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»Es tut mir leid: Ich bin wieder ganz Deiner Meinung«

Wolf Jobst Siedler und Ernst Engelberg: Eine unwahrscheinliche Freundschaft

AutorAchim Engelberg
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783641159030
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Der marxistische Historiker und sein konservativer Verleger. Ein ungewöhnliches Kapitel deutscher Geistesgeschichte
Es war eine unwahrscheinliche Freundschaft, die den konservativen Verleger Wolf Jobst Siedler aus West-Berlin mit dem marxistischen Historiker Ernst Engelberg in Ost-Berlin verband - eine Freundschaft, die alle Mauern überwand und überstand. Auf der Grundlage eines langjährigen Briefwechsels schildert Ernst Engelbergs Sohn Achim diese einzigartige publizistische und menschliche Liaison.

Wolf Jobst Siedler gründete gerade seinen eigenen Verlag, als er 1980 den renommierten Ost-Berliner Historiker Ernst Engelberg kennenlernte. Dieser verfasste zu jener Zeit seine epochale Bismarck-Biographie - überraschend schnell gelang es dem West-Berliner Verleger und Preußen-Kenner, den Autor und sein großes Werk für den Siedler Verlag zu gewinnen. Beharrlich gegen alle politischen Bedenken und Behörden setzte Siedler die parallele Veröffentlichung in Ost und West im Herbst 1985 durch. Es sollte ein publizistisches Ereignis werden.

Über die Jahre hinweg entwickelte sich eine tiefe persönliche Zuneigung - und auch Siedler, der an seinem literarisch-essayistischen Werk arbeitete, schickte seine Manuskripte von West- nach Ost-Berlin. Der intellektuelle Austausch vor dem Hintergrund einer Welt im Umbruch gehört zu den faszinierenden Kapiteln deutscher Geistesgeschichte.

Achim Engelberg, geboren 1965, schreibt u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, die Blätter für deutsche und internationale Politik und Sinn und Form. Er ist Gründungskurator bei piqd. Als Historiker publiziert er Sachbücher und wertet den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. Bei Siedler erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) und die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014).

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Leseprobe

Undatierter Brief von Wolf Jobst Siedler aus dem Lieblingshotel Richard Wagners, wo der Verleger die Bismarck-Biographie redigierte.

Privatbesitz Familie Engelberg

Sizilien, wo ich sicher zum fünften oder sechsten Mal bin, war wieder sehr eindrucksvoll; die Entwicklung ist rasend, in jedem Betracht. Palermo, Goethes und Wagners bezaubernde poetische Residenzstadt, hat eine dreiviertel Million Einwohner, wo ich vor ein paar Jahren noch auf jahrhundertalten Landstraßen von Agrigent nach Segesta fuhr, ist jetzt ein System von Autobahnen, in zwei Stunden ist man von Syrakus nach Marsala, wo ich mir den Platz Garibaldis angesehen habe, als er mit seinen Tausend Mann das Königreich stürzte.

Am eindrucksvollsten die vollständige Veränderung des Landes selbst. Gestern noch verbrannte, ausgetrocknete Flächen, Steppen, bei denen man sich fragte, wie denn Sizilien jemals die Kornkammer Roms sein konnte über Dutzende von Kilometern nahezu Wüste, die Städte ausgestorben. Heute 100 Kilometer Orangen-Haine bei Catania, Kaktus-Pflanzungen bei Marsala, 200 Kilometer Kornfelder, rein abgeerntet, zwischen Erice und Palermo. Die ausgestorbenen Dörfer, die ich vor 10 und 20 Jahren sah, vor Leben explodierend, der Verkehr fünfmal am Tag zusammenbrechend. Das alte Europa hat vielleicht doch noch nicht ausgespielt, seine Vitalität birst selbst in seinen beiden Geröllagen, während Russland nicht weiß, wo es Getreide hernehmen soll, weiß Sizilien nicht, wo es seins absetzen soll. Wie Sie mich kennen, lieber Herr Engelberg beruhigt mich das alles über manche Depressionen.

Herzlich Ihnen beiden,

Ihr

Wolf Jobst Siedler

Hier sind die zentralen Themen beider Autoren verbunden: Die mannigfachen Wechselwirkungen zwischen Revolutionen von unten wie die Französische ab 1789 und Revolutionen von oben wie die von Bismarck ab 1866. Diese fanden das besondere Interesse Ernst Engelbergs, sie waren der Motor für seine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem »weißen Revolutionär« (Henry Kissinger). Und die meisten Essays und Bücher Wolf Jobst Siedlers befassen sich mit dem alten und dem neuen Europa. Bezeichnenderweise heißt eine seiner wichtigsten Aufsatzsammlungen aus dem Jahr 1996 Der Verlust des alten Europa. Ansichten zur Geschichte und Gegenwart.

