3. Epilepsie — was ist das eigentlich?
3.1. Begriffsbestimmung
In der Medizin kennt man vielerlei „Anfälle“, die nichtepileptischer Natur sind. Letztlich bedeutet der Begriff „Anfall“ ein mehr oder weniger plötzliches, episodisch auftretendes Ereignis, das in Form einer „Attacke“ den gewohnten, „sonst üblichen“ Zustand des betreffenden Menschen unterbricht. Anfälle brauchen keineswegs immer krankhafter Natur zu sein – beim „Wut-“ oder „Lach-Anfall“ handelt es sich in aller Regel um nichtpathologische, „menschliche“, nachvollziehbare Reaktionen auf bestimmte Ereignisse oder Situationen. Herz-, Gicht-, Migräne- oder Asthma-Anfälle beruhen zwar auf gesundheitlichen Störungen, haben aber nichts mit epileptischen Anfällen zu tun.
Was ist nun ein „epileptischer“, ein „cerebraler“ Anfall? („Cerebraler“ Anfall wird hier gleichbedeutend gebraucht mit „epileptischer“ Anfall; cerebrum [lat.] = das Gehirn; cerebral = das Gehirn betreffend.) Ein epileptischer Anfall ist eine von vielen möglichen pathologischen Reaktionsformen des Gehirns. Er ist die unspezifische Reaktion („Antwort“) des Gehirns auf einen störenden, irritierenden oder schädigenden Reiz („unspezifisch“ bedeutet dabei, dass allein auf Grund des Anfalls, seines Erscheinungsbildes und meist auch seiner Ausprägung in der Hirnstromkurve nicht auf die Ursache des Reizes, also nicht auf die Art der Irritation oder Schädigung, geschlossen werden kann); diese Reiz-Antwort geht dabei mit pathologischen, d.h. krankhaft übersteigerten elektrochemischen Erregungsvorgängen der Nervenzellen (Ganglienzellen) des Gehirns einher.
Das Erscheinungsbild dieser Gehirnreaktion, also die Reiz-Antwort im Sinne eines epileptischen Anfalls, kann dabei sehr unterschiedlich sein; das Anfallsbild kann motorische, sensible, sensorische, psychische, vegetative oder auch eine aus diesen Symptomen kombinierte Qualität zeigen (s. später).
Von Epilepsie spricht man dann, wenn bei einem Menschen epileptische Anfälle immer wieder spontan, d.h. unprovoziert, ohne unmittelbar erkennbare Auslösung, auftreten (chronisch rezidivieren). Heute wird diese Epilepsie-Definition oft in dieser Form ergänzt: … oder wenn es nach einem ersten spontanen Anfall nicht unwahrscheinlich ist, dass auch in Zukunft weitere Anfälle auftreten werden. (Auf eine solche Möglichkeit weiterer Anfälle kann z.B. das klinische Bild des ersten Anfalls und/oder die Hirnstromkurve hinweisen.)
Da aber Ursache, Erscheinungsbild der einzelnen Anfälle, Verlauf, Therapiemöglichkeit und Prognose (vermutlicher Ausgang der Krankheit) eines Anfallsleidens sehr unterschiedlich sein können, spricht man nicht von der Epilepsie, sondern von Epilepsien.
3.2. Physiologische und pathophysiologische Vorgänge
Die Funktion einer Nervenzelle ist im Wesentlichen bestimmt durch elektrische und chemische Vorgänge im Zellleib (Zytoplasma), an der Zellmembran und in der unmittelbaren Umgebung der Zelle (eine einzelne Nervenzelle mit kurzen Fortsätzen [Dendriten] und einem langen Fortsatz [Neurit] wird ‚Neuron‘ genannt). Eine ruhende, inaktive Nervenzelle (Neuron) ist elektrophysiologisch dadurch gekennzeichnet, dass die Außenseite der Membran (Zellwand) gegenüber dem Inneren der Zelle eine positive Ladung aufweist; die Höhe dieses Spannungsgefälles (Ruhepotential) zwischen dem Zellinnern und der Zellaußenseite beträgt rund 70 mV (mit negativer Polarität im Zellinnern).
Bei der tätigen, aktiven Nervenzelle beobachten wir eine Umkehrung dieser Verhältnisse: Es kommt zu einem Absinken des Potentials (Entladung, Depolarisation); sobald die Höhe des Potentials eine bestimmte Schwelle (Membranschwelle) unterschritten hat, bricht das restliche Membranpotential völlig zusammen – bis hin zu einer Potentialumkehr (negative Polarität jetzt an der Membranaußenseite; im Inneren der Zelle kann jetzt eine Positivität bis plus 30 mV gemessen werden). Ist es zum Zusammenbruch des ursprünglichen Potentials gekommen, wird von der Zelle ein sog. Aktionspotential ausgesandt: Die an der erregten Nervenzelle erfolgten Potentialänderungen werden weitergeleitet. Aktionspotentiale dienen im Nervensystem zur Weitergabe von Signalen (Information).
