Einleitung
Über Auswahl und Aufbau
Dieses Buch – »Erlebte Literatur« – möche ein Gegenstück sein zu meinen beiden Bänden: »Erlebte Musik«. Es enthält die Summe, die Dokumentation meiner Bemühungen um die werdende deutschsprachige Nachkriegsliteratur.
Der Titel meint nicht bloß das Leseerlebnis, sondern auch das Miterleben. Alle Autoren, von deren Büchern oder Gesamtwerken hier die Rede sein wird, habe ich persönlich kennengelernt, gesehen, gesprochen, als Vortragende oder Zelebritäten erlebt. Thomas Mann begegnete ich einst in Frankfurt, hörte seine berühmt gewordenen Reden (wagte aber als blutjunger Literat auf einer S. Fischer-Party leider nicht, ihn anzusprechen, obwohl ich ihn so bewunderte und er sich wahrscheinlich über die Verehrung eines jungen Deutschen, der ihn wirklich gelesen hatte, gefreut hätte). Bertolt Brecht sah ich im Hause Suhrkamp … »Wie geht es Ihnen, Brecht?« fragte der alte Suhrkamp den Besucher aus der DDR etwas maliziös. »Sehr gut, denn ich habe ein gutes Gewissen«, antwortete Brecht spitz und wie aus der Pistole geschossen. Auch Gottfried Benn trat während der fünfziger Jahre, freilich immer sehr leise, als Redner oder Rezitator öffentlich auf- und ich hörte ihn.
Mit Max Frisch bin ich fast befreundet, seit ich ihn, Mitte der fünfziger Jahre – ich war damals Hörspieldramaturg –, in Zürich besuchen durfte, und zwar um ihn zu bitten, er möge doch aus seiner Tagebuchparabel »Der andorranische Jude« einen Hörspieltext machen. Das tat er dann zwar nicht – wohl aber brachte ihn mein Verlangen vielleicht doch auf die Idee, sein später so berühmtes »Andorra«-Drama zu schreiben. Und daß ich mit vielen jüngeren Autoren gut bekannt oder gar befreundet war oder bin, zumal wenn sie der Gruppe 47 nahestanden, zu deren Tagungen H. W. Richter mich seit 1953 einlud, ließ eine Tuchfühlung entstehen, auf die man als Kritiker nicht verzichten sollte, falls sie nicht zur Befangenheit oder zu falscher Kameraderie fuhrt.
So behandelt dieses Buch nur Schriftsteller, die nach 1945 in der deutschsprachigen Literatur eine Rolle spielten. Selbstverständlich »wirkte« auch ein Kafka, ein Musil oder ein Rilke in die Nachkriegszeit hinein. Aber diese Großen waren 1945 bereits tot.
Für mein Bestehen auf Gegenwärtigkeit möchte ich folgenden Grund nennen: So häufig auch in einer Person literarische und musikalische Interessen vereinigt sind – nie habe ich beobachten können, daß solche Doppelt-Engagierten sich auf die gleiche Weise verhalten zu Musik und Literatur! Im Bereich der Musik reagiere ich leidenschaftlich »museal«, nämlich traditionszugewandt, der großen Klassik ergeben. Bei der Literatur ist es genau umgekehrt. Da interessierte und interessiert mich die zeitgenössische Produktion unmittelbar, ja weit heftiger als die große Vergangenheit. Natürlich habe ich bedeutender Musik, die im 20. Jahrhundert und nach 1945 komponiert worden ist, immer aufgeschlossen zu begegnen versucht. Schönberg und Strawinsky, Hindemith und Schostakowitsch, Karl Amadeus Hartmann und Benjamin Britten, Henze und Prokofjew, Kagel und Bernd-Alois Zimmermann, Nono und Ligeti (um nur Komponisten zu nennen, die nach 1945 noch lebten und produzierten) sind ja wahrlich keine Sektierer gewesen, sondern Repräsentanten unserer Welt: Sie lösten dem die Zunge, was viele Zeitgenossen erfüllt oder bedrängt … Trotzdem vermochten mich all die Werke, die sie einer schwierigen Kompositions-Situation erfolgreich abtrotzten, nie auch nur annähernd so zu bewegen, zu fesseln, wie die Musik der großen Vergangenheit zwischen Bach, Brahms und Bruckner. Doch ein neuer Roman von Frisch oder Grass, ein neues Stück von Beckett oder Ionesco, ein neuer Essay von Sartre, Hans Magnus Enzensberger oder Reinhard Baumgart waren und sind mir nach wie vor wichtiger als alle weiß Gott unbezweifelbare Größe des Weimarer Gestern oder des Elisabethanischen Vorgestern. Darum diese offenkundig inkonsequenten, einander widersprechenden Auswahlprinzipien. Ich bevorzuge einerseits die »tote« Musik (die überwältigend lebt) und andererseits die »lebendige« Literatur (die keineswegs immer überwältigt).
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Allen hier gebotenen Einzeltexten oder Gesamtdarstellungen sind Standortbestimmungen der jeweiligen Autoren vorangestellt. Knappe Thesen, Hinweise, Interpretationshilfen, 1988 formuliert. Sie sollen dem interessierten und aufgeschlossenen Leser – damit sind weder Berufsliteraten oder Buchkritiker noch jene Germanistik-Professoren gemeint, die solcher Unterstützung nicht bedürfen, sondern vielmehr neugierige Liebhaber, Anfänger, von allzu vielem »Stoff« Überforderte – ermöglichen, sich in einen Autor hineinzudenken, hineinzufinden. Zu Beginn meiner Würdigung der Schriftstellerin Diana Kempff habe ich darzustellen versucht, in welcher (ach so unerzwingbaren) Weise literarisches Fasziniertsein sich ergibt – eine Beziehung, deren plötzliches Entstehen sich vielleicht plausibel machen, deren »Gesetzmäßigkeit« oder gar Notwendigkeit sich aber unmöglich beweisen läßt.
