1 Einführung
Der Iridium-Moment
In den späten 1980er Jahren gründete Motorola Inc. ein Tochterunternehmen namens Iridium, was damals als ein weitblickender Schritt galt, um die neu entstehende Mobiltelefonindustrie zu beherrschen. Bei Motorola erkannte man – vor allen anderen –, dass teure Mobiltelefontechnologien zwar in den Städten aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte relativ leicht installiert werden konnten, aber für die Regionen außerhalb der Städte und auf dem Land keine vergleichbaren Lösungen bereitstanden. Eine Kalkulation überzeugte Motorola davon, dass es aufgrund der Kosten für Mobiltelefonmasten – jeder würde 100.000 Dollar kosten, neben den hohen Ausgaben zur Produktion ziegelsteingroßer Telefone und den Grenzen bei der Nutzung der Bandbreite – zu teuer sein würde, große Landstriche abzudecken.
Schon bald zeigte sich eine radikalere und auch profitablere Lösung: Eine Konstellation von 77 Satelliten (Iridium ist die Nummer 77 im Periodensystem), die die Erde so nah umkreisten, dass Mobiltelefonie für einen Einheitspreis möglich war – unabhängig vom Ort. Bei Motorola dachte man, wenn nur eine Millionen Menschen in verschiedenen Industrieländern 3000 Dollar für ein Satellitentelefon bezahlen würden, zuzüglich einer Nutzungsgebühr von fünf Dollar pro Minute, dann würde das Satellitennetzwerk schon bald profitabel werden.
Natürlich wissen wir heute, dass Iridium spektakulär scheiterte, was den Investoren einen Verlust von fünf Milliarden Dollar einbrachte. In der Tat war das Satellitensystem schon zum Scheitern verurteilt, bevor es in Betrieb genommen wurde – es war eines der dramatischsten Opfer technologischer Innovation.
Für dieses Scheitern gab es verschiedene Gründe. Schon als das Unternehmen die Satelliten installierte, sanken die Kosten für Mobiltelefonmasten, die Netzwerkgeschwindigkeit stieg in riesigen Größenordnungen. Gerechterweise muss man sagen, dass Iridium mit diesem Fehlurteil nicht allein war. Die Konkurrenten Odyssey und Globalstar machten den gleichen Fehler. Schließlich gingen mehr als zehn Milliarden Dollar Investitionsgelder verloren, weil man darauf gewettet hatte, dass die Geschwindigkeit der technologischen Veränderung zu langsam war, um mit der Nachfrage des Marktes Schritt zu halten.
Ein Grund für dieses Debakel ist laut Dan Colussy, der 2000 den Aufkauf von Iridium begleitete, die Weigerung des Unternehmens, seine wirtschaftlichen Annahmen anzupassen. „Der Businessplan von Iridium war schon zwölf Jahre alt, bevor er ausgeführt wurde“, erinnert er sich. Das ist eine lange Zeit, lang genug, 2um eine Voraussage fast unmöglich zu machen, wo sich der neueste Stand der digitalen Kommunikation befinden würde, wenn das Satellitensystem endlich installiert war. Deshalb bezeichnen wir dies als einen Iridium-Moment – es wurden lineare Werkzeuge aus der Vergangenheit angewandt, um eine sich beschleunigende Zukunft vorherzusagen.
Einen weiteren Iridium-Moment erlebte Eastman Kodak. Das Unternehmen musste 2012 Insolvenz anmelden, nachdem es die Digitalkamera zuerst erfunden und dann verworfen hatte. Etwa zur gleichen Zeit als Kodak seine Tore schließen musste, wurde das Start-up Instagram, das erst drei Jahre im Geschäft war und nur 13 Mitarbeiter hatte, für eine Milliarde Dollar von Facebook gekauft. (Ironischerweise geschah das, während Kodak immer noch das Patent für die Digitalfotografie hatte.)
Die Fehltritte von Iridium und der epochale industrielle Wandel von Kodak zu Instagram waren keine isolierten Ereignisse. Für viele Fortune 500-Unternehmen in den USA kommt die Konkurrenz nicht mehr aus China und Indien. Wie Peter Diamandis bemerkt, kommt diese Konkurrenz heute mehr und mehr von zwei jungen Typen in einer Garage mit einem Start-up, das exponentiell wachsende Technologien nutzt. YouTube begann als ein Start-up, das durch die persönliche Kreditkarte von Chad Hurley finanziert wurde, bis es schließlich nach weniger als 18 Monaten für 1,4 Milliarden Dollar von Google gekauft wurde. Groupon sprang von der Gründung zu einem Wert von sechs Milliarden Dollar in weniger als zwei Jahren. Uber ist heute über 50 Milliarden Dollar wert. Wir beobachten eine neue Form von Organisationen, die Wert in einer Geschwindigkeit generieren und skalieren, wie wir es zuvor in der Wirtschaft noch nicht erlebt haben. Dieses Diagramm zeigt den sich beschleunigenden Metabolismus der Wirtschaft.
3Willkommen in der neuen Welt der Exponentiellen Organisationen oder ExO. Wie im Falle von Kodak garantieren hier weder das Alter, die Größe, der Ruf oder die gegenwärtigen Verkaufszahlen, dass ein Unternehmen auch morgen noch auf dem Markt konkurrieren kann. Andererseits ist es auch ein Ort, wo man eine Organisation aufbauen kann, die ausreichend skalierbar, schnell und intelligent ist, und dadurch einen Erfolg erreichen kann – exponentiellen Erfolg –, wie es nie zuvor möglich war. Und das alles mit minimalen Ressourcen und wenig Zeitaufwand.