Die italienische Nationalstaatsbildung interessierte Ernst Engelberg schon deshalb, weil sie in derselben Epoche wie die deutsche erfolgte und beide zersplitterten Länder seit dem Mittelalter eng verbunden waren. Nicht zuletzt in Italien studierte er die Zusammenhänge zwischen der Revolution von oben und der von unten.

Im Mai 1860 beendete Giuseppe Garibaldi, dessen Generalstabschef der deutsche Demokrat und ehemalige preußische Offizier Wilhelm Rüstow war, nach seiner Landung in dem von Wolf Jobst Siedler besuchten Marsala die Herrschaft der Bourbonen in Sizilien und Neapel. »Unter der Leitung von Camillo Cavour«, so Ernst Engelberg in seinem Schlüsseltext über die Revolution von oben, »nutzte die sardinisch-piemontesische Monarchie mit allen Mitteln der Demagogie und Intervention die nationale Revolution aus und erreichte dadurch, dass im Jahre 1861 durch das erste italienische Parlament, das in Turin tagte, Sardinien-Piemont mit den ihm angeschlossenen Gebieten Mittel- und Süditaliens zum Königreich Italien erklärt wurde.« Nun waren die Herrschaft der k.u.k. Monarchie in Venetien und der Vatikanstaat letzte Hindernisse auf dem Weg zur italienischen Einigung. Zwar führte die dadurch entstandene antiösterreichische und antiklerikale Stoßrichtung die italienische Einheitsbewegung zum Bündnis mit Preußen, dennoch war sie homogener als die deutsche. »In Italien herrschte noch die eigentliche Manufaktur vor; was zur Folge hatte, dass einerseits die Arbeiterklasse im Sinne einer kapitalistischen Industrie weit weniger entwickelt war als in Deutschland, andererseits die Energie der Bourgeoisie noch nicht gebrochen war durch den Gegensatz zu einem modernen Proletariat … Doch Bourgeoisie und Adel hätten sich selbst verleugnen müssen, wären sie nicht immer wieder in Konflikt zu Vertretern der unteren Klassen und Schichten über Weg und Ziel der nationalen Befreiung geraten.«44 Am Ende wurde auch Italien ein Nationalstaat, aber noch keine Demokratie.

1983. Am 11. Oktober erhöhen sich die Bundestagsabgeordneten die Diäten. Nur die Grünen wollen nicht mehr Geld, solange im Sozialen gespart wird. Der Freistaat Bayern und die DDR vereinbaren die Wasserverbesserung des fränkisch-thüringischen Flusses Röden. Der Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann erblickt darin einen Modellfall für weitere innerdeutsche Regelungen.

Ernst Engelberg bespricht im Akademie-Verlag eine Kooperation mit dem Siedler Verlag. An den Verleger im Westen schreibt er anschließend:

Lieber Herr Siedler,

gestern hatte ich eine Unterredung im Akademie-Verlag, zunächst mit Kollegen Lothar Berthold allein, dann kamen Dr. Tesche und Herr Löwe, der Produktionsleiter, hinzu. Endlich ist auch die Zweifelsfrage, die mich seit einiger Zeit beunruhigte, aus der Welt geschafft: der Akademieverlag ist entschlossen, mit dem Siedler-Verlag zu einem Vertragsabschluss zu kommen.

Selbstverständlich berichtete ich meiner Frau und engsten Mitarbeiterin gleichsam die Nachbereitung des Besprochenen. Unsere Überlegungen konzentrieren sich immer mehr auf die Terminfrage. Sie ist nicht allein Gegenstand des Vertrages zwischen Autor und dem Akademie-Verlag, sondern wird auch wichtiger Bestandteil eines vertraglichen Dreieckverhältnisses zwischen zwei Verlagen und einer Druckerei. Die Schwere der Verantwortung in dieser Frage wurde uns dabei voll bewusst. Wir haben alles noch einmal möglichst genau durchdacht und abgewogen, was realistisch und was vielleicht doch noch illusionär ist.

