Als ich noch ein Kind war
An einem Sonntag war ich schon zeitig wach, die Sonne schien so schön. Mich hielt nichts mehr in meinem warmen, weichen Bett. Die Vögel zwitscherten so fleißig und begrüßten die Sonne. Ich ging die Treppe hinunter in die Küche und ins Bad. Anziehen, waschen, schnell was Essen und raus. Es war ein Sommertag, wie er im Buche steht, kein Lüftchen wehte, nur Sonne und ein blauer Himmel. Mein erster Weg führte mich wie immer in den Garten, der sich vor dem Haus befand. Meine Mutti, die den schönen Namen Rosa trug, liebte Rosen über alles, ihren schönen Duft und erst die Farben. Die Rosen sind etwas ganz Besonderes, genau wie meine Mutti es war. Die Energie die meine Mutti ausstrahlte, ging durch den ganzen Garten, durch den Hof und das ganze Haus. Jeder konnte das spüren, meine Mutti bestand eigentlich nur aus einem großen Herz mit viel Liebe darin und noch mehr rund herum.
Ich werde niemals ihr Lachen und ihre gute Laune vergessen, die sie überall verbreitete. Genau wie meine Mutti mochte ich es, barfuß zu gehen, den ganzen Tag lang, auf der heißen Dorfstraße und auf dem Feld. Nur nicht auf den Stoppeln, die tun so was von weh (das sind gerade geerntete Weizen- oder Getreidefelder). Ich mochte es so gern zuzusehen, wenn die großen Mähdrescher auf dem Feld fuhren. Wir lebten in einem großen Haus mit einem Nebengebäude, hinter dem Haus liefen die Hühner, Enten und dahinter war noch ein Feld, bis zur Straße runter. Unser Hof war so sauber, das man sich mit einer Weißen Hose hinsetzten konnte, ohne sich schmutzig zu machen. Der Garten vor dem Haus war perfekt bis ins kleinste Detail. Alles war geplant und gezählt, jedes einzelne Stück Gemüse, über alles hatte mein Vater die Kontrolle. Einfach mal eine Tomate pflücken und essen - auf keinen Fall! Alles wurde gezählt und ausgerechnet. Und das sah jeder, man konnte meinen, der misst jedes Beet mit dem Zollstock. Tat er auch. Er war ein Mathegenie, er wusste schon im Frühling, was er im Sommer verdienen wird.
In dem Nebengebäude befand sich ein Stall für die Hühner, Schweine, Ochsen und Enten. Der gesamte Zoo musste jeden Tag versorgt werden. Ohne Fleiß kein Preis! Ich war bei meinen Eltern nicht allein, ich hatte noch drei große Brüder und eine Schwester, aber die waren bereits ausgezogen. Es war nur noch mein Bruder Andreas da, der sechs Jahre älter war wie ich. Er war gerade in einer Berufsausbildung und half zu Hause nur selten mit. Er meinte, wer das Geld verdient, solle auch die Arbeit machen. Aber ich war noch klein und half so gut es geht mit. Für meine Mutti machte ich alles, leider manchmal auch zu viel. Ich mistete die Schweine aus und fuhr die schwere Schubkarre raus oder schleppte zwei große Eimer voll mit Kohle über den Hof. Nach ein paar Jahren bekam ich einen krummen Rücken davon. Mit den Kindern im Dorf spielte ich nicht, dazu hatte ich keine Zeit, oder ich durfte nicht, wegen der Arbeit. In der Schule war das auch so, mit den Jungen spielte ich nicht gerne, die spielten immer nur Krieg oder Monster-Zeugs, das mochte ich nicht. Fußball interessierte mich schon gar nicht und da ich ein so lieber, hübscher Junge mit strohblonden Haaren war, war ich auch die Zielscheibe für die Jungen in der Schule. Egal von wo, irgendwer schoss immer etwas in meine Richtung, dann fiel das Bild von der Wand hinter mir runter und ich durfte es reparieren gehen. Und weil ich so ein kleiner Engel war, immer freundlich und hilfsbereit, meinten einige aus meiner Schule, sie könnten das ausnutzen. Ich ging sehr gern in die Schule, da konnten sich meine Beine mal ausruhen. Vor allem, wenn ich am Tag vorher den ganzen Tag übers Feld gelaufen bin, Rüben verziehen oder sowas. Unsere Klassenlehrerin mochte ich sehr, sie war nicht nur lieb, nein sie hieß auch noch so, nämlich Frau Liebe. Frau Liebe war wahrhaftig wie eine Ersatzmutter für mich, ich habe nie ihren Geburtstag verpasst und ihr immer frische Rosen aus unseren Garten mitgebracht. Meine Mutti hat sie in der Frühe noch schnell aus dem Garten abgeschnitten. Ich war ein Tagträumer und Frau Liebe hat mich immer dran genommen wenn sie es sah, aber sie hatte keine Chance, ich wusste immer um was es gerade ging. Wenn mich die Jungs mal wieder ärgerten und mal wieder was zu Bruch ging, musste ich zum Direktor. Ich war so oft beim Direkter, dass ich ihn bald duzte. Jedes Mal, wenn ich zu ihm geschickt wurde, wusste ich schon: jetzt kommt wieder seine alte Leier. Ich hörte sie mir nicht wirklich an, ich schaute einfach über ihn hinweg aus den Fenster. Aber das Beste war, dass der Direktor Herr Liebe der Ehemann von meiner so charmanten Lehrerin Frau Liebe war. Somit hatte er natürlich ein riesengroßes Plus bei mir.
