Blick in die Gegenwart: Faszien heute
Seit dem anfangs erwähnten Interview mit dem Redakteur des Magazins stern sind Jahre vergangen. Und nun richtet das Magazin zum zweiten Mal seine Aufmerksamkeit auf das Thema Faszien. In stern – Gesund leben erscheint 2013 ein Beitrag von Robert Schleip zum Thema. Und nur kurze Zeit später folgt ein Artikel auf Spiegel online. Und das ist kein Zufall. Es ist das Zeichen einer großen Tendenzwende. Nun sieht es erstmals so aus, dass die Faszien größere Aufmerksamkeit finden. Robert Schleip war maßgeblich bei der Gründung einer Forschungsgruppe an der Universität Ulm beteiligt, die sich ausschließlich mit dem Thema Faszien beschäftigt. Und da gibt es noch eine wichtige Vorgeschichte. Er hatte zusammen mit Forschern und Therapeuten aus aller Welt den ersten internationalen Kongress zum Thema Faszienforschung organisiert. Mehr als 1300 Experten trafen sich erstmals im Jahr 2007 im Medical Center der Harvard University. Wissenschaftler, Ärzte und Praktiker der unterschiedlichsten Therapieformen hatten sich zusammengefunden, um Erkenntnisse auszutauschen und zu diskutieren.
Da durfte auch der renommierte einstige Berater der medizinischen Abteilung der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA nicht fehlen, Serge Gracovetsky. Als Buchautor hatte er schon früh Erfolge zu verzeichnen. Er hatte nicht zuletzt mit seiner provokanten Theorie über den menschlichen Gang für Kontroversen unter Fachleuten gesorgt. Und nun war er anwesend, um den Kongressteilnehmern seine Gedanken über Faszien nahezubringen. Auch in diesem Zusammenhang nicht ganz ohne provokativen Beigeschmack: So belehrte er die Zuhörer seines Vortrags über die Absurditäten der traditionellen medizinischen Sicht des Menschen, eine Sicht, die nur die Muskelkraft und nicht die Faszien berücksichtigt. Er – der geistreiche Mathematiker – vollführte allen Ernstes ein skandalöses Gedankenexperiment, aus dem sich ein makabrer Schluss ziehen lässt:
Der menschliche Körper würde, falls die gängige Theorie, die sich nur an Muskeln orientiert und die Faszien nicht berücksichtigt, stichhaltig wäre, beim Anheben einer Last schlichtweg explodieren.
Der Kongress belohnte Gracovetskys humorvollen Beitrag mit einer Ehrung. Er erhielt den Preis für den besten Beitrag. Und auch das ist ein Zeichen für eine ganz große Tendenzwende. Fortan darf über Faszien ganz neu nachgedacht werden.
Erste Begegnung mit den Faszien auf dem Behandlungstisch
Die erste Begegnung mit Faszien hatte ich, ohne zu wissen, was Faszien sind, ohne den Namen dieses Gewebes je gehört zu haben. Das ist sehr lange her, mehr als drei Jahrzehnte. Ich erinnere mich aber ganz genau daran, dass Schichten meines Körpers berührt wurden, die ich nie zuvor wahrgenommen hatte. Und das war auch nicht verwunderlich. Der Therapeut, der mich ziemlich fest anfasste, verwendete keinerlei Öl an seinen Händen. Er hatte mich aufmerksam beobachtet, bevor ich mich auf den Rücken auf seinen massiven Behandlungstisch legen durfte. Er wollte, wie er betonte, zunächst einen Plan machen. Dieser Plan sollte, wie er mir erklärte, Ordnung in die Faszien meines Körpers bringen. Ich kam gar nicht dazu zu fragen, was denn diese Faszien eigentlich sind. Denn er hatte bereits damit begonnen, mit seinen trockenen Händen tief in das Innere meines Oberbauchs zu fassen. Dabei war seine Berührung intensiv, hatte aber zugleich etwas »Schmelzendes«, trotz aller Intensität Angenehmes. Diese Faszien scheinen ja ganz tief im Inneren des Körpers zu sein, dachte ich. Aber ich konnte gar nicht so recht bei meinen Gedanken bleiben. Denn mein Therapeut ging zügig weiter mit dieser eigentümlich intensiven Berührung.
Also mit Massage hatte das alles wirklich nichts zu tun. Ich mochte Massagen aller Art für mein Leben gern. Aber hier – bei diesen Faszien – ging es offenbar um etwas anderes. Es ging nicht um die Muskeln, oder jedenfalls nicht um die Muskeln allein.
Das Ganze dauerte ungefähr eine Stunde. Während dieser mir endlos erscheinenden Zeit wurden offenbar viele »Faszien« bearbeitet: tief unter dem Rippenbogen, tief in meiner Achsel, an der Rückseite der Beine und an unterschiedlichen Stellen meines Nackens und meines Rückens.
