Feigheit gilt keinesfalls als Tugend. Und doch bestimmt sie das Verhalten vieler Mitarbeiter und Führungskräfte. Ihre Arbeitswelt ist komplex und von rasanter Veränderungsgeschwindigkeit, hoher Kostensensibilität, anspruchsvollen Unternehmenszielen, internationalem Wettbewerb sowie schnell wechselnden Ansprechpartnern gekennzeichnet.
In vielen Unternehmen herrscht Angst vor Fehlern
Das Zusammenspiel der genannten Faktoren produziert Angst davor, einen Fehler zu machen, falsche Entscheidungen zu treffen oder es sich mit wichtigen Leuten zu verscherzen. Wer diese Angst nicht überwindet, wird zum Feigling. Er weiß oft ganz genau, was richtig und angemessen ist, traut sich aber nicht, das entsprechende Verhalten zu zeigen. Feiges Verhalten ist sicherlich Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, doch das jeweilige Unternehmen nimmt mit seiner Kultur einen erheblichen Einfluss auf die Anzahl der Feiglinge und Führungskräfte im System. Wie geht das Unternehmen mit Fehlern um? Wie wird Ehrlichkeit belohnt und Offenheit gefördert? Welche Feedbackinstrumente werden wie eingesetzt? Ist das Miteinander eher von Vertrauen oder von Misstrauen gekennzeichnet? Das Phänomen Feigheit hat viele breite, verwachsene Wurzeln, deren Wuchern gestoppt werden muss, wenn Unternehmen erfolgreich sein wollen.
Wie das System Feiglinge produziert
Mitarbeiter mit eigener Meinung? Unerwünscht!
Viele Führungspersonen scheinen eine wahre Freude daran zu haben, anderes zu sagen, als sie meinen, und erst recht, anderes zu sagen, als sie tun. Als wichtig erachten sie das, was sie selbst sagen. Hierarchisch »Untergebene« werden zu Befehlsempfängern degradiert und ihre Sichtweisen interessieren nicht – sie stören sogar eher. Da werden zum Beispiel Managementkonferenzen einberufen, die häufig zu definierten Kommunikationsstandards eines Unternehmens gehören und in der Regel mindestens halbjährlich, oft auch quartalsweise stattfinden. Veranstalter ist das Topmanagement, also Vorstände und Geschäftsführer, die ihre direkt unterstellten Führungskräfte einladen. Was für eine Chance! Da kommen die Menschen zusammen, deren Hauptaufgabe darin besteht, das Unternehmen maßgeblich zu lenken und zu steuern, um die Weichen für Erfolg zu stellen und Synergien zu erzeugen. Viele der geladenen Führungskräfte nehmen dafür weite Anfahrtswege auf sich, treten die Reise aber bereits mit gemischten Gefühlen an. Schließlich haben sie dieses zeitraubende und oft ineffektive Prozedere schon mehrfach erlebt.
So auch Herr Meier, Vertriebsleiter eines Finanzdienstleisters. Er verantwortete die Region Süd mit rund 2000 Mitarbeitern und hatte seinen Dienstsitz in München. Am nächsten Tag fand die Jahresauftaktveranstaltung in der Zentrale statt. Um rechtzeitig in Frankfurt zu sein, hatte Herr Meier den ersten Flug um 6.05 Uhr gebucht. Die Agenda für die Konferenz las sich vielversprechend: Rückblick auf das abgelaufene Geschäftsjahr, strategische Schwerpunkte für das laufende Jahr, Präsentation und Diskussion zentralseitig konzipierter Vertriebsmaßnahmen. Das Programm war eng getaktet und ließ bedauerlicherweise schon im Vorfeld keinen Raum für Diskussion erkennen. Mit Blick auf die wichtigen und zukunftsrelevanten Themen kamen Herrn Meier bereits im Flieger Bedenken. Hoffentlich würde das nicht wieder nur »Musik von vorne« – nach dem Motto: »Friss oder stirb!« Im vergangenen Jahr war es leider so gewesen. Aber Herr Meier hatte dies seinem Chef zurückgemeldet und ging eigentlich davon aus, dass dieser das Feedback auch von Kollegen erhalten hatte und in eine Veränderung übersetzen würde. Eigentlich …
10.00 Uhr: Der Sitzungsraum in der Zentrale war bis auf den letzten Stuhl besetzt. Ungefähr 60 Führungskräfte saßen an ihren Tischen, der Geräuschpegel war hoch, alle waren angeregt im Austausch miteinander. Schließlich sah man die Kollegen aus dem übrigen Deutschland nur selten. Pünktlich eröffnete der Vorstandsvorsitzende die Konferenz. Schlagartig verstummten die Gespräche, die Teilnehmer klebten an seinen Lippen. Er wünschte allen ein gutes, gesundes neues Jahr, vor allem ein erfolgreiches. Eines, das an den Erfolg des Vorjahres anschließe und diesen gewiss noch steigere. Die Zentrale habe sich hierzu in einigen Projekten intensive Gedanken gemacht und unterstützende Maßnahmen entwickelt, die heute vorgestellt und sicherlich breite Zustimmung finden würden.
»Wir freuen uns auf einen regen Austausch mit Ihnen!« Mit diesen Worten beendete er seine Einführung. Herr Meier nahm diese Aufforderung ernst und schaute zuversichtlich und optimistisch auf den inhaltlich gut gefüllten Tag. Der Reihe nach berichtete nun jedes Vorstandsmitglied über das zurückliegende Geschäftsjahr aus der Perspektive der einzelnen Ressorts. Vertrieb, Risikomanagement, IT, Personal. Die Charts der Präsentationen wurden den Teilnehmern später zur Verfügung gestellt. Gut – denn die Informationen von etwa 180 Folien mitzuschreiben, wäre schlichtweg unmöglich.
Echter Austausch ist wichtig
12.30 Uhr: Nach zweieinhalb Stunden Folienschlacht ohne jeglichen Dialog war schließlich Mittagspause und endlich Zeit zum Austausch! Der Geräuschpegel schnellte sofort wieder nach oben, denn die Teilnehmer hatten jede Menge Rede- und Klärungsbedarf: Wieso waren denn die Personalkosten gestiegen, obwohl doch die Sollstärken reduziert wurden? Und wie konnte es sein, dass die Bearbeitungszeiten der Kundenanträge länger waren als vor zwei Jahren? Der Vertrieb hatte doch mit Hochdruck an der Verkürzung der Prozesse gearbeitet? