Kapitel 2
Erwachsen werden
Studienfreunde malen sich gern aus, sie würden für alle Zeiten zusammenbleiben, aber in Wirklichkeit kommt es nur selten so. Einstein, Grossman und Marić hatten 1900 ihre vier Jahre am Züricher Polytechnikum hinter sich. Der einige Jahre ältere Besso war bereits wieder nach Italien gezogen und arbeitete als Elektroingenieur. Einstein versuchte zwar, ihm das auszureden (»Es ist sehr schade für seine wirklich hervorragende Intelligenz«1, schrieb er in jenem Jahr an Marić), aber er respektierte Bessos Entscheidung, die verhinderte, dass er für seine Familie zu einer finanziellen Belastung wurde. Grossmann wurde Gymnasiallehrer, hatte aber weiterhin auch die Forschung im Blick und schrieb sich schließlich als Doktorand im Fach reine Mathematik ein, das dem eher praktisch veranlagten Einstein ein Rätsel war. Marić war im Zwiespalt zwischen einer Verlängerung des Aufenthaltes in der Schweiz mit weiteren Studien (und ihrem Freund) und der Rückkehr zu ihrer Familie in die Nähe von Belgrad, die sie jetzt besuchen musste.
Auch Einstein steckte fest. Er wollte unbedingt eine Laufbahn als forschender Wissenschaftler einschlagen, hatte aber Professor Weber, seinen wichtigsten Physikdozenten, mit seiner Aufsässigkeit und dem Schwänzen von Vorlesungen so verärgert, dass der sich jetzt weigerte, ihm Empfehlungsschreiben für andere Professoren oder Schulleiter auszustellen – ein für Studenten üblicher Weg, um nach dem Examen an derlei Stellen zu kommen. Mit bemerkenswertem Selbstbewusstsein schrieb Einstein selbst an Professor Hurwitz, einen seiner früheren Mathematikdozenten, und erklärte, er habe sich zwar tatsächlich nicht die Mühe gemacht, die Mehrzahl von Hurwitz’ Vorlesungen zu besuchen, aber er erlaube sich dennoch »ergebenst anzufragen«, ob er eine Stelle als Hurwitz’ Assistent erhalten könne.2 Aus irgendeinem Grund war Hurwitz nicht beeindruckt, und eine Stelle hatte er auch nicht zu vergeben. Einstein verfasste weiterhin Briefe – »Bald werde ich alle Physiker von der Nordsee bis an Italiens Südspitze mit meinem Offert beehrt haben«, schrieb er an Marić3 –, erhielt jedoch nur Absagen.
Diese Zurückweisungen schmerzten insbesondere deshalb, weil er wusste, dass seine Familie höhere Einnahmen brauchte. Einige Zeit zuvor hatte er an Maja geschrieben: »Am meisten drückt mich natürlich das [finanzielle] Unglück meiner armen Eltern … Ferner schmerzt es mich tief, dass ich als erwachsener Mensch untätig zusehn muss, ohne auch nur das Geringste machen zu können.«4
Nach einer kurzen Tätigkeit als Gymnasiallehrer und nachdem er eine Zeit lang sogar als Hauslehrer eines jungen Engländers gearbeitet hatte, wohnte Einstein 1901 wieder bei seinen Eltern in Italien. Sein Vater Hermann erkannte, dass sein Sohn deprimiert war, und entschloss sich, ihm zu helfen. Er schrieb an Wilhelm Ostwald, einen der größten Wissenschaftler Deutschlands, dass »mein Sohn Albert Einstein 22 Jahre alt ist …« Er sei »tief unglücklich und täglich setzt sich stärker die Idee in ihm fest, dass er mit seiner Karriere entgleist sei und keinen Anschluss mehr finde.« Hermann bat den Professor, an Albert »ein paar Zeilen der Ermunterung zu schreiben, damit er seine Lebens- und Schaffensfreudigkeit wiedererlangt. Sollte es Ihnen überdies möglich sein, ihm für jetzt oder nächsten Herbst eine Assistentenstelle zu verschaffen, so würde meine Dankbarkeit eine unbegrenzte sein.« Natürlich müsse dies eine Sache zwischen ihnen beiden bleiben, weil »mein Sohn von meinem ungewöhnlichen Schritte keine Ahnung hat«.5 Der Appell kam von Herzen, aber er war wenig zielgerichtet und so wirkungslos wie die Mehrzahl von Hermanns geschäftlichen Unternehmungen. Ostwald antwortete nie.
