Kapitel 3
Der Diamond Approach und die Heiligen Ideen
Wie schon bemerkt, baut das vorliegende Werk auf dem Verständnis der Heiligen Ideen auf, das sich im Kontext der Entwicklung des Diamond Approach entfaltet hat. Gleichzeitig bietet die Perspektive der Heiligen Ideen einen Rahmen für das Verständnis dessen, was die Basis des Diamond Approach als Methode innerer Arbeit ausmacht. Der Diamond Approach hat sich in einem Kontext entwickelt, in dem das Enneagramm als Landkarte der Wirklichkeit und als heilige Psychologie verstanden wurde.
Die Wirklichkeit als Einheit
Die Heiligen Ideen stellen eine Landkarte der Sicht der Wirklichkeit als Einheit dar. Jede Heilige Idee entspricht einer Sicht der Wirklichkeit, in der sich ein Verständnis der Ganzheit und Einheit der Welt und des Universums, der Menschen und des Wirkens der Realität spiegelt. Das Verständnis der Einheit – die Nichtdualität der verschiedenen Elemente und Dimensionen der Existenz und der Manifestation – ist ein Element jedes traditionellen spirituellen Verständnisses. Sowohl östliche als auch westliche Lehren, die eine Methode innerer Arbeit zur Erkenntnis der Wirklichkeit beinhalten, führen zwangsläufig zu der Wahrnehmung, dass Mensch und Welt, physische Welt und Bewusstsein, göttlich und weltlich nicht getrennt sind. Viele dieser Lehren sehen im Unwissen über diese Wahrheit, das heißt, in der Trennung oder in der Entfremdung vom Gewahrsein des Heiligen oder Wirklichen, die Ursache menschlichen Leidens.
Im Diamond Approach finden wir mehrere Dimensionen des Seins, die mit einer Wahrnehmung der Nichtdualität einhergehen. Viele Suchende, die sich dem Verständnis der Einheit oder des Nicht-Getrenntseins annähern oder darüber lesen, verbinden ihre Vorstellung der Einheit mit einer Art Homogenität. So sieht der Suchende auf einer bestimmten Wahrnehmungsebene zum Beispiel direkt, dass die gesamte Manifestation aus ein und demselben Stoff besteht. In dieser Wahrnehmung liegt die Betonung auf dem Gewahrsein, dass alles aus einem Etwas, einer Substanz besteht. Die Unterscheidung verschiedener Aspekte der Manifestation ist nicht Teil dieser Erfahrung. Das ist es, was wir Einheit (unity) nennen. Eine weitere, mit der Wahrnehmung der Nichtdualität einhergehende Ebene, ist das Nichtbegriffliche, das heißt, ein direktes Gewahrsein der Realität, das grundlegender ist als das begriffliche Denken oder das diesem vorausgeht. Auch hier herrscht das Empfinden, dass es „ein Ding“ gibt, das die gesamte Realität ausmacht, und aus dieser Perspektive ist klar, dass es keine separaten Objekte gibt. Die Wirklichkeit kann auf dieser Ebene als ein solider „Block“ erscheinen, der nicht einmal begrifflich getrennt werden kann.
Eine weitere, das Gewahrsein der Nichtdualität mit einschließende Ebene der Wahrnehmung nennen wir Einssein (oneness). In dieser Wahrnehmung herrscht ein klares Gewahrsein von Nicht-Getrenntheit, doch innerhalb dieser ganzen, einheitlichen Realität ist dennoch Unterscheidung gegenwärtig. Man sieht die verschiedenen Farben, Formen und Bewegungen innerhalb der Manifestation, ohne dass einem diese Unterschiede als trennende Grenzen erscheinen. Es ist klar, dass das gesamte Universum eine lebende, harmonische Manifestation ist. Unterschiedene Formen und Bewegungen werden als Erscheinungen eines Ganzen gesehen, nicht als Bewegungen separater Teile.
Ein besonderer Beitrag des Verständnisses der Heiligen Ideen zum Prozess innerer Arbeit ist die Auffassung, dass die Prinzipien oder Gesetze, die die Schöpfung regieren, verstanden werden können und man durch dieses Verständnis zur Erkenntnis der Einheit geführt werden kann. Alle Ebenen der Manifestation unterliegen einer bestimmten, spezifischen Ordnung und es gibt eine Kontinuität zwischen dem, was Ichazo als kosmische Ordnung oder kosmische Gesetze bezeichnet, und allen Ebenen der Realität, auch der physischen und psychologischen. Die Heiligen Ideen betreffen das objektive Verständnis der Beziehung zwischen dem Individuum und dem größeren Ganzen. Mithilfe des Wissens des Diamond Approach entwickeln wir eine bestimmte Einsicht darin, wie sich die Beziehung der Heiligen Ideen zu den Fixierungen verhalten, indem wir die für jeden Enneatyp spezifischen Auswirkungen des Kontaktverlustes mit dem Gewahrsein der Einheit untersuchen. Den Kontakt mit der Einheit zu verlieren, bedeutet, das Gefühl zu verlieren, Teil des Seins – der Manifestation und des Flusses der gesamten Schöpfung – zu sein. Mit anderen Worten, die Täuschung der Trennung vom Ganzen nimmt neun Formen an, durch die sich der Verlust der neun Heiligen Ideen ausdrückt.
