12.
Als ich zu Anfang August 1852 über Echterdingen, wo man Mittagspause zu machen pflegte, über die sieben Hügel nach Stuttgart, von da aus mit der Eisenbahn nach Heilbronn und dann mit dem Neckardampfboot nach Heidelberg fuhr, befand ich mich nicht in der beneidenswertesten Gemütsverfassung. Wenn ich mir genau das durchlebte Jahr überlegte, so mußte ich mir sagen, daß ich nichts Zusammenhängendes und praktisch Brauchbares gelernt hatte. Ich hatte mir einiges angeeignet, was man etwa allgemeine Bildung nennen konnte: oberflächliche Bruchstücke der menschlichen Anatomie, auch der Physik und Chemie, in der Botanik war ich nicht einmal soweit gediehen, daß man davon hätte reden können. Denn Mohl war ein großer und berühmter Forscher, aber ein Lehrer, dem es ziemlich gleichgültig schien, ob seine Zuhörer etwas bei ihm lernten. Daneben hatte ich eine ziemlich ungeregelte Lektüre aus schöner Literatur und einzelnen Wissenschaften betrieben, und dazu kam schließlich, wie ein eratischer Block auf freiem Felde, ein Stück tiefeindringender Gehirnanatomie, die mit meinen übrigen anatomischen Kenntnissen außer allem Verhältnis stand. So blickte ich auf ein Jahr meines Studiums zurück mit dem Gefühl, noch einmal von vorn anfangen zu müssen, wenn ich überhaupt in meinem erwählten Fach weiterkommen wollte. Hierzu trat, daß mir keineswegs eine unbegrenzte Zeit für mein weiteres Studium zur Verfügung stand. Meine Mutter als Pastorenwitwe war äußerst beschränkt in ihren Mitteln, und es war im Familienrat beschlossen, daß ich im ganzen innerhalb eines Zeitraums von 4 Jahren, damals für das Studium der Medizin noch eben ausreichend, dieses vollenden sollte. Davon war ein Jahr verflossen, in welchem der Etat, welcher dem danach bemessenen Voranschlag entsprach, bereits beträchtlich überschritten war. Es blieben also 3 Jahre, in denen bei sparsamster Einrichtung das Versäumte nachgeholt werden mußte. Das war eine schwierige Lage. Doch die wundervolle Neckarfahrt ließ mich Mut fassen. Es kam mir wie eine plötzliche Erleuchtung die Überzeugung, daß es vor allem not tue, meiner Arbeit ein bestimmtes Ziel zu setzen und danach meine Studien auf das strengste zu ordnen. Schon in der Tübinger Zeit wurde es mir zweifelhaft, ob der Beruf des praktischen Arztes der für mich geeignete sei. Was mich vor allem anzog waren gerade diejenigen Gebiete, die eigentlich außerhalb der praktischen Fächer der Medizin lagen und ihrem ganzen Charakter nach zu den Naturwissenschaften zählten: die Anatomie und in noch höherem Grade die Physiologie, zu der mich die einzigen Studien, die ich bis dahin einigermaßen ernsthaft betrieben hatte, die gehirnanatomischen, anregten.
Anatomie und Physiologie lagen damals noch fast auf allen Universitäten in der Hand eines einzigen Vertreters oder wenigstens eines Hauptvertreters, neben dem etwa noch ein Extraordinarius speziell für Physiologie angestellt war: so in Tübingen, wo Arnold im Winter die Anatomie, im Sommer die Physiologie regelmäßig las, die erstere mit Demonstrationen, die letztere mit Experimenten reichlich ausgestattet, während neben ihm Vierordt die Physiologie vortrug, aber während meiner Studienzeit dieses Kolleg bereits wieder aufgegeben hatte, da er neben dem das Fach vertretenden Ordinarius nur wenig Zuhörer fand, wie dies ähnlich an den meisten andern deutschen Universitäten zutraf. Auch die hauptsächlich seit dem Ende der vierziger Jahre berühmt gewordenen Physiologen Ernst Brücke, Carl Ludwig und Hermann Helmholtz waren von der Anatomie oder von der Verbindung beider Professuren ausgegangen und hatten sich erst einige Jahre später ausschließlich der Physiologie zugewandt, Emil Du Bois Reymond, der vierte unter den Begründern der modernen Physiologie, hatte dieses Fach bis zum Tode von Johannes Müller (1858), der ebenfalls noch beide Hauptprofessuren vereinigte, nur als Extraordinarius vertreten. Johannes Müller hatte sogar mit jener noch die Professuren der vergleichenden und der pathologischen Anatomie verbunden. Die Trennung dieser Fächer begann daher sich gerade in der Zeit allmählich durchzusetzen, in welcher ich die Universität bezog; und in der gleichen Zeit ereignete sich nur darin eine für die Verselbständigung der Physiologie bedeutsame Wendung, daß zuvor die Anatomie als das Hauptsach, die Physiologie mehr als ein Nebenfach der gleichen Professur gegolten hatten, wogegen nun bei einigen der jüngeren Anatomen und Physiologen infolge ihrer Arbeiten eine Umkehrung dieses Verhältnisses die jetzt allgemein gewordene Verselbständigung der Physiologie einleitete. Demnach kann man die Jahre 1848 bis 1851 als die Zeit der Begründung der neueren Richtung der Physiologie und die deutsche Wissenschaft als die ausschließliche Stätte ihres Ursprungs bezeichnen, bei dem sie zunächst eine wesentlich physikalische Richtung einschlug. Ihr ist dann eine zweite, jüngere Generation in Pflüger, Heidenhain, Rosenthal u.a. nachgefolgt, die um dieselbe Zeit ihre Studien begannen, als ich auf der Rückkehr von Tübingen den Entschluß faßte, die Physiologie zu meinem Lebensberuf zu wählen. Friedrich Arnold, der mich in Tübingen in die Physiologie eingeführt hatte, gehörte, ähnlich wie Johannes Müller, die Brüder Ernst Heinrich und Eduard Weber, noch der älteren Generation an, bei der die Physiologie im wesentlichen ein Nebenfach der Anatomie gewesen war. Immerhin hat Arnold insofern in ihr eine bedeutsame Stellung eingenommen, als er eine für die künftige Physiologie besonders wichtige Methode, die Vivisektion, mit Meisterschaft handhabte. Aber es war dies eine Seite, die ihrer Natur nach auf die Vorlesung beschränkt war, während ihm die physikalische Vorbildung versagt war, die für die selbständige Begründung einer Physiologie als Wissenschaft erfordert wurde.