Was Einsteins Beziehung zu Mileva Marić anging, so hatte seine Mutter die junge Frau zwar noch nicht kennengelernt, konnte es aber nicht ertragen, dass er so viel von ihr redete – denn wenn man es recht bedachte, welche Frau würde jemals gut genug für ihren Sohn sein? Als weiteren Grund, um auf der Beendigung des Briefwechsels mit der Nichtjüdin zu beharren, nannte Pauline Einsteins Unvermögen, sich einen guten Lebensunterhalt zu verdienen. Nachdem er die moralische Qual drei Wochen ertragen hatte, schrieb Einstein in seiner Verzweiflung an Grossmann und erkundigte sich, ob dieser ihm nicht irgendwie helfen könne, damit er nicht mehr zu Hause wohnen müsse. Als Grossmann daraufhin die Beziehungen seiner Familie bemühte und Einstein ein Einstellungsgespräch beim Patentamt in Bern sicherte, schrieb der sofort zurück: »Als ich gestern Deinen Brief fand, war ich wirklich gerührt über Deine Treue und Menschenfreundlichkeit, die Dich Deinen alten Freund und Pechvogel noch nicht hat vergessen lassen.«6
Es war zwar eigentlich nicht der Beruf, den Einstein sich vorgestellt hatte, aber die Stelle beim Patentamt – falls er sie denn bekäme – würde ihm helfen, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und vielleicht auch seine Beziehung zu Marić vor seiner Mutter zu schützen. Hilfreich war, dass Einstein 1901 bereits die Schweizer Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Im Rahmen des Antragsprozesses war er dabei auch von einem Privatdetektiv beschattet worden; dieser hatte festgestellt, dass Herr Einstein einen regelmäßigen Tagesablauf hatte, selten trank und es deshalb verdient hatte, dass seinem Antrag stattgegeben wurde. Dennoch schien ihm die Stellung beim Patentamt unter seiner Würde zu sein, nicht mehr als ein Weg, sich ein regelmäßiges Einkommen zu sichern, während er sich weiter darum bemühte, ins Hochschulmilieu zurückzukehren. Seinen Eltern gegenüber würde er so tun müssen, als sei es richtig so und keineswegs ein Stolperstein.
Wenigstens mit Mileva Marić schien alles gut zu laufen. Während er noch in Italien bei seinen Eltern lebte, war sie in der Schweiz und dadurch nicht allzu weit weg. Sie konnten einander von Wissenschaft und Liebe schreiben – und ein Treffen organisieren.
Mai 1901
Mein liebes Doxerl!
… Heute Abend saß ich zwei Stunden am Fenster und dachte darüber nach, wie man das Wirkungsgesetz der Molekularkräfte bestimmen könne. Ich kam auf eine sehr gute Idee. Am Sonntag werd ich Dirs erzählen …
Das Schreiben ist dumm. Am Sonntag küss’ ich Dich mündlich. Sei gegrüßt und verdrückt von Deinem
Albert.
Auf frohes Wiedersehen! Liebe!7
Sie küssten sich tatsächlich. Am Ende trafen sie sich in den Schweizer Alpen hoch über dem Comer See. In einem Brief an ihre beste Freundin schilderte Marić, wie sie einen Pass bei einer Schneehöhe von sechs Metern überqueren mussten:
Wir mieteten uns also einen ganz kleinen Schlitten, wie sie dort in Gebrauch sind, wo gerade 2 Menschen, die sich gern haben Platz haben und wo hinten auf einem Brettl der Kutscher steht und … einen »signora« nennt – kannst Du Dir was schöneres denken?
Wir mussten ein paar Stunden fahren … bis sich in die weiteste Ferne unsern Augen nichts darbot als Schnee und wieder Schnee, so dass … ich meinen Schatz unter Mänteln und Tüchern … fest am Arm hielt.8
Einstein muss sie ebenso fest an sich gedrückt haben. »Wie schön war es letztes Mal«, schrieb er ihr, »als ich Dein liebes Persönchen an mich drücken durfte, wie die Natur es gegeben …«9 Am Ende des Urlaubs im Mai 1901 war sie schwanger. Entsprechend den Sitten jener Zeit hatte Marić keine andere Wahl, als bis zur Entbindung zu ihrer Familie in die Nähe von Belgrad zurückzukehren. Neun Monate später schrieb ihr Einstein:
Bern, 4. Februar 1902
… es ist wirklich ein Lieserl geworden, wie Du es wünschtest. Ist es auch gesund und schreit es gehörig? Was hat es denn für Augerl? … Hat es auch Hunger? …
Ich hab es so lieb und kenns doch noch gar nicht!10
Darüber hinaus sind nur wenige Erwähnungen der Tochter erhalten geblieben, denn für ein unverheiratetes Paar ihrer Herkunft war es so gut wie unmöglich, ein uneheliches Kind zu behalten. Sie gaben ihrer Tochter zwar den Namen Lieserl (Elisabeth), indirekte Indizien lassen aber darauf schließen, dass sie sie zur Adoption freigaben, höchstwahrscheinlich an eine Freundin der Familie in Budapest. Einstein sprach später nie wieder von ihr.
Nach mehreren Einstellungsgesprächen sicherte sich Einstein die Stelle beim Patentamt in Bern, wo der Vater seines Freundes Grossmann für ihn ein gutes Wort eingelegt hatte. Das sehr viel kleinere Bern war mit der Stadt Zürich nicht vergleichbar, aber doch ein annehmbarer Ort. Allerdings war das Gehalt nicht so hoch, wie Einstein es sich erhofft hatte. Er hatte sich für die Stelle eines technischen Experten zweiter Klasse beworben, doch der Amtsleiter Haller war über Einsteins mangelnde technische Fähigkeiten enttäuscht und hatte ihm nur die schlechter bezahlte Stelle eines technischen Experten dritter Klasse angeboten.
Einstein nahm die Stelle an, aber er brauchte mehr Geld. Wie sein Vater war er eine Unternehmernatur, und so setzte er 1902 eine Anzeige in die Lokalzeitung:
PRIVATSTUNDEN IN
MATHEMATIK U. PHYSIK
für Studierende und Schüler erteilt
gründlichst
ALBERT EINSTEIN, Inhaber des eidgen.
polyt. Fachlehrerdiploms,
GERECHTIGKEITSGASSE 32, 1. Stock.
Probestunden...