Emmanuel Bobovnikoff [1]
Léon Bobovnikoff, Emmanuel Boves jüngerer Bruder, hatte Mitte der dreißiger Jahre die Erinnerungen seiner Mutter in einem etwa hundertseitigen Heft zusammengetragen. Beide lebten damals zurückgezogen in Saint-Georges-d’Orques, in der Nähe von Montpellier, und konnten sich nur dank der Überweisungen, die Emmanuel ihnen zukommen ließ, über Wasser halten. Die Mutter erzählte ihre Erinnerungen, und Léon brachte sie zu Papier, darum bemüht, ihnen einen literarischen Ton zu verleihen.
Ich lernte Léon 1982 kennen, acht Jahre vor seinem Tod, da war er achtzig Jahre alt. Über vier Stunden lang hatte ich ihn interviewt, und er hatte mir aus besagtem Heft Seiten vorgelesen, die er jeweils kommentierte. Später dann, nach zähen Verhandlungen, hatte er mir – ebenso wie seinem Halbbruder Victor und Emmanuels Tochter Nora – ein fotokopiertes Exemplar dieses Heftes ausgehändigt, freilich nicht ohne es zuvor von einigen, in seinen Augen kompromittierenden Details gesäubert zu haben. So hatte er beispielsweise eine Anspielung auf das »zweifelhafte Weiß« der Krawatten seines Vaters unterdrückt, was zumindest dann komisch erscheint, wenn man weiß (und man wird es später sehen), wie er sonst mit ihm umging.
Weder Léon noch seine Mutter gingen einer Arbeit nach. Beide wurden von Emmanuel versorgt, ohne dass sie es jemals in Erwägung zogen, selbst für ihren Unterhalt aufzukommen. Bove hatte sie übrigens, zumindest zu Anfang, in diesem Müßiggang bestärkt. Er besaß damals ein mäßiges Einkommen, doch je mehr seine Einkünfte dem Zufall unterworfen waren, desto mehr verschlechterte sich die Lage. Als Léon 1990 stirbt, findet man in seinen Unterlagen etwa 220 Briefe von seinem Bruder Emmanuel. Diese sind in vielerlei Hinsicht aufschlussreich, besonders interessant ist indes, dass sich keiner darunter befindet, in dem nicht von dem Geld die Rede ist, das der Schriftsteller den beiden zukommen lassen will. Léon und seine Mutter lebten in dieser Hinsicht in einer wahrhaften Paranoia. Sie glaubten, Emmanuel sei reich, zum einen dank seiner mutmaßlichen Verkaufserfolge, zum anderen, weil seine zweite Frau, Louise, die Tochter eines Bankiers war. In Wirklichkeit lebten Emmanuel und Louise nach anfänglich problemlosen Jahren (1928–1932) in ärmlichen Verhältnissen, umso mehr, als Bove Unterhalt an seine erste Frau, Suzanne, zu zahlen hatte, welche die Obhut über ihre beiden Kinder behalten hatte. Er kam dieser Zahlung im Übrigen nur sehr sporadisch nach.
Léon führte pingelig Buch über die überwiesenen oder eben ausgebliebenen monatlichen Beträge seines Bruders. Gleich neben die Beträge notierte er die Adresse und mitunter irgendein Ereignis, so dass Emmanuels Lebensweg von 1924 (Zeitpunkt seiner literarischen Anfänge) bis 1937 (Tod der Mutter) nachverfolgt werden konnte. Darüber hinaus hatte er beim Verfassen dieses Heftes eine synoptische Übersicht über die Jahre 1915 bis 1924 erstellt. Schließlich gibt dieses Heft auch – freilich unbeabsichtigt – umfangreich Aufschluss über Emmanuels Kindheit, von der Zeugung bis hin zum Ende seiner Jugend. Dank Léons Archivierungstrieb lässt sich so eine exakte Chronologie aufstellen, die 39 der insgesamt 47 Lebensjahre Boves umfasst. Ohne Léons hartnäckige Manie, alles festzuhalten, wäre jeglicher Biographieversuch unmöglich gewesen, zumindest was die Zeit vor Boves Auftritt auf der literarischen Bühne betrifft, und das ist immerhin die Hälfte seines Lebens.
Natürlich liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Aufgrund seiner Voreingenommenheit – um es gelinde auszudrücken – widerruft Léon immer wieder, was er zuvor schon eingeräumt hatte. Außer wenn ihn sein Gedächtnis im Stich lässt (was aber sehr selten der Fall ist), entsprechen die von ihm vorgebrachten Fakten stets der Wahrheit. Ein Archivar lügt nicht, das widerspräche seinem Wesen. Nicht ein einziges Mal habe ich ihn diesbezüglich ertappt. Ich glaube, er war der Lüge gar nicht fähig. Freilich aber liefert er seine Interpretation und seine Sicht der Dinge. Bis zum Tod seiner Mutter – da war er 34 – führt er neben ihr eine armselige und kärgliche Existenz. Oftmals schlafen sie im selben Bett, und seine Mutter untersagt ihm, sich mit Frauen einzulassen. Und wie er selbst einräumt, hat er niemals daran gedacht, gegen dieses ungeheuerliche Verbot aufzubegehren. Von da an lebten die beiden in einem ewigen Ressentiment, zunächst dem Vater gegenüber, aber dann auch gegenüber Emily, der »reichen Engländerin«, die beschuldigt wird, ihnen Vater und Ehemann »geraubt« zu haben; schließlich aber auch gegenüber Emmanuel, der dafür verantwortlich gemacht wird, dass sie im Elend dahinvegetieren mussten, wo er sie doch retten können hätte, wenn er es nur gewollt hätte.