Damit war mir, als ich im Herbst 1858 in mein drittes Semester eintrat, deutlich der Weg vorgezeichnet, den ich von nun an in meinen Studien zu gehen hatte. Dieser Weg war freilich nicht derjenige, zu dem der Rückstand, in welchem ich bis dahin gegenüber meinen fleißigeren Kommilitonen geblieben, aufforderte, und auch nicht derjenige, den diese Kommilitonen weiterhin einschlugen, sondern der entgegengesetzte. Der normale Studiengang des Mediziners war es nämlich, daß er, nachdem im ersten Jahr von ihm die vorbereitenden Naturwissenschaften nebst der Anatomie und Physiologe erledigt waren, nun mit allem Eifer sich auf die praktischen Fächer verlegte. Er hörte in seinem zweiten Jahr innere Heilkunde, die damals noch nicht wie heute zumeist bloß am Krankenbett der Klinik gelehrt wurde, sondern in einer besonderen theoretischen Vorlesung, der dann die klinische Unterweisung im selben oder im nächsten Semester nachfolgte. Er verband damit gleichzeitig die den klinischen Unterricht ergänzenden Fächer, die sich dann zum Teil in das dritte und vierte Jahr erstreckten, in welcher Zeit Chirurgie und Geburtshilfe, ähnlich in theoretische Vorlesungen und klinische Übungen geteilt, hinzutraten. So konnte der fleißige Mediziner in vier, der etwas saumseligere in fünf Jahren seine Studien beenden. Ich sah mich umgekehrt genötigt, in meinem zweiten Studienjahr von den praktischen Fächern der Medizin noch ganz abzusehen, um mich in dieser Zeit ausschließlich auf die vorbereitenden Gebiete zu beschränken und mit ihnen außerdem das Studium der Mathematik, das ich bis dahin ganz vernachlässigt hatte, nachzuholen, ja ihm die erste Stelle anzuweisen, da ich sofort erkannte, daß ohne dasselbe besonders in der die nächste Grundlage der Physiologie bildenden Physik ein zureichendes Verständnis nicht zu gewinnen sei. Mein erster Schritt war daher, daß ich bei einem tüchtigen Mathematiker, der zugleich ein vorzüglicher Lehrer war, dem Professor Rummer an der Heidelberger höheren Bürgerschule, ein Jahr lang Unterricht nahm, um in diesem die Mathematik von den Elementen an bis zu den Grundlagen der Differential- und Integralrechnung zu durcheilen und die Lücken dieses Unterrichts durch mathematische Privatstudien zu ergänzen.
Es war das erste Semester, das Bunsen, der soeben von Breslau berufen war, in dem alten Klostergebäude hielt, das als provisorisches chemisches Laboratorium dem später in der Akademiestraße nach Bunsens Plänen errichteten chemischen Institut vorausging. Es war eine der anregendsten Vorlesungen, die ich jemals gehört habe; aber es war keineswegs ein Bild der gesamten oder auch nur eines Teils der Chemie, das Bunsen in ihr entwarf, sondern eigentlich nur eine Wiedergabe des Gebiets, das er selbst in den vorangegangenen Jahren in so fruchtbarer Weise gefördert hatte, der Chemie der Gase und der angrenzenden Teile der sogenannten anorganischen Chemie, wobei überdies die Metalle nur sehr kurz am Schluß behandelt wurden. Diese Vorlesung hielt Bunsen damals in jedem Semester und brachte dabei die verschiedene Dauer des Winter- und Sommersemesters nur dadurch zum Ausgleich, daß er im Sommer einige unwichtigere Gegenstände hinwegließ, während im übrigen selbst die einzelnen Vorlesungen beider Semester genau dieselben Dinge behandelten. Zugleich begleitete er jedoch den Vortrag mit experimentellen Demonstrationen von wunderbarer Vollendung. So bildete dieses Kolleg einen vollen Gegensatz zu der das Ganze der Chemie umfassenden, dabei aber den mündlichen Vortrag und die experimentelle Erläuterung absolut voneinander trennenden chemischen Vorlesung, die ich in Tübingen gehört hatte. War hier das System der Chemie in zwei Teile getrennt gewesen, deren Beziehung zueinander durch diese zeitliche Zerreißung im Bewußtsein des Zuhörers nahezu verloren gegangen...