Erstes Kapitel Molly
Immer wenn ich nicht in der Schule war, war ich mit unserer Scotchterrier-Hündin Molly zusammen. Wir schoben Wache auf dem weitläufigen, kurzrasierten Rasen hinter dem Haus meines Vaters, des Generals, auf der Militärbasis Fort Hamilton im Südosten von New York, in Brooklyn. Oder vielmehr: Molly bewachte das Haus, und ich bewachte Molly.
Leider gab es auf dem gründlich in Schuss gehaltenen Militärstützpunkt für einen Scottie, der schließlich für die Fuchs- und Dachsjagd gezüchtet wurde, kaum Beute. Jeder Zentimeter Rasen war wie mit der Nagelschere geschnitten, Eindringlinge wurden nicht geduldet. Da unser Hund dennoch das eine oder andere Eichhörnchen witterte, wir aber keinen Zaun ziehen durften (das Haus gehörte der Army), war Molly an einen dicken, tief in den Boden gerammten Pfahl gekettet. Ich sah ihr zu, wie sie mit ihrer feuchten, schwarzen Nase schnuppernd und mit aufgestellten, sich ständig drehenden Ohren die Gegend abscannte. Genau wie ich sehnte sie sich nach den Geräuschen und Gerüchen der Tiere in weiter Ferne.
Bis sie eines Tages plötzlich losschoss wie eine abgefeuerte fellbesetzte Kanonenkugel.
Sie zog den einen halben Meter langen Pfahl mitsamt der Kette hinter sich her, knurrte außer sich vor Wut und durchbrach die Eibenhecke hinter dem Backsteinbungalow. Ich konnte gerade noch sehen, was sie da jagte: ein Kaninchen!
Auch ich war außer Rand und Band. Nie zuvor hatte ich ein Wildkaninchen gesehen. Niemand hatte jemals von einem Wildkaninchen auf Fort Hamilton gehört! Ich musste es mir aus der Nähe betrachten. Doch Molly hatte das Kaninchen quer durch den Garten vor das Haus gejagt, und meine kleinen Zweitklässler-Füße, die in steifen Lacklederschuhen steckten, trugen mich nicht halb so schnell wie Molly ihre vier voll ausgewachsenen, krallenbewehrten Pfoten.
Das tiefe Knurren eines Scotchterriers klingt zu bedrohlich, als dass man es ignorieren könnte. Unverzüglich kam meine Mutter mit einem der Soldaten, die ihr zur Hand gingen, aus dem Haus gelaufen. Ein Wald von Beinen rannte in wildem Durcheinander hinter unserer wütenden Terrierhündin her. Natürlich schafften die Erwachsenen es nicht, Molly einzufangen. Sie hatte sich mittlerweile von Kette und Pfahl befreit. Sie war von der Leine. Ob sie nun das Kaninchen fangen würde oder nicht, sie würde so schnell nicht zurückkommen, vielleicht nicht einmal vor Einbruch der Dunkelheit. Erst wenn ihr danach war, würde sie wieder vor der Tür stehen und mit einem kurzen Kläffen Einlass begehren. Nur zu gerne wäre ich hinter ihr hergerannt, doch nicht um sie aufzuhalten. Ich wollte mit ihr davonlaufen. Ich wollte das Kaninchen noch einmal sehen. Ich wollte erkunden, wie es nachts in der freien Natur roch. Ich wollte andere Hunde treffen, mit ihnen ringen und sie jagen, meine Nase in Erdlöcher stecken und erschnuppern, wer darin lebte. Ich wollte die Schätze entdecken, die im Erdreich verborgen waren.
Viele kleine Mädchen vergöttern ihre älteren Schwestern. Mir ging es nicht anders. Nur dass meine ältere Schwester eine Hündin war. Hilflos stand ich da, in dem Rüschenkleidchen und den Spitzensöckchen, in die meine Mutter mich gesteckt hatte. Ich wollte sein wie Molly: wild. Unerschrocken. Nicht zu halten.
Ich sei, so sagte meine Mutter, nie ein »normales« Kind gewesen.
Immer wieder erzählte sie von jenem Tag, an dem mein Vater und sie mich zum ersten Mal in den Zoo mitnahmen. Ich hatte gerade laufen gelernt, riss mich von ihrer Hand los, und schon war ich im Gehege der größten und gefährlichsten Tiere von allen. Die Nilpferde, diese 1500 Kilogramm schweren Brocken, hätten mich nur gutmütig angestarrt statt zuzuschnappen. Sie sind auch nicht auf mir herumgetrampelt, und irgendwie schafften es meine Eltern, mich unversehrt wieder aus dem Gehege herauszubekommen. Meine Mutter hat sich von diesem Vorfall nie ganz erholt.
Ich fühlte mich schon immer zu Tieren hingezogen, weit mehr als zu Kindern, Erwachsenen oder Puppen. Ich beobachtete lieber meine beiden Goldfische Goldie und Blackie und spielte mit meiner heißgeliebten, vom Pech verfolgten Schildkröte Ms. Yellow Eyes. (Meine Mutter, die aus dem Süden stammte, hatte mir lange vor Aufkommen des Feminismus das respektvolle »Ms.« für alle weiblichen Wesen beigebracht.) Wie die meisten der in den 50er Jahren als Haustier gehaltenen Schildkröten bekam auch Ms. Yellow Eyes von falscher Ernährung einen weichen Panzer und starb. Meine Mutter wollte mich mit einer Babypuppe trösten, doch die ließ ich in der Ecke liegen. Als mein Vater mir dann einen ausgestopften jungen Kaiman aus Südamerika mitbrachte, zog ich ihm die Kleider der Puppe an und fuhr ihn im Wägelchen herum.