Alle Standortbestimmungen und auch einige der größeren, hier mitgeteilten Beiträge sind unveröffentlicht; sämtliche neueren Texte wurden im Hinblick auf dieses Buch geschrieben, wenn auch gelegentlich vorher gesendet oder gedruckt, und dann für die »Erlebte Literatur« überarbeitet. Viele der hier mitgeteilten Rezensionen standen zuerst in der »Süddeutschen Zeitung«. Die ausgewählten Texte haben den Ehrgeiz, durch geduldiges, Einzelheiten ernst nehmendes Erwägen der literarischen Qualitäten hauptsächlich moderner Romane den Zugang zu deutschsprachiger Nachkriegsliteratur zu erleichtern, ihren Rang plausibel zu machen. Da Theater-Aufführungen und Literaturerlebnisse doch sehr verschiedene Dinge sind, werden Dramen etwas seltener behandelt. Ausnahmen: Bölls zu früh erschienenes, ökologische Schicksalsfragen antizipierendes, leider vergessenes Stück »Ein Schluck Erde« sowie Dramen von Dürrenmatt und Peter Weiss. Auch auf Lyrikinterpretationen ließ ich mich nur ausnahmsweise ein.
Weil das Buch »Erlebte Literatur« heißt, enthält es keinerlei radikale Negativurteile oder Verrisse. Ganz schlechte oder hoffnungslos mißlungene Bücher »erlebt« man nicht. Selbst kritisch wirkende Analysen, wie der »Maßnahme«-Essay, den ich für die »Neue Rundschau« schrieb, oder die Nachprüfung eines Arno-Schmidt-Textes, die im »Bargfelder Boten« erschien, sollten nicht verhehlen, daß ich Brechts »Maßnahme«-Lehrstück für einen genialen Theater-Text und Arno Schmidts »Caliban über Setebos« für ein brillantes, wenn auch durchschaubares, entzauberbares Prosastück halte.
Wäre dieses Buch eine Literaturgeschichte der Nachkriegszeit, hätte auf Vollständigkeit Wert gelegt werden müssen. Literaturgeschichten geben Gesamtübersichten, fassen Entwicklungen zusammen, widmen jedem irgendwie in Frage kommenden Autor einen Hinweis und jedem Werk einen oder mehrere Absätze. Dabei erscheint das einzelne Buch meist als Beleg für eine literarische Strömung, als literarische Antwort auf eine politische, gesellschaftliche oder ästhetische Gestimmtheit. Gesamtdarstellungen können und dürfen sich beim einzelnen unmöglich so ausführlich aufhalten, wie wir hier etwa bei Thomas Manns »Doktor Faustus« oder bei Peter Handkes »Wiederholung« verweilen.
Eine Sammlung von lauter Einzelanalysen freilich läßt den Leser im Stich, läßt ihn mit der Würdigung allein, sagt ihm nicht oder zu wenig, wo und wie das einzelne Buch situiert ist in der Entwicklung des Œuvre oder gar in der Gesamtheit einer literarischen Epoche.
Um das einzelne zu entfalten, aber auch um dem berechtigten Verlangen nach der Darbietung von Zusammenhängen und Entwicklungen zu entsprechen, biete ich über die Autoren, die hier vorgestellt werden, manchmal mehrere verschiedenartige Texte an. Im Anhang stehen kurze Werkbiographien aller hier behandelten Autoren.
Über Schriftsteller, die in der DDR leben, findet der Leser nichts. Sie gehörten und gehören bedauerlicherweise nicht zu den Künstlern, deren Werden, Irren, Wirken, Existieren mir in lebendiger Tuchfühlung mitzuerleben möglich war. Daß Siegfried Lenz, Alfred Andersch und Wolfgang Koeppen auch fehlen, bedarf gewiß der Erklärung. So sehr ich die Lauterkeit, Heiterkeit und Distanz meines masurischen Landsmannes Lenz auch schätze: Zum »Leseerlebnis« wurden mir seine Romane nicht hinreichend. Ihre sprachlich-artistische Qualität betraf mich nicht derart, daß ich sie in einen Zusammenhang stellen könnte mit Thomas Mann oder auch mit Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger, Diana Kempff. Bei Alfred Andersch, dessen freundliche Unterstützung mir einst sehr half, vermag ich die Fülle, die Vieldeutigkeit, das gleichsam Böllsche Unterholz nicht zu erkennen. Bei Wolfgang Koeppen hinwiederum scheinen mir artistischer Rang und phantasievolle, beziehungsreiche Assoziationskunst unleugbar, aber Koeppens Romanfiguren wirken auf mich seltsam starr, allegorisch, leblos, requisithaft. Darum überraschte mich der Erfolg von Koeppens Reisebeschreibungen wirklich nicht. Koeppens Menschen aber schienen mir – pointiert formuliert – immer nur visuelle Bestandteile einer epischen Szenerie zu sein.
Selbstverständlich wollen diese kurzen Pauschalsätze über respektable Schriftsteller nicht und niemanden zu einer Verwerfung folgenreicher deutscher Schriftsteller animieren – sie möchten vielmehr dartun, warum Andersch, Koeppen und Siegfried Lenz für mich nicht zur »Erlebten Literatur« gehören und darum hier fehlen. Weshalb sich indessen die mehr oder weniger...