Krieg Geborenen. Wo waren sie nur geblieben, die ganzen Achtundsechziger? Die Debattierer? Die Politisierer? Die Moralisierer? Was war aus der Selbstgerechtigkeit früherer Tage geworden? Aus dem Gutmenschentum, den Weltverbesserungsideen, den militanten Phrasen, der Humorlosigkeit, den öligen Patschulidüften und den welken Zauselbärten?
Ich dachte an Gerhardt, einen Freund, den einzigen, den ich hatte, in Christines Generation. Und den ich schätzte, unter anderem deshalb, weil er immer betonte, kein Achtundsechziger zu sein. Eher sei er ein Neunundsechziger. Der sich durchaus beteiligt habe, an den Ritualen der Achtundsechziger, an den Demonstrationen, den Kundgebungen, den Vollversammlungen, den Sit-ins, den Aktionen, den...