4 Störungstheorien und Erklärungsmodelle ( S. 28)
Als Teil von Leitlinienempfehlungen zur Psychotherapie von Affektiven Störungen sind Störungstheorien und Erklärungsmodelle nur als Hintergrundheuristiken von Bedeutung. Durch die folgende Kurzdarstellung soll vor allem die psychobiologische Orientierung deutlich werden. Diese Orientierung ist wichtig, wenn es im praktischen Umgang mit den betroffenen Patienten darum geht, Behandlungsalternativen zu verdeutlichen und den gleichzeitigen oder konsekutiven Einsatz von pharmakologischen und psychotherapeutischen Strategien zu begründen.
Der in diesem Absatz erwähnten „gemeinsamen Wegstrecke", in die Vulnerabilitätsfaktoren einmünden, kann bezogen auf Interventionen die „gemeinsame Wegstrecke" des Herauskommens aus der Depression gegenübergestellt werden. Erklärungshypothesen affektiver Störungen lassen sich vereinfacht biologischen und psychologischen Modellvorstellungen zuordnen (Hautzinger, 1998a, Gotlib &, Hammen, 2002, Kühner, 2003a, de Jong-Meyer, 2005).
Keiner dieser Ansätze kann bislang für sich in Anspruch nehmen, eine überzeugende monokausale Erklärung geliefert zu haben. Es ist angesichts der Heterogenität der affektiven Syndrome vermutlich auch unwahrscheinlich, dass ein Faktor allein für die Entstehung einer Depression oder Manie verantwortlich ist. Von der Mehrzahl der Experten werden multifaktorielle Erklärungskonzepte angenommen.
Bereits in den 70er Jahren hatten Akiskal und McKinney (1975) ein „Final-Common- Pathway" Modell der Depression vorgeschlagen, das postuliert, dass dem Auftreten einer Depression eine gemeinsame Endstrecke neuronal gestörten Stoffwechsels vorausgeht. Das Hineingleiten in diese gemeinsame Endstrecke kann durch die unterschiedlichsten Bedingungen (physikalisch, genetisch, sozial, entwicklungspsychologisch, kognitiv, zwischenmenschlich usw.) und deren multiple Interaktionen verursacht werden.
Entsprechend besteht zwischen sozialen, psychologischen und biologischen „Ursachen" kein Gegensatz, sondern eine Ergänzung. So fasst Aldenhoff (1997) neurobiologische und entwicklungspsychologische Befunde zu einem psychobiologischen Phasenmodell der Depressionsentwicklung zusammen. Er geht davon aus, dass bei den später affektiv erkrankenden Menschen ein „frühes Trauma" vorliegt.
Dabei soll dieser Begriff eine sehr heterogene Ausgangsbedingung darstellen, wie frühkindliche Deprivation, Vernachlässigung, Missbrauch, Veränderungen der Rezeptorenstruktur durch Virusinfektionen, genetische Aberrationen und noch bislang unbekannte Mechanismen. Die Adaptation an diese „Traumen" erfolgt im Sinne eines biologischen „Priming", welches neurobiologische Veränderungen bewirkt, die der Depression lange vorausgehen kann, persönlichkeitsbildend wirkt und an Lebensbedingungen/Lebens- ereignissen Anteil hat.
In diesem Anpassungszustand, der über Jahre unbemerkt bestehen kann (Latenzphase), ist das Individuum empfindlich für depressionsauslösende Bedingungen. Durch entsprechende psychologische und/oder biologische Ereignisse kommt es zu einer Reaktivierung mit einer möglichen ersten subsyndromalen bzw. unerkannten affektiven Reaktion, die nach inädaquater Bewältigung und damit einhergehenden dysfunktionalen affektiv-kognitiven Vulnerabilitäten in eine zweite Latenzphase mündet.
Das Individuum ist nun bereits anfälliger und befindet sich häufiger in Zuständen einer „psychobiologischen Stressreaktion". Nun kann es episodisch und durch geringfügige Ereignisse ausgelöst zu depressiven Phasen, also dem syndromalen Bild einer affektiven Störung kommen. Abbildung 1 stellt den Versuch dar, Vulnerabilitäts- und Abfolgeannahmen zu konkretisieren, indem empirisch schon weitgehend replizierte Befunde in ein aktualisiertes „Final Common Pathway"-Konzept eingeordnet wurden.
Hinzugefügt wurden auch diejenigen Variablen, die nach neueren Studien prognostische Bedeutung für den weiteren Erkrankungsverlauf haben (für eine ausführlichere Darstellung siehe de Jong-Meyer, 2005). Für die Begründung der verschiedenen psychotherapeutischen Interventionen bei affektiven Störungen werden spezifischere, z.T. nur auf Einzelaspekte fokussierende Konzepte (z. B. Verstärkerverlustmodell, Hilflosigkeitsmodell, kognitives Modell, Interaktionsmodell, Copingmodell) herangezogen, deren Relevanz für die Aufrechterhaltung der Depression relativ gesichert ist, bei denen jedoch erst einzelne Variablen (vgl. Abb. 1) als Vulnerabilitätsfaktoren bestätigt werden konnten (Hautzinger, 1998a, de Jong-Meyer, 2005).