VORWORT
Als ich vor zwanzig Jahren an dem Buch Moses der Ägypter arbeitete, ging es mir darum, eine verdeckte Traditionslinie in den Blick zu bekommen, in der das Alte Ägypten nicht die Rolle des überwundenen, hinter sich gelassenen Anderen spielte, sondern die eines untergründig fortwirkenden Elements unserer eigenen europäischen Religions- und Geistesgeschichte. Diese Traditionslinie, die sich dann von Echnaton bis zu Sigmund Freud ausziehen ließ, stand im Zeichen der Wahrheitsfrage der Religion. Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, das war die These, sei mit dem biblischen Monotheismus erstmals in den Raum des Religiösen hineingetragen und anhand der Gegenüberstellung von Israel = wahr und Ägypten = falsch narrativ entfaltet worden. In der Traditionslinie um Mose als Ägypter sei es darum gegangen, die «mosaische Unterscheidung» zwischen wahrer und falscher Religion, wahrem Gott und falschen Göttern aufzuheben und dadurch den interreligiösen Streit um die Wahrheitsfrage zu entschärfen. Inzwischen ist mir klar geworden, dass eine derartige Konzentration oder Reduktion der Religion auf die Wahrheitsfrage in Bezug auf das vorexilische Israel ein Anachronismus ist. Hier geht es um etwas ganz Anderes, das als höchster Wert ins Zentrum der Religion gestellt wird: Treue. Nicht zwischen wahr und falsch gilt es sich zu entscheiden, sondern zwischen Treue und Verrat, und zwar in Bezug auf den Bund, den JHWH mit den Kindern Israels schließt, die er aus ägyptischer Knechtschaft befreit und als sein Volk erwählt hat. Mit der Konzeption dieses Bundes kommt der «Glaube» (’æmunah) in die Welt, der die eigentliche, revolutionäre Neuerung des biblischen – alttestamentlichen, neutestamentlichen und islamischen – Monotheismus darstellt. «Glaube» heißt im Alten Testament dasselbe wie «Treue», nämlich Vertrauen in den Bund, in die Verheißungen Gottes, in den Eid, den er den Vätern geschworen hat und in die versöhnende und rechtfertigende Kraft der Gesetze. Das ist etwas völlig Neues in der damaligen Welt, das nicht in die Ordnung des Seienden, Evidenten, «Unverborgenen» (wie Heidegger das griechische Wort a-letheia, «Wahrheit», deutet) gehört, sondern in die Ordnung des zu Verwirklichenden, im Tun in die Welt und an den Tag zu Bringenden, in die schon Lessing mit seiner Fassung der alten Ringparabel die Wahrheitsfrage verlagert hatte. Diese Traditionslinie fängt nicht bei Echnaton an, dessen monotheistischer Umsturz viel mit Wahrheit, aber nichts mit Treue zu tun hat, sondern mit dem Auszug aus Ägypten als dem großen, gründenden Heilsereignis, das die Befreiten zu ewiger Dankbarkeit und Treue gegenüber dem Befreier verpflichtet. Der «Monotheismus der Treue» ist das weltverändernd Neue, das mit der biblischen Religion in die Welt kommt. Um diese Form des Monotheismus und seine narrative Darstellung in der Erzählung vom Auszug aus Ägypten soll es in diesem Buch gehen.
Der Monotheismus der Treue ist alles andere als eine marginale, verdeckte Traditionslinie, die es ans Licht zu heben gilt. Im Gegenteil bewegen wir uns mit der Semantik des Bundes, der Treue und des Glaubens im Zentrum der drei abrahamitischen Religionen. Und doch wird heute das Problem gerade der monotheistischen Religionen auf die Wahrheitsfrage reduziert. «Während die Religionen miteinander hadern», schrieb Sigmund Freud, «welche von ihnen im Besitz der Wahrheit sei, sind wir der Meinung, daß der Wahrheitsgehalt der Religion überhaupt vernachlässigt werden darf.»[1] Das war vernichtend gemeint und hat den bundestheologischen Kern des biblischen Monotheismus doch kaum berührt. Die Wahrheitsfrage soll hier nicht vernachlässigt werden und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion halte ich nach wie vor für eine entscheidende Kategorie, die erst mit dem Monotheismus – aber nicht nur dem biblischen – aufgekommen ist. Das eigentliche und ursprüngliche Element des biblischen Monotheismus aber sehe ich im Gedanken des Bundes, dessen Stiftung den Höhepunkt der Exodus-Erzählung darstellt. Um in diesen Bund einzuziehen, musste aus Ägypten ausgezogen werden.
Die antagonistische Spannung zwischen Ägypten und Israel, wie sie die Erzählung vom Auszug aus Ägypten darstellt, hat mich schon lange beschäftigt und war bereits das Thema von Moses der Ägypter. Im vorliegenden Buch möchte ich zu den Quellen zurückgehen, das heißt zum biblischen Buch Exodus, und es auf seine in die Länge der Zeit ausstrahlenden Grundideen hin befragen. Mein Zugang ist naturgemäß nicht der des philologisch und theologisch arbeitenden Alttestamentlers, sondern des kulturwissenschaftlich arbeitenden Ägyptologen, und mein methodischer Ansatz ist der einer «Sinngeschichte».[2] Ich verstehe den in der Überlieferung vom Auszug aus Ägypten entfalteten Monotheismus der Treue bzw. die Bundestheologie als eine Sinnformation, die mit den frühen Propheten anhebt, im Deuteronomium und der deuteronomistischen Tradition ihre kanonische Form gewinnt und durch alle Wandlungen hindurch bis heute lebendig ist.