Wir sind in das Zeitalter der Milliarden-Dollar-Start-ups eingetreten und schon bald wird es Billionen-Dollar-Unternehmen geben, wobei sich die besten Unternehmen und Institutionen scheinbar in Lichtgeschwindigkeit bewegen. Wenn Sie noch nicht den Übergang in eine Exponentielle Organisation vollzogen haben, dann kann es nicht nur so erscheinen, als würden die Konkurrenten an Ihnen vorbeiziehen, sondern Ihr Unternehmen könnte wie Kodak schon bald in die Belanglosigkeit abgleiten.
2011 sagte die Babson’s Olin Graduate School of Business voraus, dass in zehn Jahren 40 Prozent der heutigen Fortune 500-Unternehmen nicht mehr existieren werden. Richard Foster von der Yale University schätzt, dass die gewöhnliche Lebenszeit von Standard & Poor 500-Unternehmen1 von 67 Jahren in den 1920er Jahren auf heute 15 Jahre gesunken ist. Und in den nächsten Jahren wird dieser Lebenszyklus noch kürzer werden, weil diese großen Konzerne gezwungen werden, mit einer neuen Form von Unternehmen zu konkurrieren, die die Kraft exponentieller Technologien nutzen – von Gruppensoftware und Datengewinnung bis hin zu synthetischer Biologie und Robotik. Und viele der großen Konzerne werden durch diese neuen Konkurrenten scheinbar über Nacht verdrängt werden. Und wie der Aufstieg von Google zeigt, werden diese Unternehmen für die absehbare Zukunft in der Weltwirtschaft die Führungsrolle übernehmen.
Verdoppelung nach unten
Für die meiste Zeit der Geschichte war die Produktivität einer Gemeinschaft eine Funktion der menschlichen Körperkraft: Männer und Frauen, die jagten, sammelten und bauten und Kinder, die ihnen dabei halfen. Wenn man die Anzahl der Hände, die Früchte sammeln und Fleisch nach Hause bringen konnten, verdoppelte, dann konnte die Gemeinschaft ihren Ertrag verdoppeln.
Im Laufe der Zeit konnte die Menschheit Lasttiere wie Pferd und Ochse zähmen und dadurch steigerte sich der Ertrag weiter. Die Gleichung war aber weiterhin linear. Wenn man die Tiere verdoppelte, konnte man auch den Ertrag verdoppeln.
4Als der Marktkapitalismus entstand und das Industriezeitalter seinen Lauf nahm, wurde der Ertrag um ein Vielfaches gesteigert. Jetzt konnte ein Mensch eine Maschine bedienen, die die Arbeit von zehn Pferden oder hundert Arbeitern verrichtete. Die Geschwindigkeit des Transports und damit auch der Verteilung verdoppelte sich und im Weiteren betrug sie zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Dreifache.
Die zunehmenden Erträge brachten Wohlstand für viele und schließlich eine mannigfaltige Verbesserung des Lebensstandards. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis heute hat die Menschheit – vor allem als Folge der Verbindung der Industriellen Revolution mit dem modernen wissenschaftlichen Forschungslabor – eine Verdoppelung der menschlichen Lebenserwartung und eine Verdreifachung des inflationsbereinigten Eigenkapitals pro Kopf in jedem Land der Erde erreicht.
Während dieser neuesten Phase menschlicher Produktivität war der begrenzende Faktor für das Wachstum nicht mehr die Körper (Menschen oder Tiere), sondern die Anzahl der Maschinen und das eingesetzte Kapital. Wenn man die Produktion in den Fabriken verdoppelte, konnte man doppelte Erträge erreichen. Die Unternehmen wurden immer größer und umspannen heute den ganzen Globus. Mit zunehmender Größe nahm der globale Einfluss zu und damit das Potenzial für Dominanz in einer Branche und damit auch dauerhafter und sehr lukrativer Erfolg.
Aber solch ein Wachstum braucht Zeit und erfordert meist eine enorme Kapitalinvestition. Das ist nicht leicht, und die Komplexität umfassender Neueinstellungen von Mitarbeitern und die Schwierigkeiten bei der Gestaltung, dem Bau und dem Versand neuer Ausrüstungsmittel und Maschinen bedeutet, dass die Umsetzung fast ein Jahrzehnt dauert. Mehr als einmal sahen sich Geschäftsführer und Vorstände in der Situation (wie bei Iridium), dass sie das Unternehmen als Einsatz auf eine neue Richtung gesetzt haben, die eine riesige Kapitalinvestition von hunderten Millionen oder Milliarden Dollar erforderte. Pharmazeutische Unternehmen, Luft- und Raumfahrtunternehmen, Automobilhersteller und Energieunternehmen tätigen immer wieder Investitionen, deren Ergebnis sie erst in vielen Jahren kennen werden.
Dies ist zwar ein funktionsfähiges System, aber kein optimales. Zu viel Geld und wertvolle Talente werden in jahrzehntelange Projekte gesteckt, deren Erfolgsaussichten kaum gemessen werden, bis sie schließlich scheitern. Dadurch entstehen enorme Verluste, wozu auch die verpasste Gelegenheit...