2 Haltung
Ins Lot kommen, im Gleichgewicht bleiben. Indem Sie sich zentrieren und aufrichten, erfahren Sie gleichzeitig Kraft und Entspannung und entwickeln Präsenz.
Im Lot klingt, was übereinander steht.
Ich kenne eine Flamencotänzerin, die mit ihren voluminös weiblichen Körperformen auf den ersten Blick behäbig bis schwerfällig wirkt. Die Vorstellung, sie könne über das Parkett schweben, erschien mir ziemlich absurd … bis ich sie das erste Mal beim Flamencotanz erlebt habe. Mein Gott, hab ich mich getäuscht!
Wenn sie sich erhebt und anfängt zu tanzen, scheint das sonst unbarmherzige Gesetz der Schwerkraft wie aufgehoben. Und das gleich vom ersten Schritt an! Alle schauen fasziniert zu, wie sie das Spiel mit dem Gleichgewicht perfekt beherrscht – wie eine Feder auf hohen Schuhen hält sie alle Körperteile aus der Mitte heraus tanzend in Balance.
2.1 Das Spiel mit der Schwerkraft …
Wir möchten Ihnen in diesem Kapitel das Spiel mit der Schwerkraft schmackhaft machen. Das statische »Steinmännchen im Lot« symbolisiert das 3-D-Gleichgewicht in der Dynamik – genau wie ich’s am Beispiel der Flamencotänzerin erlebt habe. Sie lernen, wie Sie das aus dem Lot geratene Gleichgewicht im eigenen Körper immer wieder neu herstellen können. Durch Zentrierung und Aufrichtung erleben Sie Kraft und Entspannung im ganzen Körper. Das äußerliche Gleichgewicht ist die Voraussetzung für die innere Stabilität. Mit vier ausgewählten Übungen kommen Sie Schritt für Schritt ans Ziel. Nehmen Sie sich Zeit. Falls Sie bereits ein älteres Semester sind und mehrere Lenze auf dem etwas steif gewordenen Rücken tragen, seien Sie geduldig mit sich selbst. Es lohnt sich durchzuhalten, steter Tropfen höhlt den Stein, und stetes Training macht aus der Wirbelsäule wieder eine Säule, die wirbeln und tanzen kann. Tragen Sie aktiv dazu bei, dass Ihr Körper lebendig und aufrecht bleibt.
2.2 Anatomie: Boden, Mitte & Aufrichtung
Der menschliche Körper ist ein Geniestreich der Natur, die Evolutionsgeschichte hat ihr ganzes Know-how hineingesteckt. Der Körper funktioniert nach definierten Gesetzmäßigkeiten. Für das Singen entscheidend ist die Aufrichtung der Wirbelsäule: Nacken sanft nach hinten-oben verlängern, Kreuz nach hinten-unten sinken lassen. Die S-Form der Wirbelsäule wird so in die Länge gedehnt – eine Wohltat für Rücken und Stimme!
Erster Schritt: Kniescheiben gerade aus nach vorne. Bei gewohnheitsmäßig nach innen schielenden Kniescheiben, bedeutet dies: Kniescheiben nach außen, bis sie wirklich gerade nach vorn ausgerichtet sind. Gleichzeitig beide Großzeh-Grundgelenke am Boden verankern. So kann sich die Spiralkraft der Beine entfalten.
Zweiter Schritt: Die eigene Mitte! Genau wie beim Steinmännchen gilt es, alle Körperteile ins Körperlot einzumitten: Bodenkontakt der Großzehe, Fersen gerade (kein Einknicken), locker-weiche Knie (kein Durchstrecken), aufgerichtetes Becken (kein Hohlkreuz), locker-bewegliche Brustwirbelsäule (kein Rundrücken), langer Nacken (kein Knicknacken), Kopf über dem Körper (nicht vor dem Oberkörper). Et voilà! Die anatomisch richtige Körperhaltung beim Singen ist charakterisiert durch den Dreiklang von »Fundament, Mitte und Aufrichtung«.
Körperhaltung: Alle Körperteile schmiegen sich ans Körperlot (rot).
Von vorn. Nutzen Sie die Spiralkraft der Beine (Pfeile)
2.2.1 Tipps für eine gute Haltung
Nobody is perfect. Die Selbstorganisation des Körpers im Lot ist denkbar einfach: Scheitel strebt nach oben, Füße wurzeln im Boden, alles dazwischen mittet sich automatisch ins Lot ein. Leider stören eingeschliffene Haltungsmuster und blinde Flecken diese natürliche Körperbalance. Hier ein paar praktische Tipps:
Kopfhaltung: Oft ist der Kopf viel zu weit vorn. Setzen Sie sich rittlings auf einen Stuhl, mit dem Rücken zur Wand, Nacken bleibt lang. Berührt der Hinterkopf die Wand, ist es perfekt.
Aufrichtung: Hier gilt es, die Wirbelsäule und den Brustkorb wieder beweglich zu machen. Die Zauberformel lautet: »Streckung plus Rotation« – wie z. B. bei einer Pirouette, beim Golfschwung oder beim Yoga-Drehsitz.