Meine kritische und nicht oberflächlich rechnende Frau hält die Abgabe der ersten 500 Seiten des Manuskripts zum Stichtag 1. Jan. 1984, wie es der Produktionsleiter des Verlages vorgeschlagen hat, für durchaus realistisch. Auch kann ich im Laufe des Frühjahrs weitere Kapitel liefern. Doch hat mich meine Frau überzeugt, dass der Abgabetermin 30. April für das ganze Manuskript unrealistisch ist und uns selbst wie alle unsere Partner in größte Schwierigkeiten bringen könnte.

Ich sagte Ihnen vielleicht schon einmal, dass ich Gefangener meiner bisherigen Darstellungsweise bin; es würde der Sache schaden und mich persönlich deprimieren, wenn die letzten Kapitel durch allzu starken Termindruck im Niveau abfallen sollten. Wir brauchen also hier einen Zeitpuffer, zumal unter Umständen Detailarbeiten notwendig werden, die mehr Zeit in Anspruch nehmen, als wir im Augenblick voraussehen.

Es ist mein voller Ernst: Ich muss jetzt in Fragen der Termine absolut zuverlässig werden – nicht zuletzt wegen Planung und Arbeit der Druckerei. Darum mein Vorschlag: erster Abgabetermin von mindestens 500 Manuskriptseiten im Januar 1984; letzter Termin 30. September. Der Band könnte dann im frühesten Frühjahr 1985 in der ersten Märzwoche der Öffentlichkeit präsentiert werden. Das wäre wenige Wochen vor dem 170. Geburtstag Otto v. Bismarcks und wenige Monate vor dem Internationalen Historikerkongreß.

Vielleicht kann bereits auf der Frankfurter Buchmesse ein Exemplar mit Inhaltsverzeichnis und mindestens der Hälfte gedruckter Textseiten ausgestellt werden. So ungewöhnlich, habe ich mir sagen lassen, soll das nicht sein.

Sollten Sie die verlegerische Ungeduld und der Unmut über die vermeintliche Saumseligkeit des Autors befallen, dann bitte ich Sie zu bedenken: Seit Jahrzehnten erscheint hier wieder eine Bismarck-Biographie, die auch auf unveröffentlichtem Quellenmaterial aus staatlichen und privaten Archiven beruht. Der letzte Historiker, der eine auf umfangreichem Archiv-Material basierende Bismarck-Biographie in Angriff nahm, war Erich Marcks. Aber er starb darüber. Ich will noch nicht sterben, sondern meine Schaffenskräfte erhalten. Mein Werk ist so, dass es ein halbes Jahr Aufschub verträgt.

Ende des Monats übergebe ich Ihnen weitere Kapitel.

Mit dem Wunsch, dass in Frankfurt eine bindende Vorabsprache zustande kommt, der bald ein regelrechter Vertrag in Berlin folgt, verbleibe ich mit herzlichen Grüßen,

Ihr

Ernst Engelberg

Das erste bedeutende Geschichtswerk, das zeitgleich in Ost und West der großen Öffentlichkeit präsentiert werden soll, strebt in diesem Herbst der Vollendung entgegen. Wolf Jobst Siedler muss eine Zwangspause einlegen. Am 2. Oktober 1984 schreibt er an seinen Freund und Autor Fritz Stern nach New York: »Es ist mir zum ersten Mal in meinem Leben ein wenig bedenklich ergangen, Herz und Kreislauf rebellierten so, dass der Arzt andeutete, die Behandlung niederzulegen, wenn ich nicht zumindest für fünf Wochen mich ganz aus dem Verkehr zöge. So bin ich mit meiner Frau nach Sylt gefahren und habe dort tatsächlich annähernd eineinhalb Monate nur geschlafen, bin gewandert, habe gelesen und mitunter auch ein wenig geschrieben … Jetzt fühle ich mich besser als je zuvor, bin übrigens fünfzehn Pfund leichter und stürze mich heute Nachmittag auf die Buchmesse nach Frankfurt.«45

Als das Manuskript von Band 1 abgeschlossen ist, schreibt Wolf Jobst Siedler am 18. Dezember 1984 einen ausführlichen Weihnachtsbrief nach Ost-Berlin, in dem er auf den gemeinsam zurückgelegten Weg blickt, aber auch auf das, was noch vor ihnen liegt:

Lieber Herr Engelberg,

mit den letzten beiden Kapiteln, deren Durchsicht ich eben abgeschlossen habe, sind wir an das vorläufige Ende unseres gemeinsamen Weges gekommen, der uns doch nun...

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