Mensch und Schrift
Von der Anthropologie des Textes aus der Perspektive eines katholischen Bibelwissenschaftlers
»In der Heiligen Schrift wird uns das Göttliche so vorgelegt, wie es Menschen zu tun pflegen.«
Thomas von Aquin (1225–1274)
Vorbemerkung
Da ich kein Islamexperte bin, maße ich mir nicht an, irgendetwas über das Verhältnis zwischen Mensch und Heiliger Schrift in der islamischen Religion zu sagen. Trotzdem sind meine Anmerkungen als Beitrag zum christlich-islamischen Dialog gedacht. Ich spreche über das Eigene in der Hoffnung, dass die islamischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in Zustimmung oder Abgrenzung etwas über ihr Eigenes erkennen können. Die Herausforderung durch die moderne Welt und ihre Aufklärungslogik betrifft schließlich alle Religionen gleichermaßen, auch wenn die einzelnen Gruppierungen ganz unterschiedlich mit dieser Herausforderung umgehen. Ich bestimme darüber hinaus meinen Standpunkt als den eines katholischen Exegeten. Wo ich den Eindruck habe, dass das, was ich sage, auch von protestantischen Theologinnen und Theologen geteilt werden kann, vermerke ich das eigens.
1. Historische Gründe für die Entstehung der wissenschaftlichen Bibel-Exegese
Der Ursprung der modernen Bibel-Exegese, die meist als historisch-kritische Exegese bezeichnet wird, liegt nicht allein, wie viele meinen, im Protestantismus der Aufklärung, sondern auch im französischen Aufklärungskatholizismus des 17. Jh. Es war nämlich der katholische Priester Richard Simon (1638–1712), der das Alte und das Neue Testament historisch-kritisch analysierte und mit seinen Werken der neuartigen Bibelwissenschaft auch gleich ihren Namen gab1. Obwohl die Bezeichnung 122 »historisch-kritisch« eine kritisch-distanzierte Einstellung zur Bibel suggeriert, stand im Hintergrund der frühen aufklärerischen Bibelwissenschaft eine klare religiöse Verteidigungsabsicht. Das gilt nicht nur für Richard Simon, der allen Anfeindungen – sein Hauptwerk wurde auf kirchliches Betreiben vom König konfisziert – zum Trotz zeitlebens ein kirchentreuer Priester blieb, sondern auch für die meisten anderen Bibelwissenschaftler jener Zeit.
Um dieses Verteidigungsinteresse zu begreifen, muss man sich klarmachen, dass damals der radikale Rationalismus der frühen Aufklärungsphilosophie mehr und mehr den Zeitgeist bestimmte und viele biblische Geschichten als für das neue historische Denken nicht mehr akzeptabel erscheinen ließ – zumindest nicht so, wie sie in den Texten erzählt wurden. Der historisch-kritische Ansatz stellte in diesem geistesgeschichtlichen Horizont einen Versuch dar, die Heilige Schrift und ihre Autorität zu retten, indem man in den biblischen Erzählungen nach dem »historischen Kern« fragte. Die Alternative wäre gewesen, die Heilige Schrift insgesamt als menschliche Fiktion einzustufen. Das wurde von radikalen Bibelkritikern, die die Bibel als religiöse Autorität ablehnten, auch tatsächlich vertreten. Kirchliche Exegeten wie Simon versuchten dagegen, genau diese Alternative zu vermeiden und die Autorität der Heiligen Schrift zu retten, wobei Simon sogar in einer scharf antiprotestantischen Wendung das Sola-scriptura-Prinzip Luthers ablehnte und zu einer Unterscheidung von Offenbarungsakt und Offenbarungstext gelangte, die erst im 20. Jh. vom katholischen Lehramt aufgegriffen wurde und heute auch in der protestantischen Offenbarungstheologie gang und gäbe ist.2
Der Weg der historischen Kritik erscheint im Rückblick als nahezu alternativlos. Zum einen gab es damals kaum einen positiven Begriff von Fiktionalität bzw. Mythos, den man auf die Bibel hätte anwenden können. Die spezifische Wahrheit des Mythos war damals nicht formulierbar. Mythos war ganz im antiken Sinne nur fassbar als das, was »nicht stimmt«. Zum anderen zwang der historische Anspruch des Christentums, das immer mehr sein wollte als bloßer Mythos (im Sinne von menschlicher Projektion ohne Wahrheitsgehalt), geradezu zur historischen Fragestellung.