Meine Klasse gefiel mir, es waren schon ein paar sehr niedliche Mädchen dabei, die mir gefallen haben. Eines Tages, es war gerade Hofpause und ich stand einsam abseits von allen, kam ein großes Mädchen zu mir und sagte: „Morgen um die gleiche Zeit bist du hinter dem Sportplatz dort am Tor und wartest auf mich. Ich habe etwas Besonderes für dich.“ Ich weiß nicht mehr, was mir sonst alles durch den Kopf ging, aber ich hatte keine Lust, auf sie zu warten. Also ging ich am nächsten Tag nicht hin. Aber so einfach war das nicht, denn sie erwischte mich in der Schule auf dem Gang und schimpfte wie wild auf mich, was ich mir denn einbilden würde, sie so zu versetzten. „Morgen erwarte ich dich pünktlich sonst zieh ich dir die Ohren lang!“ Also machte ich, was man von einem wahren Kavalier erwartete und ging zu dem blöden Tor. Es stand offen, sodass man hindurchgehen konnte. Ich hatte Angst, mir war das ganze nicht geheuer. „Wenn sie jetzt kommt und das Tor zumacht, stehe ich draußen und komme nicht wieder rein!“ Kaum gedacht, da kommt sie schon. Etwas breite Schultern, ein großer runder Kopf und so ganz und gar nicht mein Typ. Sie kam zu mir und sagte: „Komm hier hinter, wo uns niemand sehen kann!“ Sie war mindestens einen Kopf größer als ich. Sie beugte sich zu mir runter und ihr warmes Gesicht, die Lippen berührten meine Lippen und ich stand da und konnte und traute mich auch nicht, mich zu bewegen. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein, sie küsste und küsste und küsste mich, ah, war das eklig, dann ließ sie endlich von mir ab, schimpfte irgendwas, haute einfach ab und lies mich stehen wie einen Papierkorb. Den Geschmack im meinen Mund hatte ich noch Tage danach, einfach widerlich. Ich schwor mir nie mehr mitzugehen. Mir fällt gerade der Song von den Prinzen ein: „Küssen verboten”. Wie wahr. In der vierten Klasse waren auf einmal Mädchen sehr interessant für mich, aber die Mädchen interessierten sich auch für mich. Jeder sprach den anderen an, die Mädchen kicherten immer, da wusste man nicht genau, woran man war. Ich saß in der ersten Reihe am Fenster, mit einem hübschen, blonden Mädchen, wir verstanden uns auf Anhieb. Mir gefielen die Mädchen so sehr, dass ich mich in Kunst und in den Nähzirkel einschreiben ließ. Da gefiel es mir, weit und breit keine Jungs, nur Mädchen, eine schöner als die andere. Ich war nicht so geschickt wie die Mädchen und hatte Probleme mit dem Nähen, was nicht so einfach war, wie ich es dachte. Aber da brauchte ich nur mal laut zu jammern und - schwupps - war ich schon von den Mädchen eingekreist. Links und rechts, hinter mir und vor mir. Na, das gefiel mir! Manchmal hatte ich schon ein bisschen Angst, dass sie sich um mich schlagen, aber zum Glück kam es nicht so weit. Die Lehrerin war schließlich da, damit nichts passierte.
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Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, fuhr ich wie viele andere Kinder mit den Bus nach Hause. Als ich aussteigen wollte, fragte mich ein großer Junge aus der neunten oder zehnten Klasse, ob ich mit ihm nach Hause komme, er wollte mir etwas zeigen. Er wohnte nicht weit von der Bußhaltestelle, höchstens hundert Meter. Ich stieg die Treppen zu dem Haus hoch und ging durch die Wohnungstür. Wir saßen im Wohnzimmer und er zeigte mir ein Buch. Er sagte, in dem Buch sei ein Versteck. Er klappte das Buch auf und tatsächlich - darin befanden sich Schmuck, ein Schlüssel und Geld. Das Buch war innen ausgeschnitten, sodass man Dinge reinlegen konnte. Wir redeten darüber, wie reich er sei und wie viel Geld er besäße. Wenn ich möchte kann ich Fünfzig Mark verdienen, ganz leicht. Ich war aber nicht so dumm wie er vielleicht dachte, ich wusste genau, worauf er hinauswollte. Ich lehnte freundlich ab, mit der Begründung selbst genügend Geld zu haben. Er stutzte und bot mir Hundert Mark an. Ich brauche nicht viel tun, sondern ihm nur ins Schlafzimmer zu folgen. Ich lehnte wieder ab, worauf er lauter wurde. Ich mag es aber nicht, wenn mich jemand anschreit. Ich sagte ihm, das ich jetzt gehen muss. Ich hätte keine Zeit, vielleicht ein anderes Mal! Ich überlegte, wie ich ihm entkommen konnte, doch mit dem Folgenden rechnete ich nicht. Er hatte auf einmal eine Pistole in der Hand und hielt sie in meine Richtung! Eine kleine, handliche, schwarze Pistole, die in einen Abstand von zwei Metern auf mich gerichtet war. Ich wollte auf keinen Fall machen, was er von mir verlangte, deshalb wich ich Schritt für Schritt zur Tür zurück. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Ich redete irgendetwas, um ihn abzulenken und als ich dann die Tür erreichte, drehte ich mich blitzschnell um und rannte, was das Zeug hielt, die Treppe runter und raus auf die Straße. Ich hab ihn nie mehr gesehen, zumindest ging er mir aus den Weg.
Leider sollte das nicht das einzige Mal gewesen sein, viele Monate später geschah fast dasselbe. Aber dieses Mal war es ein Mädchen aus der neunten Klasse. Da ich Frauen und Mädchen besonders mochte, hatte ich auch Vertrauen. Mit ihrer weichen Stimme lockte sie mich zu sich nach Hause. Sie war so lieb,...