1. PANIKATTACKEN BESSER VERSTEHEN
1.1 GESUNDE UND KRANKHAFTE ÄNGSTE
DAS DOPPELGESICHT DER ANGST: Gesunde Angst hält uns am Leben und stimuliert uns, krankhafte Angst schränkt dagegen unsere Lebensmöglichkeiten ein. Diese beiden konträren Seiten der Angst werden im Folgenden näher dargestellt.
ANGST UND FURCHT SICHERN DAS ÜBERLEBEN – SELBST PANIK KANN ALS SCHUTZFUNKTION DIENEN
Angst und Furcht sind angeborene biologische Überlebensmechanismen und Grundbefindlichkeiten des Menschen. Sie sind ganz normale seelische und körperliche Zustände, zutiefst menschliche Gefühle, genauso wie Freude, Wut, Trauer oder Ekel.
ANGSTFREIHEIT IST KEIN SINNVOLLES LEBENSZIEL –
MAN KANN AUCH MIT UND TROTZ ANGST UND PANIK ERFOLGREICH SEIN
Viele Ratgeber versprechen uns ein Leben ohne Angst und Panik. Ängste und Panikattacken bekämpfen, besiegen, loswerden, auslöschen, verlieren – so lautet die Devise. Dieses Buch bietet keine Garantie dafür, dass Sie nie wieder eine Panikattacke bekommen werden. Es soll Sie jedoch in die Lage versetzen, dass Sie zukünftig erfolgreicher damit umgehen können. In der Folge davon wird Ihre Angst vor einer Panikattacke abnehmen und schließlich ganz verschwinden.
MUT UND VERTRAUEN
Wir benötigen je nach Situation eine angemessene Balance aus Mut, Vertrauen, Vorsicht und Angst, um mit tatsächlichen und irrealen Ängsten besser umgehen zu lernen. Das Gegenteil von krankheitswertiger Angst ist nicht Angstfreiheit, sondern Mut und Vertrauen.
ANGST ZEIGT AUF, WAS UNS WICHTIG IST –
WELCHE WÜNSCHE STEHEN HINTER UNSEREN ÄNGSTEN?
Hinter den meisten Ängsten – gesunden wie krankhaften – stehen oft ganz normale Wünsche. Wir bekommen Angst, wenn unsere zentralen Werte und Ziele bedroht sind. In diesem Sinn kann man fünf zentrale Ängste unterscheiden, hinter denen fundamentale menschliche Bedürfnisse stehen:
ANGST ERFASST DEN GANZEN MENSCHEN:
KÖRPER, VERHALTEN, GEDANKEN, GEFÜHLE
Angst, normale wie auch krankheitswertige Angst, zeigt sich auf vier verschiedenen Ebenen: auf der Ebene der körperlichen Reaktionen, auf der Ebene des sichtbaren Verhaltens, auf der Ebene der Gedanken und auf der der Gefühle. Diese vier Aspekte spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Ängsten und Panikattacken eine zentrale Rolle, die Ausprägung kann jedoch individuell sehr unterschiedlich sein.
- Änderungen in Ihrem Denken können Änderungen in Ihrem Fühlen und Verhalten bewirken, wenn Sie aufgrund gewisser Hintergrundinformationen eine Panikattacke nicht mehr als so bedrohlich beurteilen. Ängste und Panikattacken können so nicht mehr bestimmen, was Sie tun dürfen und was nicht.
- Änderungen in Ihrem gefühlsmäßigen Erleben können Änderungen in Ihrem Denken und Verhalten zur Folge haben. Sie machen zum Beispiel die Erfahrung, dass Sie Angst und Panikattacken durch kampfloses Zulassen bewältigen können und Ihnen dadurch ein Leben auf der Grundlage Ihrer Werte und Lebensziele möglich ist.
- Änderungen in Ihrem Verhalten können zu Änderungen in Ihrem Denken führen, weil Sie zum Beispiel durch den Verzicht auf Vermeidungsreaktionen positive Erfahrungen mit Ihrem Körper und Ihren Mitmenschen machen und so andere Sichtweisen entwickeln.
WIE ANGST UND FURCHT IM GEHIRN ENTSTEHEN:
DIE BIOLOGISCHEN GRUNDLAGEN VON PANIKATTACKEN
DAS LIMBISCHE SYSTEM ALS ZENTRUM DER EMOTIONEN –
PANIKATTACKEN GEHEN VON UNSEREM SÄUGETIERHIRN AUS
Angst und Panikattacken werden vom limbischen System im Gehirn gesteuert. Es wird auch »Säugetierhirn« genannt, weil wir es mit den Säugetieren gemeinsam haben.
- Der THALAMUS nimmt alle Informationen aus der Außenwelt durch unsere Sinne auf und leitet sie an andere Stellen weiter. Zum Verständnis von akuten Ängsten und Panikattacken sind folgende biologische Mechanismen bedeutsam: Eine Leitungsbahn führt zum frontalen Kortex (Stirnhirn), wo die verschiedenen Sinneswahrnehmungen genauer analysiert werden, eine andere, schnellere Leitungsbahn direkt zur Amygdala, wo die Informationen emotional bewertet werden. Diese zweite Bahn umgeht unser Großhirn und löst zum Schutz des Organismus rasche Körperreaktionen aus – oft vorschnell, noch bevor eine reale Gefahr identifiziert ist.
