3 Wie Geschichten funktionieren
3.1 Geschichten und andere Kommunikationsformen
In der gesamten Literatur zu narrativer Therapie und Beratung werden die Begriffe »Narrativität« und »Geschichte« meist undefiniert oder, wenn man es negativ ausdrücken möchte, schwammig benutzt. Meist sind es nur allgemeine Charakterisierungen, die auf den ersten Blick auszureichen scheinen – wissen wir doch alle in unserem Alltagsverständnis, was eine Geschichte ist. Michael White benutzt zur Erläuterung seiner »Landkarten der narrativen Therapie« vor allem die Begriffe von Sujet und Fabula (White 2010, S. 77). Freedman und Combs (1996, p. 15; Übers.: M. M.) beziehen sich auf White, wenn sie anmerken: »[…] eine Geschichte ist eine Landkarte der Zeit.« Auch andere Autoren, die in der Tradition von Bateson (1981) sowie von Michael White und David Epston stehen, wie Eron und Lund (vgl. 1996) und Zimmerman und Dickerson (vgl. 1996) lassen den Begriff »Story« mehr oder weniger undefiniert bzw. benutzen ihn in einem alltagssprachlichen Verständnis. Auch ein kurzer Blick in einschlägige Literatur außerhalb des systemischen Felds ergibt einen ähnlichen Befund (vgl. z. B. Boothe 2011). Pestalozzi-Bridel (2011) setzt sich zwar theoretisch mit narrativen Strukturen sehr verdienstvoll auseinander, in erster Linie jedoch im Kontext von Hirnforschung und psychologischen Modellen. Ich möchte gerne im Folgenden noch eine Stufe basaler werden und erläutern, was Geschichten als eine von vielen unterschiedlichen Formen der Kommunikation (es gibt ja auch Fragen, Ausrufe, Beschreibungen, Erklärungen etc.) von anderen unterscheidet. Dies tue ich natürlich nicht als Selbstzweck – meine Überzeugung ist, dass sich aus einem Wissen über den »Bauplan« und das Funktionieren von Geschichten neue Ideen (oder erweiterte Ideen) für die Anwendung narrativer Methoden in Beratungssituationen ergeben.
Um die Chancen, die Geschichten für Beratung und Coaching bieten, in vollem Umfang nutzen zu können, wollen wir einen Blick auf die Ergebnisse der Disziplin werfen, die sich gewissermaßen hauptamtlich mit Geschichten beschäftigt: die Literaturwissenschaft. Die sogenannte Erzähltheorie in der Literaturwissenschaft arbeitet die Grundelemente jeder Erzählung heraus bzw. stellt sich die Frage, was eine Erzählung von einem anderen, zum Beispiel beschreibenden Text unterscheidet. Natürlich kümmert sich die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie in erster Linie um literarische Erzählungen, also um Geschichten, die von professionellen Autoren mehr oder weniger sorgfältig komponiert werden. Als meine Partner und ich Ende der 1990er-Jahre begannen, arbeitsbiografische Geschichten von Mitarbeitern in Unternehmen zu sammeln, waren wir davon überzeugt, dass solche »Alltagsgeschichten« nur sehr wenige Merkmale mit »künstlerischen« Erzählungen teilen würden. Doch mehr als 600, manchmal bis zu 90-minütige Geschichten, die wir uns in all den Jahren in Change- und Kommunikationsprozessen, bei Coachings und Teamberatungen haben erzählen lassen, haben uns davon überzeugt: Literarische Erzählungen mögen raffinierter komponiert und vor allem sprachlich ausgefeilter gestaltet sein, doch im Grunde verwenden autobiografische Erzählungen die gleichen Mittel wie literarische Geschichten. In der Beratung können wir sie uns zunutze machen.
Geschichten haben einen Anfang und ein Ende
Geschichten unterscheiden sich von den meisten anderen Kommunikationsformen dadurch, dass sie temporal strukturiert sind: Sie orientieren sich an einem zeitlichen Ablauf. Sie beginnen zu einem bestimmten Zeitpunkt und enden zu einem anderen Zeitpunkt zumindest vorläufig (wenn der Erzähler beispielsweise im Jetzt angekommen ist). Im zeitlichen Verlauf zwischen Anfang und Ende finden eine Reihe von Ereignissen statt, es »geschieht« also etwas. Diese Grundstruktur jeder Geschichte hat bereits Aristoteles in seiner Poetik (vgl. 1982) im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beschrieben. Damit unterscheiden sich Geschichten etwa von reinen Beschreibungen – wenn zum Beispiel eine Frau ihrer Freundin am Telefon das neue Kleid beschreibt, das sie gerade gekauft hat. Wenn sie allerdings erzählt, wie sie bei einer abenteuerlichen Shoppingtour plötzlich ihr Traumkleid gefunden hat, erzählt sie eine Geschichte.
