Die Kapitel 3 und 4 befassen sich jeweils mit der Erforschung von Jugendsprache in Deutschland. Doch hier tritt bereits das erste Problem auf: Was ist genau ist eigentlich „Jugendsprache“? So konstatiert Androutsopoulos: „Eine gewisse Uneinheitlichkeit herrscht über den terminologischen wie auch den begrifflichen Status des Forschungsgegenstandes.“ (Androutsopoulos 1998: 32).
Es erfolgt zunächst ein kurzer historischer Überblick über die wissenschaftliche Tradition der Jugendspracheforschung im deutschen Sprachraum, dem sich eine Übersicht über die zwei wesentlichen Methoden – der lexikalischen und der ethnografischen – bei der Erforschung von Jugendsprache anschließt.
Ich möchte zudem noch darauf hinweisen, dass die Strukturen der deutschen Jugendsprache selbstverständlich auch in der Zeit bis etwa 1993 von Bedeutung für die Wissenschaft waren, ich behandle sie aber der Übersichtlichkeit halber erst unter Punkt 4.2.1.
„Jugendsprachen sind nicht nur aktuelle Phänomene der Gegenwartssprache; sie
sind vielmehr historische Phänomene, die in verschiedenen Ausprägungsformen bereits
in früheren Entwicklungsetappen der Sprachgeschichte dokumentiert und analysiert
wurden.“ (Neuland 2003a: 91).
Das folgende Kapitel will einen kurzen historischen Überblick über die Erforschung von Jugendsprache im deutschen Sprachraum geben, insbesondere der Schüler- und Studentensprachen unter sondersprachlichen Fragestellungen. So dient die Aufarbeitung dieser historischen Aspekte der Jugendsprache auch aktuellen Erkenntnisinteressen (Neuland 2003a: 91).
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Sondersprache der studentischen Jugend untersucht, wobei es sich bei diesen Studenten um männliche, gesellschaftlich gut situierte Personen handelte. Die Studentensprache galt also als Sprache eines bestimmten Alters und Standes (ebd: 91).
Es ging bei der Erforschung vor allem um die planmäßige Sammlung von Begriffen aus dem studentischen Wortschatz wie etwa das Werk „Academica juventus. Die deutschen Studenten nach Sprache und Sitte“ von 1878 dokumentiert, deren Verfasser, soweit bekannt, Theologen, Juristen, Mediziner und Philosophen waren, die selbst aus dem Studententum hervorgegangen waren (ebd.: 92).
Als Grundlage dienten überwiegend persönliche Anschauungen und literarische Belege aus der sogenannten „burschikosen“ Literatur, „den seit dem Ende des 18. Jahrhunderts schriftlich fixierten Studentenkomments“ (ebd: 92).
Eine eigentliche wissenschaftliche Erforschung der historischen Studentensprache datiert allerdings erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Meiers Untersuchungen der Hallischen Studentensprache (1894) mit dem vorrangigen Ziel, zu untersuchen, welchen Anteil die Studentensprache an der Gesamtsprache hat[7], wobei die Konzentration besonders auf etymologischen und lexikologischen Fragestellungen lag (ebd.: 93).
Dabei wurden die regionalen Differenzierungen (v.a. in Bezug auf die unterschiedlichen Universitäten) noch kaum berücksichtigt (ebd.: 97).
Es wird konstatiert, dass die Verwendung anstößiger Begriffe im studentischen Sprachstil aus der Lust an Normverstößen herrühre sowie der oppositionellen Haltung gegenüber den Konventionen der dominanten Sprachkultur und Lebensweise[8] (ebd: 108).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine Nebenlinie in der Sondersprachenforschung: die Erforschung von Schülersprache (auch Pennälersprache genannt), die ihre Ergebnisse bereits aus eigenen Nachforschungen gewann (Henne 1986: 25). So will Melzer „in kritischer Abgrenzung von reinen Wörterverzeichnissen der Schülersprache mit den spezifischen Ausdrucksweisen das spezifische, zeitlich und örtlich gebundene Schülerleben darstellen“ (Neuland 2003a: 94).
In den Jahren des Faschismus finden die Forschungen zur Schülersprache keine Fortsetzung, erst mit dem 1957 von Ohms verfassten Essay „Vorspiel“ wird diese Tradition wieder aufgegriffen.
„Ohms präsentiert sprachliche Beispiele (z.B. Synonyme für ‚prima’: pfundig, wuchtig...) und versucht, die dieser ‚jugendlichen Umgangssprache’ zugrunde liegende ‚Phantasie’, aber auch die ‚Denkfaulheit’ vieler Jugendlicher herauszuarbeiten.“ (Henne 1986: 222).
Neuland kommt zu der Schlussfolgerung, dass „die historischen Schüler- und Studentensprachen als zeit- und sozialgeschichtliche Vorläufer in der Entwicklung von heutigen Jugendkulturen und Jugendsprachen gelten können“. (Neuland 2003a: 94).