Noch vierzig Jahre nach dessen Tod nahm Léon es seinem Bruder übel, sie so »im Stich gelassen« zu haben, ihn und seine »arme Mutter«. Unausweichlich liefen da bei ihm die Tränen. Während einer entkrampfteren Unterhaltung musste er freilich zugeben, dass sich seine Klagen über seinen Bruder und sogar über seinen Vater auf Voreingenommenheit gründeten, doch immer wieder kam er auf seine Ur-Obsession zurück, auf die Ungerechtigkeit, deren Opfer er und seine Mutter gewesen seien. Darüber kam er nicht hinweg, wenn es nicht überhaupt sein Lebenssinn war. Seine Mutter war eben eine arme Frau, die nicht imstande war, ihm etwas anderes zu vermitteln. Aber Léons Mutter war auch die Mutter Emmanuels, und man wird später sehen, wie sehr seine Psyche und sein Werk von ihr geprägt sind. Emmanuel wird versuchen, die unglücklichen Umstände, die Léon akzeptierte, durch die Literatur zu bannen. Sein ganzes Leben lang glaubt er, dass ihm dies gelingen könne. Als er später dann begreift, dass es seine Kräfte übersteigt, stirbt er – an einer ordnungsgemäß registrierten Krankheit, sicherlich, aber mehr noch aus Erschöpfung, ein Elend zu überwinden, das letztendlich sein gesamtes Leben bestimmt hat. Er stirbt mit 47, Léon mit 88 Jahren. Nicht ganz zufällig konnte der eine das ihm Innewohnende freisetzen und der andere nicht. Was heißen soll, dass im Falle Emmanuel Boves die Literatur daran nicht ganz unschuldig sein dürfte. Léons Aussagen sind von entscheidender Bedeutung, und von daher ist es notwendig, ihn hier kurz zu porträtieren. Als ich ihn kennenlernte, wohnte er schon seit etlichen Jahren in Versailles, in einer Wohnung, die ihm selbst gehörte. Er war in jeder Hinsicht eine Figur der Vergangenheit, sowohl von seiner Mentalität als auch von seiner Kleidung her – dicker Überzieher, schwere Schnürstiefel und Baskenmütze zu jeder Jahreszeit – oder auch in Bezug auf seine Ernährung (so kochte er sein Gemüse noch nach der antiquierten »Carton«-Methode, das heißt, indem er öfter das Wasser wechselte). Seine Wohnungseinrichtung war dementsprechend: Sie war wie die Dekoration für einen der Romane seines Bruders, etwa für »Mes amis« oder für »Un père et sa fille« (»Ein Vater und seine Tochter«). Er lebte abgeschnitten von der Welt, besaß keinen Fernseher, hörte kaum Radio und las nur selten Zeitung. Er führte ein Tagebuch, in das er mit geradezu manischer Präzision den Preis des Gemüses vom Markt eintrug, die geführten Telefongespräche und das, was ihm geantwortet wurde, ob die angerufene Person da gewesen war oder die Leitung belegt war. Alle Jahre wieder verschickte er Neujahrsglückwünsche und notierte in verschiedenen Farben, ob darauf geantwortet worden war, und wenn, auf welche Weise, brieflich oder telefonisch, ohne dabei freilich das genaue Datum zu vergessen. Nach dem Tod der Mutter war er verschiedenen Beschäftigungen nachgegangen und war schließlich als technischer Zeichner in Pension gegangen. Er spekulierte auch an der Börse und verbuchte am Ende sogar bedeutende Gewinne, die er dann auf etwa zehn verschiedene Bankkonten verteilte – zum Leidwesen des Notars, der, als das Testament eröffnet wurde, sich die Haare raufte. Bei sich zu Hause hortete er Radiergummis, Stifte und anderes Büromaterial, das bei der Wohnungsauflösung mehr als zehn Müllbeutel füllte.
Die Neuherausgabe der Werke seines Bruders kam für ihn überraschend. Sie war auch Gelegenheit, mehr als dreißig Jahre nach Emmanuels Tod die Verbindung mit der Familie herzustellen – und insbesondere alle Beschwerden ihm gegenüber erneut auf den Tisch zu bringen. Er fertigte Kopien des besagten Heftes an und verteilte sie mit offenkundiger Lust auf Rache an die Angehörigen. Von den Artikeln über die Bücher seines Bruders behielt er nur die Verrisse. Als ein Redakteur von »L’Express« Bove auf einer ganzen Seite niedermachte, bewahrte er den Artikel in seiner Brieftasche auf und ließ es sich nicht nehmen, ihn jedem, der ihn hören wollte, vorzulesen. Im Mai 1983 hatte ich ihn für ein verlängertes Wochenende zu mir aufs Land eingeladen. Er war trotz seiner achtzig Jahre noch sehr rüstig und fuhr noch beinahe jeden Tag von Versailles nach Paris. Es war vorgesehen, dass ich ihn am Abend des dritten Tages bei mir mit dem Auto nach Versailles zurückbringen sollte. Als der Augenblick des Aufbruchs gekommen war, fragte er mich: »Könnte ich nicht ein paar Tage länger bleiben?« Der flehende Ton war haargenau der von Victor Bâton aus »Mes amis«.
Zwei Jahre später spielte ich eines meiner Theaterstücke in Paris. Fünf Minuten bevor ich auf die Bühne muss, eröffnet man mir, dass ein älterer Herr an der Kasse ein Heidenspektakel veranstalte, weil man ihn daran hindere, mich zu sehen. Ich bestätige, dass dies nicht möglich sei, sage aber auch, dass man sich gerne nach der Veranstaltung treffen könne. Eine Minute später höre ich, wie heftig gegen alle Logentüren...