Geschichten erzählen von Veränderungen
Ein weiteres wichtiges Merkmal der Kommunikationsform »Geschichte« ist, dass sich Anfang und Ende in irgendeiner Weise unterscheiden: Der Endzustand der Geschichte ist zumindest in einem Merkmal anders als der Ausgangszustand. In Geschichten geht es immer um Veränderungen – deshalb sind sie auch so praktisch für Beratungs- und Coachingdialoge, bei denen es ja per se um Veränderungen geht. Wenn man sich Geschichten, die man aus dem Kino oder aus Romanen kennt, ansieht, wird man schnell feststellen, dass es in diesen Geschichten tatsächlich immer um Veränderungen geht: Am Anfang ist ein Mord geschehen, am Ende ist der Mörder gefasst und das Unrecht gesühnt; am Anfang greifen Außerirdische die Erde an, am Ende ist die Welt gerettet; am Anfang ist die Protagonistin einsam, am Ende glücklich verheiratet; am Anfang läuft die Titanic auf große Fahrt aus, am Ende ist sie untergegangen.
Eine Standardsituation in der Beratung ist nun gerade, dass aus der Sicht der Klienten eben keine Veränderungen wahrnehmbar sind; viele von ihnen beschreiben ihr derzeitiges Problem als einen Dauerzustand, der seit vielen Jahren anhalte. Hier kann der Berater, der mit einem »narrativen Ohr« zuhört, unterscheiden, ob ein Klient, wenn er von seinem Problem berichtet, tatsächlich eine Geschichte erzählt oder ob er die Beschreibung eines Zustands liefert; festgemacht werden kann dieser Unterschied daran, ob es eine Veränderung gibt oder nicht. Narrative Beratungsmethoden beschäftigen sich dann häufig – ich werde das später noch im Detail beschreiben – damit, Ansätze für Geschichten, also für Veränderungen, zu finden und gemeinsam mit dem Klienten auszubauen.
Abb. 2: Die Grundstruktur jeder Geschichte
Geschichten strukturieren Veränderungen um Ereignisse herum
In der Mitte jeder Geschichte steht mindestens ein Ereignis (vgl. dazu Titzmann 2013), es »passiert etwas«, das als Auslöser für die Transformation vom Anfangs- zum Endzustand fungiert. Wo in einer Geschichte das zentrale Ereignis liegt, kann man in der Regel feststellen, indem man darauf hört, wo der Erzähler die Grenze zwischen »früher« und »heute« ansetzt: »Früher, war alles besser, da war ich noch zufrieden, aber heute ist alles anders geworden, und mein Job hat sich grundlegend ins Negative verändert.« So ein Satz könnte etwa in einer berufsbiografischen Erzählung eines Klienten vorkommen. Zwischen dem »früher« und dem »heute« liegt das Ereignis, das vom einen zum anderen geführt hat. Will man wissen, worin dieses Ereignis besteht, kann man entweder den Klienten weitererzählen lassen, bis er es selbst thematisiert, oder ihn fragen: »Was ist denn geschehen, dass sich Ihr Job so verändert hat?«
In Beratungen kann man natürlich mit diesen Ereignissen arbeiten. Man kann versuchen, sie zu verschieben, andere Ereignisse zu finden, die alternative, vielleicht vom Klienten als positiver wahrgenommene Veränderungen auslösen, man kann versuchen, ein neues, transformierendes Ereignis in die Zukunft hinein zu konstruieren und Ähnliches mehr; wir werden uns später noch mit den verschiedenen Methoden beschäftigen.
Interessant für die Arbeit mit Teams und Organisationen ist, dass sich die gemeinsame Realitätskonstruktion eines sozialen (Sub-)Systems offenbar auch darin ausdrückt, wo die einzelnen Mitglieder des Systems das zentrale Ereignis in ihrer gemeinsamen Geschichte sehen. Mit anderen Worten: Wenn 20 Mitarbeiter eines Projektteams die Geschichte ihres Projekts erzählen, liegt das zentrale Ereignis in der Regel bei allen an der gleichen Stelle. Die gemeinsame Geschichte ist Ausdruck der gemeinsamen Realitätskonstruktion.
Jede Geschichte ist die Geschichte von jemandem
Im Mittelpunkt jeder Geschichte steht ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen: Jede Geschichte hat eine Heldin oder einen Helden, also jemanden, dessen Geschichte erzählt wird. Auch wenn Geschichten scheinbar nichtmenschliche Helden (oder Protagonisten, wie man heute sagt, damit man beim Begriff »Held« nicht immer an schwertbewehrte Schlagetote à la Siegfried denken muss) haben, wie etwa Tierfabeln, geht es um menschliche Verhaltensweisen, für die die Tiere nur metaphorisch stehen.
Natürlich kann der Held einer Geschichte auch ein Kollektiv sein, eine Gruppe, ein Team, eine Familie. Häufig ist auch die Frage danach, wer genau der Held oder die Heldin der Geschichte ist, ein wichtiger Teil des Beratungsprozesses. In der Familientherapie ist es ja ein bekanntes Phänomen, dass der Grund für das...