Sir Toby ... Does not our lives consist of the four elements?
Sir Andrew Faith, so they say, but I think it rather consists of eating and drinking.
Sir Toby Thou´rt a scholar; let us therefore eat and drink.[1]
Alle Tiere – und auch der Mensch – müssen essen und trinken, um zu überleben, und einen großen Teil ihres Verhaltens darauf richten, Nahrung und Flüssigkeit zu beschaffen und zu sich zu nehmen. Daher sind Essen und Trinken die mit Abstand häufigsten Verhaltensweisen des Menschen, aber zugleich auch die selbstverständlichsten, so dass über Ursachen und Hintergründe in der Regel kaum nachgedacht wird. Dennoch hat sich ihr Sinn nie darin erschöpft, den kreatürlichen Hunger zu stillen. Essen und Trinken waren stets zugleich eine „besondere Lustquelle menschlicher Existenz ... immer auch Genuss und Kommunikation, ... Heimat, Glück, Versöhnung, Macht, Verführung und Erkenntnis“[2]. Weil die Ernährung solch fundamentale Bedeutung hat, spielt sie seit jeher eine leiblich-geistige Doppelrolle im Leben des Menschen, der als „mangeur biologique“ und „mangeur social“ bzw. „homo edens“ und homo culinarius“[3] zugleich auftritt. Sein Nahrungsverhalten kann nur im Schnittpunkt zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ bzw. ‚Ernährung‘ und ‚Essen‘ gedacht werden, und seine Essgewohnheiten sind als Elemente der Primärsozialisation und Enkulturation eng mit unserem angestammten Kommunikationssystem verbunden. Wer vom Essen spricht, spricht in der Tat zugleich von Aspekten der Kultur.
Dieser Konnex kommt auch im darstellenden Reden vom Essen[4] zum Ausdruck, das Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Verbreitet ist solch ein Reden, bei dem Essen zu einem bedeutsamen Motiv wird, nicht nur in pragmatisch orientierten Texten wie den ‚Tischzuchten‘ oder den Rezeptbüchern für die Küche, sondern in allen Gattungen der Literatur. Bereits in der biblischen Erzählung vom Sündenfall sowie zahlreichen Mythen vom ‚Gottesessen‘ werden Essen und Erkennen in ihrem Ursprung miteinander verknüpft. Über lange Jahrhunderte werden beide Komponenten, vor allem im System der traditionellen Diätetik, aber auch in der sogenannten ‚gastrosophischen‘[5] Literatur, in einer makrobiotischen, holistischen Sicht betrachtet. Im 19. Jahrhundert kommt es jedoch im Zuge der Ausdifferenzierung der universitären Wissenschaften zu einer fatalen Aufspaltung dieser ursprünglich ganzheitlichen Betrachtungsweise, mit der Folge, dass die Beschäftigung mit der Nahrungsaufnahme bis in die jüngere Gegenwart hinein fast ausschließlich den biochemisch-physiologisch-medizinisch ausgerichteten Ernährungswissen-schaften zugewiesen wird, wogegen die soziokulturellen Aspekte des Essens im Rahmen der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften keinen festen Platz mehr einnehmen.[6] Die konsequente Vernachlässigung der menschlichen Ernährung als ‚Kulturthema‘ findet erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Ende, als die Mentalitätshistoriker der französischen Annales-Schule sich für eine Erforschung dieses Themenkomplexes einsetzen und damit eine internationale Entwicklung auslösen, die das Essen als ein „soziales Totalphänomen“ betrachtet und dieses in einem fachübergreifenden Ansatz aufzuarbeiten versucht, durch den allein man der Vielschichtigkeit des Themas gerecht werden kann.[7] Doch eine literaturwissenschaftliche Mahlzeitenforschung scheint sich zunächst eher langsam zu etablieren. Noch 1987 bekundet Wierlacher sein Bedauern, dass es auf diesem Gebiet, wobei er sich vornehmlich auf den deutschsprachigen Raum bezieht, bislang nur sehr wenig Sichtungshilfen gebe.[8] Doch eine entscheidende Entwicklung setzt nach Watson/ Caldwell zu Beginn der 1990er Jahre in der anglophonen Welt ein, wovon regelmäßige Fernseh-Kochshows und Kochbücher auf den Spitzenplätzen der Auslagen großer Buchhändler ein sichtbares Zeugnis gäben. „Food studies now constitute recognized subdisciplines in the fields of anthropology, sociology, history, culture studies, medicine, and business. Undergraduate classes that focus explicitly on food are oversubscribed in many universities and graduate degrees in food studies open the door to many professions, not just nutrition counseling or advertising.“[9]