Bis heute ist mir die Qualität dieser eigentümlichen Berührung in Erinnerung geblieben. Wie schon erwähnt, hatten alle Behandlungsschritte diese rätselhaft »schmelzende« Qualität. Dabei gab es viele Abstufungen: An einzelnen Stellen meines Körpers konnte ich ein ganz zügiges »Schmelzen« wahrnehmen, beispielsweise am Rücken und am Nacken. Ganz anders war es an den Oberarmen und an den Oberschenkeln. Ich hatte den Eindruck, dass mir jemand mit einem Radiergummi durch das Gewebe fährt. Und sobald der Radiergummi ein Stück weiterrutschte, öffnete sich das Gewebe mit einem wohltuenden Schmerz wie ein Reißverschluss. Und manchmal konnte ich etwas sehr Merkwürdiges wahrnehmen: Die Hände, die sich an mir in manchen Augenblicken ziemlich grob zu schaffen machten, übten an einer Stelle einen ganz heftigen Druck aus. Dabei glitten sie in Zeitlupe über meine Haut. Den Druck spürte ich wie ein intensives Brennen genau unter den Händen meines Therapeuten. Aber die Wirkung trat an einer ganz anderen Stelle meines Körpers auf. Während ich den intensiven Kontakt und die unendlich langsame Berührung nur für einen Augenblick an der Seite des Oberschenkels wahrnahm, verringerte sich die Spannung in meiner Schulter. Und so ähnlich ging es weiter. Ich spürte jeder Berührung nach: Irgendetwas wird an meinem Schulterblatt gemacht – es fühlt sich an, als würde mir jemand das Gewebe vom Knochen lösen und irgendetwas anderes beginnt sich im Inneren meines Kopfes zu bewegen. »Das ist ein endloses Netz – alles ist mit allem verbunden«, hörte ich Lloyd sagen.
Lloyd übte den Beruf des Rolfers aus. Er war zuvor als Ingenieur bei der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA als Materialtechniker tätig gewesen. Zufällig hatte er in einem Café die legendäre Ida Rolf, die Begründerin der Rolfing-Methode, getroffen. Und Hals über Kopf kündigte er seinen Job bei der NASA, um bei der berühmten alten Dame zu lernen, wie man Faszien behandelt.
Im Sektionssaal
Als ich damals nach der ersten Behandlung meiner Faszien vom Behandlungstisch aufstand, wusste ich nicht, was kommen würde. Ich konnte nicht wissen, dass nach ein paar weiteren Behandlungen bei Lloyd diese Geschichte mit den Faszien eine ganz große Faszination auf mich ausüben würde. Und ich wusste vor allem nicht, dass sich ein paar Jahre später nach der ersten Erfahrung auf Lloyds Behandlungstisch die ersten Europäer auf den Weg in die USA machen würden, um am Institut von Ida Rolf die Behandlung der Faszien zu lernen: das viele, das man schon aus der Praxis wusste, und das wenige, das man über die Hintergründe nur ahnen konnte.
Ich war einer aus dieser kleinen Gruppe, die sich in den späten 1970er-Jahren auf den Weg an das Rolf Institute in den USA machten. Dort lernten wir nach der Methode von Frau Rolf, wie man Faszien behandelt. Unsere Ausbildung war reine Praxis. Natürlich mussten wir auch Anatomie lernen. Aber eine Anatomie der Faszien? Die steckte in den Anfängen.
Erst Jahre später, als sich das Interesse an Faszien langsam auch außerhalb unserer kleinen Gruppe entwickelte, konnten wir einen Blick in das Innere des Fasziendschungels werfen: im Sektionssaal der Anatomie der Münchner Universität. Das war nun eine ganz andere Erfahrung als die Praxis. Aber wir konnten nach und nach eines verstehen: Das, was Frau Rolf und ihre ersten Schüler in der Praxis lehrten, das, was sie oft nur intuitiv gefunden hatte, war kein Hirngespinst. Ihre Auffassungen von der Bedeutung der Faszien für den Körperbau, ihre wichtigste Idee, dass nämlich die Faszien unserem Körper Form, Stabilität und zugleich Beweglichkeit gewährleisten, all dies ließ sich nach und nach in der Anatomie nachvollziehen.
Während wir unter der Anleitung unseres Professors an der Leiche jede einzelne Schicht des Körpers freilegen – die Anatomen nennen das »präparieren« – mussten, ging es um Folgendes: Jeder Muskel, jedes Organ und auch die Nerven und Gefäße mussten klar sichtbar werden. Das heißt die Stelle, an der sie sich befinden, soll erst einmal aufgefunden werden. Und dann geht es darum, alle umliegenden Elemente des Körpers von dem zu präparierenden Bauelement des Körpers zu isolieren.
Die Arbeit wird mit dem Skalpell gemacht. Das Wichtigste dabei ist, dass die genannten Elemente des Körpers von ihren Hüllschichten – den Faszien – befreit werden, um klar sichtbar zu werden. Das ist harte Arbeit, denn die Gewebe der Leiche sind sehr starr, und die Faszien sind – anders als im lebenden Menschen – erstarrt.
Die zwei wichtigsten Bauelemente der Faszienschichten sind grundverschieden. Ein Bauelement besteht aus sehr festen Fasern. Das sind die Kollagenfasern. Diese Fasern sind in ein zweites Bauelement eingebettet, ein Material, das in etwa an Plastilin erinnert, jenes Material, das die meisten von uns noch aus ihrer Kindheit kennen. Die Fachleute, die sich um die Ausbildung der Ärzte in Anatomie kümmern, nennen dieses zweite wichtige Bauelement der Faszien »Grundsubstanz«. Die zähen Faszienfasern – die Kollagenfasern – sind in diese Grundsubstanz eingebettet. Und nur in der Wechselwirkung dieser beiden grundverschiedenen Basiselemente des faszialen Netzwerks können die Faszien funktionieren.
Das Netzwerk der Faszien wird sichtbar
Dass die Faszien tatsächlich ein Netzwerk bilden, konnten wir bei unseren...