Das Membranpotential wird im Wesentlichen durch Ionen, also durch elektrisch geladene Atome oder Moleküle hervorgerufen, die sich im Zytoplasma und außerhalb der Zelle befinden. Überwiegen im Inneren beispielsweise die negativ geladenen Teilchen, so resultiert ein außen positiv geladenes Membranpotential (Ruhepotential; die Nervenzelle ist nicht aktiv). Durch sog. Ionenkanäle kann ein Austausch der Ionen von außen nach innen und umgekehrt stattfinden.
Die Steuerung an den Ionenkanälen, denen heute ein Hauptaugenmerk der neurophysiologischen und neurochemischen Forschung gilt, erfolgt entweder durch Spannungsänderung im Bereich der die Kanäle bildenden Proteine (spannungsgesteuerte Ionenkanäle) oder durch definierte chemische Substanzen (chemisch gesteuerte Ionenkanäle). Diese chemischen „Kanal- oder Schleusenwärter“ nennt man Neurotransmitter. Man unterscheidet erregende (exzitatorische) und hemmende (inhibitorische) Transmitter-Substanzen: Es gibt Neurotransmitter, die eine Nervenzelle auf die oben skizzierte Weise erregen (Depolarisation; Aussendung eines Aktionspotentials), und solche, die eine Nervenzelle in ihrem Ruhepotential stabilisieren. Zu den exzitatorischen Transmittern gehört insbesondere die Glutaminsäure (Glutamat); als inhibitorische Substanzen wurden z.B. Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) und Glycin erkannt.
Bei einer epileptischen Nervenzelle erfahren die hier skizzierten physiologischen Erregungsvorgänge eine pathophysiologische Veränderung: Die Depolarisation (Entladung) ist besonders intensiv und löst nicht nur ein Aktionspotential, sondern eine hochfrequente Serie von Aktionspotentialen aus („die epileptische Nervenzelle feuert“). Über eine Phase der Unerregbarkeit (Hyperpolarisation) kommt es anschließend wieder zur Herstellung des ursprünglichen Ruhepotentials (Repolarisation). Diese Folge von unterschiedlichen Polarisationsvorgängen mit lang anhaltender Depolarisation und Aussendung zahlreicher Aktionspotentiale bei der epileptischen Nervenzelle nennt man paroxysmale Depolarisation oder „Paroxysmal Depolarisation-Shift (PDS)“; sie ist der wesentliche Mechanismus bei der Entladung einer epileptischen Nervenzelle.
Diese sehr kursorisch beschriebenen elektrischen Vorgänge an der Nervenzelle sind gekoppelt mit Ionenströmen, wobei insbesondere Natrium-, Kalium-, Kalzium- und Chlorid-Ionen eine wesentliche Rolle spielen. Bei der epileptischen Nervenzelle geht die paroxysmale Depolarisation mit einem massiven Strom von (positivgeladenen) Kalzium-Ionen ins Zellinnere einher. Diesem Kalzium-Einstrom kommt nach neuesten Erkenntnissen bei der epileptischen Entladung eine entscheidende Bedeutung zu. In der Phase der Hyper- und Repolarisation, in der die ursprünglichen Ladungsverhältnisse an der Nervenzelle wieder hergestellt werden, strömen vor allem (positivgeladene) Kalium-Ionen aus dem Zellinnern nach außen und (negativgeladene) Chlorid-Ionen nach innen.
Irritierende oder schädigende Reize, die auf das Gehirn einwirken, können nun zu einer „epileptischen Reaktion“, also zur paroxysmalen Depolarisation cerebraler Nervenzellen – der Neurone – führen. Wenn eine genügend große Zahl von Neuronen, die untereinander über Schaltstellen (Synapsen) in Verbindung stehen, gemeinsam zur paroxysmalen Depolarisation veranlasst werden (synchrone paroxysmale Depolarisation), dann kann hieraus zum einen ein sichtbares epileptisches Geschehen (epileptischer Anfall) resultieren; zum anderen kann die paroxysmale Depolarisation über exzitatorische Bahnen zu anderen Nervenzellen weitergeleitet werden, zu Neuronen-Verbänden also, die zunächst von der primären Irritation oder Störung nicht betroffen waren – das epileptische Geschehen breitet sich aus! Inhibitorische Neuronen können eine weitere Ausbreitung verhindern.
Zusammengefasst kann eine PDS entstehen durch eine:
• Störung der intra- und extrazellulären Ionenverhältnisse;
• Störung der Zellmembran-Funktion, einschließlich der Kanalfunktionen;
• Störung des biochemischen Gleichgewichts zwischen hemmenden (inhibitorischen) und erregenden (exzitatorischen) Transmitter-Substanzen.
3.3. Oligo-Epilepsie und Gelegenheitsanfälle
Es gibt durchaus Menschen, die in ihrem Leben nur einen oder sehr wenige Anfälle erleiden – bei ihnen spricht man nicht von einer (chronischen) Epilepsie, die ja definitionsgemäß von spontan wiederkehrenden (rezidivierenden) Anfällen geprägt ist. Die Prävalenz für „ein-malige“ Anfälle im Leben eines Menschen liegt bei etwa 5 %. Erleidet jemand mehr als nur einen, aber insgesamt doch sehr selten (z.B. ein- oder zweimal im Jahr), spontanen Anfall (ohne unmittelbar erkennbare Auslösung), so spricht man von einer Oligo-Epilepsie...