1 Einleitung
1.1 Zur Zielsetzung dieses Buches
In der Zusammenfassung zu ihrem Buch »Psychotherapie im Wandel« formulieren die Autoren mit bisher selten gehörtem Mut (vgl. Grawe, Donati, Bernauer 1994,1): »Über Jahrzehnte hin herrschten in der Psychotherapie gleichsam mittelalterliche vorwissenschaftliche Verhältnisse. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat so etwas wie eine Aufklärung begonnen, eine im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Psychotherapie. Glauben wird allmählich durch Wissen ersetzt, abergläubische Rituale durch professionelles Handeln. Die Aufklärung ist aber noch nicht weit in das öffentliche Bewusstsein vorgedrungen, auch nicht in das der Fachöffentlichkeit, und die psychotherapeutische Praxis hinkt den wissenschaftlichen Erkenntnissen nur widerstrebend hinterher. Glaubens- und Interessengemeinschaften, die an der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse interessiert sind, sperren sich gegen den Einzug aufgeklärter Vernunft und Professionalität in ihrer Bastion sorgsam gehüteter geheimnisvoller Undurchsichtigkeit und verschleierter Ineffizienz.«
Die hier vorliegende Publikation möchte dazu beitragen, im Sinne der genannten Autoren der Psychotherapie zu einem wissenschaftlichen Verständnis zu verhelfen.
Bedingt durch meine langjährigen Theorie- und Praxiserfahrungen bin ich allerdings zu der festen Überzeugung gelangt, dass es nicht ausschließlich empirisch überprüfbare Ergebnisse sein können, die zur Heilung von seelischen Leiden beitragen – hier ist m.E. eine gewisse Einseitigkeit bei Grawe et al. festzustellen, die dann von ihren Kritikern auch entsprechend aufgenommen wurde (vgl. u.a. Mertens 1994).
Im Unterschied zu den Arbeiten von Grawe et al. soll deshalb mit meinem Beitrag versucht werden, Wissenschaftlichkeit nicht ausschließlich auf Empirie zu beschränken. Damit kann dieses Buch für jeden professionell »an der Seele« Arbeitenden – ob es sich um den Arzt, Psychotherapeuten, Theologen, Seelsorger, Lehrer usw. handelt – Hilfestellungen anbieten.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass es ganz verschiedene Zugangsweisen gibt, mit denen das Ziel dieses Buches – Hilfestellung für Psychotherapie und Seelsorge zu geben – erreicht werden kann, und will deshalb vorab die von mir gebrauchte Epistemologie darstellen – denn jede wissenschaftliche Publikation ist anfechtbar, wenn sie nicht ihre anthropologischen Hintergründe bzw. Zielsetzungen offen legt. Deshalb soll dem Leser die Konsequenz meiner Gedankengänge bereits auf den ersten Seiten dargestellt und die Einzelheiten dann in den nachfolgenden Kapiteln aufgefächert werden.
– Ich gehe davon aus, dass zwischen Anthropologie, Psychopathologie und Psychotherapie ein eindeutiger Zusammenhang besteht. Das heißt die jeweilige Sicht, mit der der Mensch (bzw. seine »Seele«) beschrieben wird (Anthropologie), führt konsequenterweise zu einer Erklärung von seelischen Störungen (Psychopathologie), und darauf baut sich dann eine entsprechende Therapie auf, die den Weg zur Gesundung bzw. Heilung führt.
– Damit ergibt sich für die wissenschaftliche Psychotherapie die Notwendigkeit, das Stammwort »Psyche« so eindeutig wie möglich zu beschreiben. Dabei kommt man mit der in der Psychologie üblichen empirisch orientierten Definition, die vom »Verhalten und Erleben« ausgeht, nicht mehr aus und wird zwingend auf die Fragestellungen zum »Leib-Seele-Problem« verwiesen. Ich werde weiter unten zeigen, dass der kartesische »Leib-Seele-Dualismus« nicht – wie einige philosophische Schulen dies anstreben - in die Richtung des Monismus hin zu entwickeln wäre, sondern eher ein Trialismus für ganzheitliche psychotherapeutische Überlegungen hilfreich sein kann. Dabei ergibt sich dann konsequenterweise, dass psychotherapeutische Ansätze somatische, mentale und religiöse (»pneumatische«) Aspekte enthalten müssen, wenn sie einer ganzheitlichen Sichtweise entsprechen wollen.
Aus diesem Trialismus folgernd wird hier schon angedeutet, dass nur drei prinzipielle Möglichkeiten der Veränderung psychischer Störungen (die ggf. miteinander interagieren) möglich sind:
1. Durch medizinische Hilfestellungen (derzeitig überwiegend durch Psychopharmaka).
2. Durch psychologische Strategien im Sinne von Lernprozessen (u.a. Lernen durch Konditionierung, Imitation und durch Einsicht).
3. Durch religiöse Hilfestellungen (die deutlich von den beiden anderen Veränderungsmöglichkeiten abgegrenzt sein sollen; z.B. Gebet, Glaube usw.).