- Der HYPOTHALAMUS ist das oberste Steuerungszentrum des Körpers bei subjektiver Bedrohung. Er bewirkt über verschiedene Wege die Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol, die unseren Körper aktivieren, um die Gefahrensituation zu bewältigen.
- Die AMYGDALA (auf Deutsch Mandelkern) ist – etwas vereinfacht gesagt – das Zentrum der Gefühle. Tatsächlich gibt es wahrscheinlich kein klar umrissenes »emotionales Gehirn«, sondern verschiedene Schaltungssysteme in enger Verbindung zum Mandelkern. Die Amygdala bewirkt die rasche Auslösung von Angst und Panikattacken. Wir haben zwei Mandelkerne, einen links und einen rechts. Die Mandelkerne aktivieren den Körper im Interesse des Überlebens extrem schnell, noch bevor das Stirnhirn, namentlich der präfrontale Kortex, erkannt hat, ob tatsächlich Gefahr droht. Das ist das Drama von Panikattacken: Die Panik kann berechtigt sein – oder auch nicht, wie dies bei Fehlalarm der Fall ist. Wenn wir von den Mandelkernen gesteuert werden, reagieren wir instinktiv »aus dem Bauch« heraus, ohne den Verstand eingeschaltet zu haben. Die Mandelkerne bewirken die rasche Kampf-Flucht-Reaktion bei subjektiver Gefahr, während beim ängstlichen Grübeln eine andere Hirnregion im Spiel ist.
- Der HIPPOCAMPUS ist der Ort unseres Fakten-Gedächtnisses, wo unsere Erfahrungen mit der Welt gespeichert sind, während in den Mandelkernen unsere damit verbundenen Gefühle und körperlichen Reaktionen abgespeichert sind.
Das Fatale bei Panikattacken ist die Koppelung von Fakten-Gedächtnis im Hippocampus (zum Beispiel die Erinnerung an eine massive körperliche Aktivierung in einem Supermarkt) und emotionalem Gedächtnis in den beiden Mandelkernen (zum Beispiel die Erinnerung an Herzrasen und Todesangst).
DER PRÄFRONTALE KORTEX, EIN TEILBEREICH DES FRONTALHIRNS –
DIE KONTROLLINSTANZ UNSERER ÄNGSTE
Das Frontalhirn, speziell der präfrontale Kortex, ist der zentrale Teil unseres planenden und steuernden Gehirns. Der präfrontale Kortex kann den Fehlalarm der beiden Mandelkerne, dass eine vermeintliche Gefahr bestehe, verstärken, auch wenn in Wirklichkeit nur körperliche Symptome ohne reale Bedrohung aufgetreten sind.
ANGST ALS KÖRPERLICHE REAKTION: KAMPF-FLUCHT-REAKTION BEI FURCHT, BLOCKADE BEI PANIK, DAUERANSPANNUNG BEI ANGST
DAS VEGETATIVE NERVENSYSTEM – DIE INSTANZ FÜR DIE UMSETZUNG VON ANGST UND PANIK IN KÖRPERLICHE REAKTIONEN
Angst ist eine objektiv messbare und subjektiv sehr unangenehme Reaktion unseres Körpers. Wenn in unserem Kopf Angst und Panik ausgelöst werden, erfolgen entsprechende körperliche Reaktionen, die durch das vegetative Nervensystem gesteuert werden. Dieses besteht im Wesentlichen aus zwei Ästen: Der Zweig des sympathischen Nervensystems ist für Aktivität und Leistung zuständig, der Zweig des parasympathischen Nervensystems sorgt für Ruhe, Erholung und Energieaufbau.
- Herzrasen, um mehr Blut in die Muskeln zu pumpen,
- Erweiterung der Blutgefäße der arbeitenden Muskulatur, um die Durchblutung zu verbessern,
- verstärkte Atmung, um den Körper besser mit Sauerstoff zu versorgen,
- erhöhte Muskelanspannung, um den Körper auf rasche Aktivität vorzubereiten,
- Schwitzen, um den zunehmend erhitzten Körper zu kühlen,
- Erweiterung der Pupillen, um Gefahren besser erkennen zu können,
- Blockierung der Verdauung, der Ausscheidung, des Immunsystems oder/und der sexuellen Reaktion, um den Körper auf optimale Leistungsfähigkeit der motorischen Muskeln vorzubereiten,
- Mundtrockenheit als Folge der aussetzenden Verdauungstätigkeit.
Das parasympathische Nervensystem hingegen dient grundsätzlich der Regenerierung des Körpers. Bei Übersteuerung können jedoch gleichsam als Notfallreaktion zwei weitere Verhaltensweisen hinzukommen: entweder ein...