Einführung
Schweigende Präsenz der Christen oder ausdrückliches Apostolat? Für beides gibt es gute Argumente, beides hat seinen Platz. Dieser Band soll sich einer Form des ausdrücklichen Apostolats widmen: den Stadt- und Gemeindemissionen, denn „wenn wir dafür verantwortlich sind, dass Menschen Gott verloren haben, dann haben wir vielleicht daran zu leiden, vor allem aber müssen wir ihnen Gott zurückgeben. Zwar können wir ihnen den Glauben nicht geben, können aber uns selbst geben. Im Glauben haben wir Gott gefunden, wir können ihn weitergeben, wenn wir uns selbst geben – und zwar hier in unserer Stadt“1. Madeleine Delbrêl (1904–1964) verweist mit diesen Worten auf die Verantwortung der Christen vor Ort und für ihren Ort und die dort lebenden Menschen. Ein besonderer Ort aber ist die Stadt. Sie kann auf vielerlei Weise wahrgenommen werden: als Ereignis, als Bedrohung, als Herausforderung, als Laboratorium2, als Chance und Versprechen3. Vielleicht mehr als anderswo verdichten sich in der Stadt „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (II. Vatikanisches Konzil „Gaudium et spes“ 1). So stellt sich die Frage, wie die Melodie des Evangeliums im pluralen Stimmengewirr unserer Städte hörbar, wie Kommunikation und das Zusammenspiel zwischen Stadt und Glaube gelingen, wie die Stadt zum authentischen Ort der Vergegenwärtigung Gottes werden kann. Die „Bekehrung“ der Stadt „kann aber nicht anders als mit einer Bekehrung zur Stadt und einem Wahr- und Ernstnehmen der sich in ihr abspielenden Lebensprozesse“4 in eins gehen.5 Es geht also darum, die Verkündigung nicht von der „Abwertung“ der Stadt her zu konzipieren; Schnelligkeit, Anonymität, Unübersichtlichkeit, neue Lebensräume, Lärm, Professionalität, Erlebnishunger und Beschleunigung nicht (bloß) als zu überwindende Phänomene zu erkennen, denen kleine „Oasen der Ruhe“ entgegengesetzt werden müssen.6 Vielmehr müssen alle, die pastoral in der Stadt unterwegs sind, als „Stadtaffen“ die Stadt im Blut haben (Peter Fox).7 Mit einer solchen Grundhaltung muss die „Gegenwart [Gottes in der Stadt] nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden.“8 Stadt- und Gemeindemissionen stellen in diesem Kontext einen Weg dar, wie „Stadtmenschen“ der „Glaube als Option“9 vorgeschlagen werden kann10; sie sind Beispiele der von Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ gewünschten „neuartige[n] Räume für Gebet und Gemeinschaft …, die für die Stadtbevölkerung anziehender und bedeutungsvoller sind.“11 Durch den Fokus auf das „Wohl der Stadt“ (Jer 29,7) wird der Blick zudem auf einen weiteren Grundzug seelsorglichen Handelns gelenkt: Nicht nur die Christen, bzw. nur die Katholiken sind im Horizont, sondern alle Menschen, die in der Stadt leben.
Das Thema „Christentum und Stadt“ erfreut sich aktuell grundsätzlich eines großen Interesses. Dabei sei für die biblische Perspektive auf die Beiträge von Martin Ebner12 sowie von Reinhard von Bendemann und Markus Tiwald13 verwiesen. Ökumenische Erfahrungen der anglikanischen, der evangelischen und der katholischen Kirche auf der Suche nach Wegen einer missionarischen Pastoral in der Stadt finden sich in einer Publikation von Philipp Elhaus und Christian Hennecke14. Darüber hinaus wurde, getragen von der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der DBK, von 2010–2013 in einem Forschungsprojekt der Universität Osnabrück die Großstadtpastoral Lateinamerikas durch Margit Eckholt und ihr Team untersucht.15 Der 2012 von Michael Sievernich und Knut Wenzel herausgegebene Band „Aufbruch in die Urbanität“16 nähert sich dem Thema der Stadtpastoral grundsätzlich pastoral-systematisch. In den hier vorliegenden Beiträgen nun geht es pastoral-praktisch um die Darstellung und Reflexion traditioneller und neu entstandener Projekte städtischer Pastoral, um Stadt- und Gemeindemissionen unter dem Leitgedanken der Möglichkeit einer missionarischen Kirche im säkularen Umfeld. Dieses Thema hat sich in unserer Arbeit in der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) der Deutschen Bischofskonferenz in unterschiedlichster Weise vielfach herauskristallisiert. So greift dieser Band Texte von P. Thomas Klosterkamp OMI, Otto Neubauer, Andrea Geiger, Michael Hänsch, sowie Michael Schuhmacher und Andreas Schulz in ihrem ganzen Umfang auf, die in gekürzter Version bereits im Magazin εὐangel 3 (2012)17 erschienen sind. Ergänzt und abgerundet wird er durch Beiträge von P. Stefan Knobloch OFMCap, Hans Hobelsberger und Thomas Söding. Ziel des Bandes ist es, die Erfahrungen der Verantwortlichen und Akteure in den Stadtmissionsprojekten in einer Weise zu heben, dass sie für die Weiterentwicklung missionarischer Fragestellungen für einen größeren Kreis von Interessierten fruchtbar werden können.