Watson/ Caldwell machen mit dieser Aussage auf den weiteren wesentlichen Punkt aufmerksam, dass man das Phänomen des Essens auf mehreren Untersuchungsebenen erforschen könne und möglichst viele Fachdisziplinen hinzugezogen werden sollten[10]. Becker nennt spezialisierte Einzelzweige, die sich innerhalb der verschiedenen Fächergruppen herausgebildet haben: die historische Ernährungsforschung, die Ernährungssoziologie, die Kultur- und Sozialanthropologie, die ethnologische bzw. völkerkundliche Nahrungsforschung, die Ernährungspsychologie, aber auch die Theologie, die Semiotik, die Kunstgeschichte sowie die sprach-, kommunikations- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen.[11] Idealerweise sollte jeder Disziplin, und damit den in ihren Kontext eingebundenen Funktionen von Essen, gleichermaßen Rechnung getragen werden. Dementsprechend werden in der aktuellen Essensforschung vor allem die Vielfalt und die wechselseitige Verschränkung der verschiedenen Funktionen der menschlichen Ernährung hervorgehoben. Wie komplex das Zusammenspiel all dieser Dimensionen des Essens schließlich ist, mag eine überblicksartige Zusammenstellung der verschiedenen „biological and cultural functions of food“ veranschaulichen, wie sie sich bei Paul Fieldhouse findet:
Food is used to: 1. Satisfy hunger and nourish the body. 2. Initiate and maintain personal and business relationaships. 3. Demonstrate the nature and extent of relationships. 4. Provide a focus for communal activities. 5. Express love and caring. 6. Express individuality. 7. Proclaim the separateness of a group. 8. Demonstrate belongingness to a group. 9. Cope with psychological or emotional stress. 10. Reward or punish. 11. Signify social status. 12. Bolster self-esteem and gain recognition. 13. Wield political and economic power. 14. Prevent, diagnose and treat physical illness. 15. Prevent, diagnose and treat psychological illness. 16. Symbolise emotional experiences. 17. Display piety. 18. Represent security. 19. Express moral sentiments. 20. Signify wealth.[12]
In diesem Sinne kann man in der Tat sagen, dass das Gesamtphänomen ‚Essen‘ weit über eine bloße Aufnahme von Nahrung hinausgeht. Speiseordnungen erweisen sich als „‚Offenbarungen‘ über Kulturen“ und man kann vom Essen als „sozialem Totalphänomen“ sprechen[13], Essen als „universal medium that illuminates a wide range of ... cultural practices“ sehen, bis zu dem Grade, dass es in manchen Fällen gar unmöglich sei „to image studies of [for example] marriage, exchange, or religion that do not consider food.“[14]
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es jedoch völlig unmöglich, das „Kulturthema Essen“ einer möglichst systematischen und vollständigen Aufbereitung zu unterziehen.[15] Deshalb werde ich mich im Folgenden lediglich auf die soziale Funktion des Essens beschränken und eine Möglichkeit ihrer literarischen Konzeptualisierung und Inszenierung an einem ausgewählten Einzelwerk analysieren. Ein für eine solche Arbeit auf dem Gebiet der Slavistik sehr geeigneter Text ist der Revizor von Nikolaj Gogol'. Dem Thema „Essen“ begegnen wir darüber hinaus in mehreren Einzelwerken des Autors. So greift z.B. Wördehoff mehrfach auf Gogol'-Zitate zurück, um in „Dementis der Diät. Der russische Magen“[16] die russische Esskultur und -mentalität in einem recht kurzen Kapitel anschaulich zu machen. Der Revizor aber bietet sich für eine solche Arbeit geradezu an, da in diesem Stück so häufig und kontinuierlich Referenzen auf das Essen vorkommen wie in keinem anderen Stück Gogol's[17]. Man ist sogar geneigt zu sagen, das Stück werde im Grunde durch das Essen selbst in Szene gesetzt. Inwiefern Essen nun ein soziales Phänomen sein und man menschliches Essverhalten als Gradmesser von Hierarchiestrukturen, in gewisser Hinsicht quasi als Rangabzeichen begreifen kann, wird offenbar, wenn man einem zentralen und immer wiederkehrenden Phänomen in Gogol's Gesamtwerk Beachtung schenkt und dazu in Relation setzt, dem Rangdenken und –verhalten der Menschen, vornehmlich der Beamten zur Zeit Nikolaus I. Es ist überaus interessant, wie Gogol' im Revizor beide Aspekte miteinander verwebt, so dass sich allein aus den Essensszenen ein lebendiges und anschauliches Abbild eines sozialen Bewusstseins ablesen lässt, wie es in der Epoche des Autors vorgelegen haben mag. Die Tatsache, dass in der gesichteten Sekundärliteratur beide Aspekte kaum bzw. so gut wie gar nicht, geschweige denn in ihrer Wechselwirkung miteinander, untersucht worden sind[18], stellt einen zusätzlichen Anreiz zu der vorliegenden Arbeit dar.
Im folgenden Kapitel soll zunächst untersucht werden, inwiefern Essen Aspekt sozialer Kommunikation sein kann und welches Potential ihm in diesem Rahmen innewohnt. Das sich anschließende...