Der Begriff «Sinngeschichte» lässt sich in zwei Richtungen entfalten: Sinn «hat» Geschichte und Sinn «macht» Geschichte. In der ersten Richtung geht es um die allmähliche Herausbildung und die Wandlungen einer semantischen Formation in ihrer historischen und gesellschaftlichen Einbettung, ihre Entwicklungsstufen und entscheidenden Wendepunkte sowie die Texte und Zeugnisse, in denen sie Ausdruck gefunden hat. In der anderen geht es um die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieser Texte und Zeugnisse. Der Auszug aus Ägypten ist in beiden Richtungen ein hervorragendes Beispiel, zum einen, was die Entwicklung dieser Überlieferung im Laufe von drei bis vier Jahrhunderten zu dem zentralen semantischen Paradigma des frühen Judentums betrifft, und zum anderen hinsichtlich der einzigartigen Wirkungsgeschichte dieses Paradigmas in den darauf aufbauenden Religionen Christentum und Islam, die zu einer grundlegenden Umgestaltung der Welt geführt haben.
Die betroffene Fachwissenschaft, die alttestamentliche Theologie, ist der Frage nach Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der alttestamentlichen Texte seit Jahrhunderten mit großer Intensität nachgegangen. In der einen Richtung ging es um eine diachrone Analyse der überlieferten Textgestalt, die zu einer ebenso differenzierten wie umstrittenen Scheidung von Quellen, Dokumenten, Kompositionsschichten und Redaktionsstufen führte, in der anderen Richtung um eine Auslegungsgeschichte in jüdischer und christlicher Sicht. Diese im engeren Sinne fachphilologische Perspektive kann und will ich mir in diesem Buch nicht zu eigen machen. Sie geht erstens weit über das hinaus, was ein Fachfremder leisten und in einem einigermaßen handlichen Buch unterbringen kann, und läuft zweitens immer wieder Gefahr, das eigentliche Thema der Sinngeschichte über den Einzelfragen der diachronen Textkritik aus dem Auge zu verlieren. Außerdem möchte ich gleich eingangs betonen, dass mein Thema nicht «der alttestamentliche Monotheismus» oder die «Theologie des Alten Testaments» ist, sondern der Auszug aus Ägypten und seine Folgen. Die alttestamentlichen Konzeptionen von Gott und Mensch, Israel und Judentum gehen natürlich weit über das hinaus, was im 2. Buch Mose narrativ und normativ entfaltet wird, auch wenn dies bis heute den Kern der Sache bildet.[3]
Die Position, von der aus ich es in diesem Buch unternehme, die so unendlich oft erzählte, kommentierte, gedeutete und gestaltete Exodus-Tradition in «sinngeschichtlicher» Hinsicht zu behandeln, ist die der teilnehmenden Beobachtung. Teilnehmend, weil auch das protestantische Christentum, aus dem ich komme, in der Tradition des Exodus-Mythos steht, teilnehmend aber auch als Deutscher, als Nachgeborener der schwersten Katastrophen und Verbrechen meines Landes, der die Exodus-Erzählung – womit nicht nur das Buch Exodus, sondern der gesamte Erzählungsbogen von Auszug über Bundesschluss und Wüstenwanderung bis zum Einzug ins Gelobte Land gemeint ist – nicht lesen kann, ohne sich der vielfältigen Resonanzen bewusst zu werden, die diese Geschichte in ihm auslöst. Beobachtend, weil die Ägyptologie einen signifikanten Standpunkt sowohl inner- als auch außerhalb dieser Tradition vermittelt. Schließlich ist es ja Ägypten und nicht etwa Assyrien, Babylonien, das Hethiterreich oder irgendein anderes Reich der damaligen Welt, aus dem die Kinder Israels ausgezogen sind. In der Tat repräsentiert das Alte Ägypten die Welt, aus der Israel ausgezogen ist, in beispielhafter, idealtypischer Weise.
Von Ägypten aus lassen sich zwei ganz verschiedene Blicke auf die Hebräische Bibel werfen. Der eine sieht vor allem die Kontinuitäten und Parallelen, zwischen ägyptischen Hymnen und biblischen Psalmen, ägyptischen Liebesliedern und dem Hohelied Salomonis, ägyptischen und biblischen Opferbräuchen, Tabus und Reinheitsvorstellungen, ägyptischen und biblischen Vorstellungen vom (Gottes-)Königtum und vieles andere mehr, und sieht Israel eingebettet in die Kulturen der Alten Welt; der andere achtet vor allem auf die Diskontinuitäten, Antithesen, Verwerfungen und sieht in Israel vor allem das Neue, das sich den...