Der Beitrag von Stefan Knobloch geht unter der Überschrift „Zur Geschichte und aktuellen Relevanz der Mission in der Stadt“ das Thema einer missionarischen Pastoral grundsätzlich an. Nach einem schlaglichtartigen Überblick über die Geschichte der Volksmission nähert er sich „über Hürden hinweg“ und im Rekurs auf Charles Taylor der Herausforderung der religiösen Pluralität. Hier kommt besonders die Sorge über die Oberflächlichkeit der Glaubensweitergabe angesichts der Ernsthaftigkeit der Sinnsuche der Menschen (K. Rahner) in den Blick. Dabei wird speziell der dialogische Charakter einer missionarischen Pastoral deutlich. In diesem Zusammenhang erscheint das „Alleinstellungsmerkmal des Christlichen: der Mensch gewordene Gottessohn“, Gottes Fleisch gewordene Liebe als zugleich unzumutbar und unaufgebbar.
Eine Betrachtung des Phänomens der Stadt- und Gemeindemissionen nimmt in einem nächsten Schritt die Geschichte der Volksmission, die in den 1980er-Jahren durch die „Gemeindemission“ zumindest begrifflich abgelöst wurde, in den Blick. So kommen im zweiten Teil des Bandes konkrete Formen zur Sprache. Thomas Klosterkamp reflektiert die „klassische“ Gemeindemission aus der Perspektive einer Ordensgemeinschaft, die diesen Prozess nach wie vor trägt. Er beschreibt dabei aus vieljähriger Erfahrung das aktuelle Gemeindemissionskonzept der „Missionare Oblaten der Makellosen Jungfrau Maria“ (OMI), um abschließend Voraussetzungen, Schwierigkeiten und Chancen zu benennen. Diese liegen zum einen in der Fokussierung auf die „klassische“ Gemeinde, die jedoch zunehmend seltener zu finden ist. Doch trotz aller Schwierigkeiten sieht er in der Gemeindemission nach wie vor ein geeignetes „Instrument zur intensiven geistlichen Stärkung der Kerngemeinde“. Anfang des neuen Jahrtausends trat, für viele überraschend, die Initiative des Internationalen Kongresses für die Neue Evangelisierung (ICNE) hervor, die in Stadtmissionen in Wien (2003), Paris (2004), Lissabon (2005), Brüssel (2006) und Budapest (2007) gipfelte und zum Teil ähnliche Realisierungen u. a. in Regensburg (2009), Düsseldorf (2009) und Sindelfingen (2007) zeitigte. Diese Stadt- und Gemeindemissionen waren getragen von freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der örtlichen Pfarreien und zumeist auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der „Katholischen Gemeinschaft Emmanuel“18. Konkret beschreibt Otto Neubauer diese Form der Stadtmissionen am Beispiel Wiens. In diesem Zusammenhang kommen auch Grundlagen und Bedingungen eines erneuerten Glaubens in der Gegenwart in den Blick.19 Die in dieser Stadtmission gewonnen Erfahrungen zu sichern und in einem für die Pastoral der Erzdiözese Wien fruchtbaren Prozess weiterzutragen, ist Ziel der Apg 2010, einem Pastoralprozess, der von Andrea Geiger auf die biblische Apostelgeschichte zurückgeführt wird. Michael Hänsch schildert, wie die Idee der Stadtmission in Düsseldorf aufgegriffen und von der katholischen Kirche der Stadt umgesetzt wurde. Dass dieses Konzept nicht allein in Großstädten realisiert werden kann, zeigt die von Michael Schuhmacher und Andreas Schulz beschriebene Gemeindemission in Sindelfingen am Rande des Großraums Stuttgart.
Den pastoraltheologischen Ertrag zu heben, ist Aufgabe des Beitrags von Hans Hobelsberger. Dort kommen sowohl kritische Anfragen und Überlegungen zum soziologischen Format zur Sprache als auch die Beschreibung der Stadtmission als „pastorale Gelegenheit“, die passagere und zeitlich begrenzte Begegnungen bietet, um die menschliche Existenz und das Evangelium miteinander in Beziehung zu setzen.
Die abschließenden Ausführungen Thomas Södings beleuchten neutestamentliche Aspekte des urbanen Glaubens unter Berücksichtigung der Perspektive der Arbeit des Päpstlichen Rats zur Förderung der Neuevangelisierung, dem Söding als Konsultor angehört. Die Schrift zeigt, dass das Evangelium auf dem Weg seiner weltweiten Verbreitung vor allem in den großen Städten Fuß gefasst hat: „Jesus hat klein angefangen, aber Geschichte geschrieben.“ Diesem Prozess sind spezifische städtische Kirchenbilder und Glaubensweisen entwachsen, die auch für heutige pastorale...