Grundsätzlich werden bei der Erforschung von jugendlichen Sprechweisen zwei unterschiedliche methodische Herangehensweisen beschrieben bzw. angewendet.
Zum einen handelt es sich dabei um die lexikalische Methode, die bereits unter Punkt 3.1 angesprochen wurde und bis Anfang der 90er Jahre die grundlegende Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen über Jugendsprache darstellte; daran schließt sich (sowohl in meiner Arbeit als auch in der Forschungspraxis) die ethnografische Methode an, die Methode der teilnehmenden Beobachtung.
Pape forderte bereits 1970 der Form der reinen Lexikographierung, also dem Sammeln und Sichten einzelner lexikalischer Belege, des jugendlichen Wortschatzes keine Chance zu geben, sondern vielmehr auch die emotionale Seite dieses Wortschatzes zu berücksichtigen und eine soziale und regionale Eingrenzung vorzunehmen (Henne 1986: 224).
„Wo die sozio- und pragmalinguistische Perspektive fehlt, kommt es zu Fehlurteilen über Sprache und Sprecher“ (Pape 1970, zitiert nach: Schlobinski/Kohl/Ludewigt 1993: 38).
Doch gerade Anfang der 70er Jahre erlebte die Jugendspracheforschung an sich (in Folge der Studentenrevolten) und auch die lexikalische Methode einen Höhepunkt.
1972 erschien z.B. das Wörterbuch „Schülerdeutsch“ von Marianne und Heinz Küpper mit einem Aufruf an alle, die „der besonderen Welt- und Lebensauffassung der Schüler das Daseinsrecht“ zuerkennen (Küpper & Küpper 1972, zitiert nach: Henne 1986: 225) den Wortschatz zu ergänzen „damit auf sprachlichem Weg das Verständnis für die heutige Jugend vertieft wird“. (Küpper & Küpper 1972, zitiert nach: Henne 1986: 225).
Dieser Aufruf verdeutlicht in besonderer Weise die Auffassung, die hinter diesem Ansatz steht, nämlich, dass die Kenntnis über (vermeintliche) jugendsprachliche Ausdrücke dazu führt, die Jugend (als ein Gesamt ) verstehen zu können.
Die aktuellere linguistische Jugendspracheforschung wird vor allem mit der Preisfrage der Akademie für Sprache und Dichtung im Jahr 1980 eingeleitet: „Spricht die Jugend eine andere Sprache?“ (Neuland 2003b: 131).
Bis zum Anfang der 80er Jahre war die Jugendspracheforschung ein noch nicht „legitimierter Forschungsgegenstand“ (Henne 1981, zitiert nach: Androutsopoulos 1998: 1).
Doch bis in die 80er Jahre bestanden die sprachwissenschaftlichen Konzepte darin, sprachliche Einzelphänomene vor allem mit Hilfe von Befragungen und Fragebögen zu ermitteln und zu dokumentieren. Es gab zwar erste Versuche einer systematischeren Erfassung von Jugendsprache (u.a. die Erfassung pragmatischer Aspekte wie der Verwendung von Begrüßungsformeln oder Intensivierungen), diese waren aber noch recht unsystematisch (Henne 1986: 225).
So bestand ein zentrales Problem in der Entwicklung geeigneter Methoden im Sinne einer sprachgebrauchsorientierten Linguistik, um den Sprachgebrauch Jugendlicher adäquat erfassen zu können.
Die favorisierte Methode bestand nun darin, die Vorgehensweise der Lexikologie als einem Instrument zur Erfassung des Sprachgebrauchs zu nutzen.
„Der Lexikologie kommt im Prozeß [sic] der an der sprachlichen Realität und somit am Sprachgebrauch orientierten Modellierung des Erfassens von Wortschätzen eine zentrale Aufgabe zu.“ (Schlobinski 2003: 233).
Dabei müssen bezüglich der empirisch-lexikologischen Voraussetzungen einige kritische Fragen bedacht werden. So geht es zunächst um die Frage der Beschaffung geeigneter empirischer Belege, die die Grundlage eines Wörterbuches bilden sollen sowie anschließend darum, welche empirischen Verfahren für welche Problemstellungen angewendet werden sollen und in wieweit die Ergebnisse für den Sprachgebrauch einer Varietät (in diesem Fall der Jugendsprache) verallgemeinerbar sind (Schlobinski 2003: 235).
Ergebnisse dieser Einzelfallbeobachtungen und der Auswertung „fragwürdiger Fragebogen“ (Schlobinski/Kohl/Ludewigt 1993: 11) waren Publikationen von Wörterbüchern wie etwa von Claus-Peter Müller-Thurau, deren Botschaft folgende war: „Lerne die Jugendsprache und du...