Ich gehe für die Psychotherapie bzw. Seelsorge davon aus, dass die Wirkmechanismen aller bekannten Methoden durch eine oder mehrere der drei genannten Veränderungsmöglichkeiten, bzw. auch ihrer Interdependenz, erklärbar sind.
– Schwerpunkt dieses Buches wird es sein – bedingt durch die wissenschaftliche Herkunft des Verfassers –, diejenigen Aspekte genauer zu untersuchen, die im psychisch-mentalen Bereich der Veränderungsmöglichkeiten liegen. Dabei zeigt sich, sofern man bereit ist, die verschiedenen psychotherapeutischen Methoden mit genügend Abstand zu betrachten sowie auf die »abergläubischen Rituale« (vgl. Grawe et al. 1994, 1) zu verzichten, eine deutliche Reduktion. Aufgabe der hier vorliegenden Publikation wird es sein, zu zeigen, dass es sich bei den Wirkmechanismen der allermeisten psychotherapeutischen Schulen im Grunde genommen nur um didaktische Varianten eines Lernprozesses handelt.
– Wenn man die Ergebnisse zur Wirksamkeit der verschiedenen Psychotherapien untersucht, wird immer wieder deutlich, dass (insbesondere unter psychologischem Blickwinkel) die Erfolge bei verschiedenen methodischen Schritten von drei Parametern abhängig sind: von der Persönlichkeit des Therapeuten/Seelsorgers, von der Persönlichkeitsstruktur des Ratsuchenden/Klienten/Patienten und von der Art der spezifischen Störung. Schon im Rahmen meiner ersten Veröffentlichungen zur Seelsorge und Psychotherapie (vgl. Dieterich 1987, 51) habe ich versucht, dies in Kurzform formelhaft in einer Gleichung mit drei Unbekannten darzustellen: M = f ( S, R, U).1 Zur Verbesserung der Wirksamkeit kommt dann natürlich noch die Motivation – sowohl des Therapeuten als auch des Ratsuchenden hinzu.
– Ich gehe davon aus, dass die Entstehungsgeschichte der verschiedenen therapeutischen Schulen weit weniger systematisch und überlegt vonstatten gegangen ist, als man dies oftmals annimmt. Im Gegenteil: Ich vermute, dass es sich dabei um subjektive Erkenntnisse der jeweiligen Gründer gehandelt hat – die sicherlich nicht falsch waren – jedoch vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgeschichte der jeweiligen Begründer (d.h. ihrer spezifischen Personalisation, Enkulturation und Sozialisation), der jeweils herrschenden Weltsicht (d.h. des »common sense«) und durch die Auseinandersetzungen mit den vorangegangenen bzw. nachfolgenden therapeutischen Schulen entstanden sind. Bei einer historischen Betrachtung im Sinne einer Retrospektive zeigt sich deutlich, dass solch subjektive methodische Erkenntnisse nicht selten paradigmatisch generalisiert und als allgemeingültig betrachtet werden. Eine Reduktion auf die Ebene von didaktischen Variablen hilft dann, die Ergebnisse gelassener zu sehen.
– In dieser Publikation wird bewusst auf die Begegnung zwischen Psychotherapie und Seelsorge eingegangen. In der Praxis findet diese Begegnung nicht selten im Sinne einer Pastoralpsychologie statt. Es ist zu vermuten, dass diese Disziplin in vielen Fällen über zwei Hauptprobleme stolpert:
Zum einen wird versucht, die Grenze zwischen Psychotherapie und Seelsorge sehr scharf zu ziehen und dabei von der Möglichkeit einer eindeutigen Trennung auszugehen.
Zum andern aber werden die pneumatischen Dimensionen der »Seele« entmythologisiert, was zu einer »Psychotherapie im christlichen Kontext« führt, die dann häufig durch die mit der theologischen Arbeit affinen Vorgehensweisen aus den Tiefenpsychologien bestimmt wird.
Deutlich wird in jedem Falle, dass es notwendig sein wird, zu semantischen Abklärungen des Begriffs »Seele« zu kommen – oder einfacher ausgedrückt: zu klären, was unter Psychotherapie bzw. Seelsorge verstanden werden kann. Auch hier will ich schon frühzeitig bemerken – und weiter hinten dann erläutern –, dass entsprechend meiner Epistemologie Seelsorge der Überbegriff und Psychotherapie eine Teilmenge dieser ganzheitlichen Aufgabe ist.
– Mit diesem Buch sollen nicht nur Theoretiker angesprochen werden. Ich habe deshalb die in langjähriger Erfahrung entwickelten Therapiepläne zusammengestellt und in einem abschließenden Kapitel auch eine Fallgeschichte aufgerollt, an der gezeigt werden soll, wie eine »Allgemeine Psychotherapie und Seelsorge« praktisch ablaufen kann. Dass dabei eine Laien-Seelsorgerin...