Im Verlauf dieses Buches wird klar werden, dass sich die Methode des Diamond Approach von Anfang an auf die von den Heiligen Ideen enthüllte Perspektive der Einheit stützt. Doch gleichzeitig wird von den Schülern des Diamond Approach zu Beginn nicht erwartet, diese Sichtweise zu verstehen oder zu schätzen, im Gegenteil: Am Anfang arbeiten die Studenten mit ihren schon existierenden, begrenzten egoischen Identifikationen. Wahrhaftigkeit und Offenheit angesichts der Begrenzungen des verblendeten Egozustandes sind essenziell für die Methode. So werden die Schüler zum Beispiel beim Erforschen ihres Charakters zu einer Grundhaltung des Erlaubens ermutigt, mit anderen Worten dazu, zu versuchen, eine nicht urteilende, nicht kontrollierende Position in Bezug auf alles einzunehmen, was in ihrer inneren Erfahrung auftaucht. Die Sichtweise dieser Praxis reflektiert damit zwei Heilige Ideen: die Heilige Arbeit und den Heiligen Willen. Das Verständnis der Heiligen Arbeit beinhaltet, dass das Egoselbst nicht weiß, was geschehen soll, und man an der Heiligen Arbeit des Ganzen nur teilhaben kann, indem man sich dem widmet, was im gegenwärtigen Augenblick wahr ist. Das Verständnis des Heiligen Willens beinhaltet, dass sich das Wirken der gesamten Realität in unserem eigenen Entfaltungsprozess äußert und dass der leichteste Weg darin besteht, seine persönlichen Bemühungen oder seinen persönlichen Willen an dieses Wirken hinzugeben. Darüber hinaus spiegelt sich die Perspektive der Heiligen Ideen auch durch die systematische Untersuchung der jeweiligen Muster, die den eigenen egoischen Charakter regieren, in der Methode des Diamond Approach. Diese Methode steht im Kontrast zu vielen anderen, die den Schüler ermutigen, direkt über den Urgrund des Seins oder des Gewahrseins zu meditieren und dabei die störenden Inhalte der Gedanken und Gefühle, die als relativ irreal angesehen werden, beiseite zu lassen. Der Diamond Approach unterscheidet sich auch von Methoden, die versuchen, eine bestimmte Überzeugung oder einen Charakterzug des Schülers auf spezifische Weise zu verändern.
Es ist nicht einfach zu verstehen, in welchem Ausmaß unser tägliches Handeln und unsere Bemühungen, auf die Erkenntnis der Wahrheit hinzuarbeiten, von der Verblendung einer getrennten Existenz des Selbst regiert werden. Diese Verblendung verhindert völlig, dass sich die Sicht unserer selbst und der Welt verwandelt, da an der Wurzel des Ego-Leidens genau dieses Gefühl des Getrenntseins liegt. Die Arbeit mit der Perspektive der Heiligen Ideen und den spezifischen Themen und Schwierigkeiten, die aus dem Verlust der Einheit resultieren, ist ein machtvolles Werkzeug, das uns wahre Transformation jenseits der kühnsten Vorstellungen von psychologischer Arbeit oder der Arbeit menschlicher Entwicklung ermöglicht.
Die frühe Entwicklung verstehen
Indem wir jeden Kern im Detail betrachten und beschreiben, wie er auf dem Kontaktverlust mit einer bestimmten Heiligen Idee beruht, werden wir auch die Art und Weise erforschen, in der frühe Kindheitserfahrungen diesen Verlust verursachen. Die Kapitel im zweiten Teil konzentrieren sich auf die frühen Lebensumstände, die dazu führen, dass das Individuum sich von der Dimension des Seins abwendet oder von ihr abgeschnitten wird. Wir untersuchen die Arbeit von D. W. Winnicott über die Einflüsse der frühen haltenden Umgebung auf die Ichentwicklung (Winnicott, 1965) und erweitern sein Verständnis, um die Dimension der Essenz oder des Seins mit einzuschließen. Wir klären, welche Ausdrucksformen des Seins oder essenziellen Dimensionen bei den frühen Entwicklungsstadien des Kindes notwendig sind, um die Erfahrung des Selbst oder der Seele so zu halten, dass die kindliche Entwicklung zu einer „Kontinuität des Seins“ wird, wie Winnicott sagen würde. Wir sehen, wie eine Umwelt, die das Sein nicht auf diese Weise zum Ausdruck bringt, die Seele zu Reaktionen veranlasst, die den Kontaktverlust mit ihrem So-Sein (beingness), ihrem essenziellen Kern und ihrem Wesen verursachen. Jede Unzulänglichkeit der haltenden Umwelt führt nicht nur ganz allgemein zum Kontaktverlust mit dem Sein, sondern insbesondere auch zum Verlust der eigenen, spezifischen Heiligen Idee.
Die übermittelte Theorie des Enneagramms beinhaltet unter anderem, dass jeder Mensch mit der Fähigkeit geboren wird, alle Heiligen Ideen zu erkennen, er für eine von ihnen jedoch beonders stark sensibilisiert ist. Das ist die Heilige Idee, auf die sich die...