Ein theologisches Verteidigungsinteresse steht dann auch im Hintergrund der später entstehenden Literarkritik, auch Quellenkritik oder Schichtenkritik genannt. Man unterscheidet in den biblischen Texten ältere Textschichten, die man für historisch 123 zuverlässig hält, von später hinzugefügten Legenden. Im Streit um die historische Zuverlässigkeit der Bibel will man so vermeiden, die biblischen Texte insgesamt für historisch unzuverlässig erklären zu müssen.3 Mit entsprechenden Teilungshypothesen versuchte man, die ursprüngliche Wahrheit des wertvollen Alten zu eruieren und so den Konsequenzen der radikalen Bibelkritik zu entkommen. Leider hat das kirchliche Lehramt, besonders auf katholischer Seite, den Verteidigungscharakter des historisch-kritischen Ansatzes nicht recht verstanden, wie man überhaupt mit der Aufklärung und ihren Auswirkungen nicht gut zurechtkam. Bis ins 20. Jh. hat die Kirchenleitung in Rom die historisch-kritische Exegese erbittert bekämpft. Erst 1943 läutete Papst Pius XII. mit seiner Enzyklika »Divino afflante Spiritu«4 eine Wende ein, indem er feststellte, dass es in der Bibel verschiedene Gattungen mit unterschiedlichen Formen des Wahrheitsanspruches gibt. Darauf und auf die kulturellen Rahmenbedingungen habe die Auslegung Rücksicht zu nehmen. Damit war der Grund für eine kritische Exegese, die sich als Geschichts- und Literaturwissenschaft entwirft, gelegt. Diese Hinwendung zur Moderne wurde dann vom Zweiten Vatikanischen Konzil (11. Oktober 1962 bis zum 8. Dezember 1965) mit der Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung »Dei Verbum«5 vollendet.
2. Ist die historische Kritik heute überhaupt noch aktuell?
Heute mag man über die Probleme der Aufklärungstheologen schmunzeln. Zum einen scheint ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit historischer Erkenntnis heute recht naiv. Zum anderen ist ihre Unfähigkeit, die positive Wahrheitsleistung der Fiktion bzw. des Mythos zu erkennen, kulturwissenschaftlich längst überholt – wird doch in der modernen Kulturwissenschaft dem Mythos ein eigener Wahrheitswert zugeschrieben.
Die Frage ist aber, ob das, was zum Entstehen der historisch-kritischen Exegese beitrug, nicht trotz aller geistesgeschichtlichen Veränderungen heute noch aktuell ist. Die Antwort auf diese Frage hängt sehr davon ab, wie man das Verhältnis zwischen Moderne und Postmoderne bestimmt. Versteht man die Postmoderne als Rückgängigmachen der Moderne, dann wird man den kurzen historisch-kritischen Ausflug der Bibelwissenschaft in die Welt der Aufklärung als traurige Verirrung möglichst 124 schnell hinter sich lassen wollen. Entsprechende Positionen, die man landläufig als Fundamentalismus einstufen würde, sind in der neueren Entwicklung der Katholischen Kirche durchaus festzustellen und sie scheinen sogar an Einfluss zu gewinnen, auch wenn sie (noch?) nicht als offizielle Lehre der Kirche anzusehen sind.
Sieht man dagegen die Postmoderne als Radikalisierung der Moderne, als eine Moderne, die sich auch noch über sich selbst aufklärt, dann wird es eher um eine Weiterentwicklung der Aufklärungsexegese gehen.
Ich halte – für einen Aufklärungsexegeten nicht weiter überraschend – den zweiten Weg für den angemessenen.6 Selbstverständlich gibt es im Christentum wie auch in anderen Religionen religiöse Gruppen und Strömungen, die sich abkapseln und einen vormodern wirkenden Irrationalismus kultivieren, aber diese ideologischen Inselbildungen sind umspült von einem Meer ökonomischer, naturwissenschaftlicher und technischer Rationalität. Diese Rationalität als Erbe der Aufklärung prägt unser Bild von der Wirklichkeit und ebenso unser Alltagsverhalten. Selbst wer bei Zahnschmerzen lieber einen Segnungsgottesdienst aufsucht als einen Zahnarzt, wendet sich bei Problemen mit seiner Solaranlage in der Regel dann doch eher an einen Energietechniker als an einen Priester. Und für die meisten Menschen ist auch ein historischkritisches Denken in Bezug auf die Vergangenheit ganz selbstverständlich. Man will z. B. wissen, ob der Ehepartner »wirklich« untreu gewesen ist, ob der Minister N.N. »wirklich« korrupt ist, ob Papst Pius XII. »wirklich« ein Judenfeind war, ob Jesus »wirklich« eine Affäre mit Maria Magdalena hatte usw.
Die gängige Konzeption der Wirklichkeit, auf der auch unser ganzes Strafrechtssystem beruht, ist fast überhaupt nicht tangiert von der wissenssoziologischen These, dass das, was wir »Wirklichkeit« nennen, eine gesellschaftliche Konstruktion ist. Ebenso hat die Erkenntnis, dass die Geschichtswissenschaft (auch) deshalb mindestens teilweise Dichtung ist und bestenfalls einen Entwurf der Vergangenheit darstellt,7 keine hohe Bedeutung im allgemeinen Bewusstsein erlangt. Der Einfluss dieser kulturwissenschaftlichen Theorien auf unser Alltagsverhalten und auf die alltägliche...