Die eigene Mitte: Den unteren Rücken nach unten verlängern, dann Beckenboden aktivieren, erst jetzt die tiefe Bauchmuskeln leicht anspannen.
Standfestigkeit: Satter Bodenkontakt der Fersenaußenkanten und der Großzeh-Grundgelenke.
Eutonus (Wohlspannung): Bei Muskelverspannungen hilft die Ausrichtung im Lot, um den Halte- und Dauerstress in den Muskeln zu vermeiden.
2.3 Innere Haltung – Wer singt, muss präsent sein
Wer singen will, muss präsent sein. Hier und jetzt! Körperwahrnehmung und Achtsamkeit sind die Schlüssel dazu, Ihre Klänge genussvoll mit der Welt zu teilen. Das gilt auch, wenn Sie für sich selbst singen.
Gehören Sie zu den eher scheuen Menschen? Bewundern Sie andere, die sich etwas wagen? Werden Sie fünf Zentimeter kleiner, wenn Sie an lautes Singen denken? Da Körper und Psyche in ständigem Wechselspiel stehen, hilft der bewusste Aufbau einer guten Körperhaltung, um die ersten Hürden zu meistern. So gewinnen Sie auf natürliche Weise körperliche Stabilität und gleichzeitig innere Sicherheit. Die richtige Körperhaltung ist Voraussetzung für den freien Atemfluss und den stimmlichen Ausdruck. Wer richtig steht, wird gleichzeitig entspannter und dynamischer.
Weiche Knie, Herzschlag bis zum Hals, gehetzter Atem? Hand aufs Herz: Lampenfieber und Nervosität kennen auch die Profis. Erste Hilfe: bewusst ausatmen und Boden unter den Füßen spüren. Schlagen Sie Wurzeln! Gut geerdet und mit dem Körperschwerpunkt im Becken können Sie sich von unten her dynamisch bis zum Scheitel aufrichten. So kommen Sie wieder gut in Kontakt mit sich selbst. Aus diesem Zentrum lassen Sie Ihr Lied in alle Winde erklingen.
Hohlkreuz und überstreckte Knie entstehen oft bei Stress und Anspannung.
Rundrücken mit Überhang nach hinten und Stauchung des Nackens spiegelt oft Bedrücktheit und Unlust wider.
2.4 Dynamisches Stehen – Ton mit Körper verbinden
Steht Ihr Körper im Lot, öffnet sich das Tor zur Leichtigkeit des Ausdrucks. Die Aufrichtung lässt Sie eine innere Durchgängigkeit von Kopf bis Fuß erleben – für die Atmung, den Ton, für alle Klänge, die Ihrem Körper entspringen. Vom Beckenboden bis zum Mund entsteht gefühlt ein »offenes, durchklingendes, lebendiges Rohr« – vergleichbar einer Orgelpfeife, durch die die Luft tief und ungehindert strömen kann. So ist der Ton ganz mit dem Körper verbunden, klingt aus dem Zentrum heraus.
Stehen sieht einfacher aus, als es in Wirklichkeit ist. Zur Illustration: Der Kopf z. B. wiegt rund fünf Kilogramm! Stellen Sie sich fünf Milchpackungen vor, die starr an Ihrem armen Hals hängen … Eine Chorprobe kann stundenlanges Stehen bedeuten. Lernen Sie, die starre Haltung mit innerer Aufmerksamkeit und kleinen, feinen Bewegungen zu beleben. Das entlastet Gelenke und Muskeln. Ein konstanter Fluss von Mikrobewegungen von unten nach oben und wieder zurück: Die Knie federn, das Becken schwingt in feinen 8er-Bewegungen, die Wirbelsäule nimmt die Impulse nach oben wirbelnd auf, der Brustkorb atmet, der Kopf balanciert wie der Luftballon auf dem Springbrunnen. Jetzt stehen Sie dynamisch: Der ganze Körper strömt und ruht.
2.5 Körper im Lot
Ziel: Optimierung der Körperhaltung.
Start: Stehen Sie auf dem Boden, Füße hüftbreit auseinander.
Aktion:
Ziehen Sie die Schuhe aus, spüren Sie Ihre Füße und den Boden, belasten Sie beide Füße gleichmäßig.
Entspannen Sie die Knie.
Wecken Sie das Becken: Schaukeln Sie es sanft hin und her. Stellen Sie die Beckenbewegungen in Zusammenhang zu den Füßen – gerade so als stünde das Becken direkt auf den Füßen.
Platzieren Sie nun den wohlig (auf-)gespannten Brustkorb auf das Becken.
Zuoberst thront der Kopf: Achten Sie beim Ausbalancieren des Kopfes auf einen langen Nacken, der Hinterkopf zieht ein wenig nach hinten-oben.
Öffnen Sie leicht den Mund, entspannen Sie Lippen, Kiefer und Halsregion.
Dosierung: Praktizieren Sie dies als Blitzübung im Alltag: in der Warteschlange, in der Chorprobe, am Strand oder an der Bushaltestelle.
Aufgepasst! Zu viel des Guten kann die Muskeln verspannen und verkrampfen. Bei ernsthafteren Rücken- und Fußproblemen ist Vorsicht geboten...