Obwohl ich ein Einzelkind war, habe ich mich nie nach Geschwistern gesehnt. Ich brauchte keine anderen Kinder um mich herum. Die meisten Kinder fand ich zu laut und wuselig. Nie hielten sie lange genug still, um einer Hummel zuzuschauen. Sie rannten durcheinander und verscheuchten die Tauben, die auf dem Gehweg herumstolzierten.
Und die Erwachsenen hinterließen bei mir – mit wenigen Ausnahmen – ebenfalls keinen bleibenden Eindruck. Auch Menschen, die ich schon viele Male gesehen hatte, konnte ich mit leerem Blick anstarren, unfähig, sie einzuordnen, bis meine Eltern mir in Erinnerung riefen, was für ein Haustier sie hatten. Sie sagten zum Beispiel: »Das sind doch die Besitzer von Brandy.« Brandy war ein langhaariger Zwergdackel mit rotem Fell, der gerne mit mir kuschelte, während die Erwachsenen noch weiterfeierten, nachdem sie mich ins Bett gebracht hatten. Auch heute kann ich mich weder an die Namen von Brandys Herrchen und Frauchen noch an deren Gesichter erinnern. Einer der wenigen Menschen ohne Haustier, die ich ins Herz geschlossen hatte, war mein »Onkel« Jack. Er war kein richtiger Verwandter, sondern ein Freund meines Vaters, ein Oberst, der Bilder von weiß gescheckten deutschen Reitponys für mich malte. Während er und mein Vater Schach spielten, malte ich die weißen Flecken der Ponys bunt aus.
Kaum konnte ich sprechen, verkündete ich meinen Eltern, dass ich ein Pferd sei, und galoppierte wiehernd und unter heftigem Schütteln meiner Mähne durchs Haus. Mein Vater spielte mit und nannte mich »Pony«. Doch meine Mutter, die sich für eine feine Dame hielt, wünschte sich eine Tochter, die Prinzessin oder Fee sein wollte, und war besorgt. Sie fürchtete, ich sei nicht ganz richtig im Kopf.
Der Kinderarzt der Army versicherte ihr, die Pony-Phase würde vorübergehen. Das tat sie auch, doch wurde sie von der Überzeugung abgelöst, ich sei ein Hund.
Aus meiner Sicht gab es dabei nur ein einziges Problem. Während meine Eltern und deren Freunde sich ständig bemühten, mir beizubringen, wie ein kleines Mädchen zu sein hatte, gab es niemanden, der mir zeigte, wie man ein Hund war. Das änderte sich erst, als ich drei Jahre alt war und Molly in mein Leben trat.
Auf den Websites von Scotchterrier-Züchtern werden die Welpen als »frech und übermütig« sowie »lebhaft und eigensinnig« charakterisiert. Typischerweise sind Scotties von klein auf zäh und selbstbewusst. Diese alte Rasse wurde von geizigen Schotten gezüchtet, um ihre Nutztiere vor Raubtieren zu schützen. Die kleinen schwarzen Hunde sind echte Hochlandkrieger: stark und tapfer genug, um Füchse und Dachse zu bezwingen, und klug genug, um auch aus eigener Initiative Eindringlingen das Handwerk zu legen. Bei einer Schulterhöhe von knapp 30 Zentimetern und einem Gewicht von etwa zehn Kilogramm sind Scotties »so kompakt wie ein kleiner Hund, aber so tapfer wie ein großer«, schrieb die Kritikerin und Schriftstellerin Dorothy Parker. »Dabei«, fügte sie hinzu, »sind sie so robust, dass ihnen höchstens ein Automobil zum Verhängnis werden kann, in welchem Fall sogar das Auto zugeben müsste, dass es einen Kampf hinter sich hatte.« Ein Scotchterrier-Welpe ist wie ein Zweijähriger im Trotzalter nicht kleinzukriegen und verfügt über unendlich viel Energie.
Obwohl wir unsere Kleinkindzeit gemeinsam verbrachten, war die willensstarke, lebhafte Molly das genaue Gegenteil von mir. Als ich zwei Jahre alt war und wir aus Deutschland, wo ich geboren wurde, zurück nach Amerika zogen, ging es mir gar nicht gut. In Deutschland hatten wir ein Kindermädchen gehabt, nun war meine Mutter allein für mich verantwortlich. Sie behauptete, ich sei an einer sehr seltenen Form von frühkindlichem Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt. Die Schwester meines Vaters hielt das für eine Lüge, und tatsächlich fand sich in meiner Krankenakte bei der Army keinerlei Hinweis darauf. Meine Tante glaubte, meine Mutter habe versucht, mich zu ersticken, oder ich sei heftig geschüttelt worden, womöglich beides und wahrscheinlich mehrmals. Offenbar habe ich viel geschrien. Noch viele Jahre später, als ich längst ein Teenager war, hat meine Mutter ihren Freundinnen vorgejammert, wie mein Schreien ihr immer die Cocktailstunde ruinierte. Ihre abendlichen Martinis waren für sie der beste Teil des Tages. Sie linderten ihre Einsamkeit, wenn mein Vater fort war und sie mit einem brüllenden Kleinkind alleine ließ.
Was auch immer passiert war, monatelang wollte ich weder spielen noch sprechen. Ich weigerte mich zu essen. Ich wurde drei Jahre alt und war immer noch nicht gewachsen.
Mein Zustand muss meinen Eltern sehr zugesetzt haben. Meine Mutter kaufte eine kleine Keramikschüssel, auf deren Boden kleine bunte Tiere aufgemalt waren, die ich nur sehen konnte, wenn ich mein Müsli aufgegessen hatte. Sie nahm Plätzchenformen und...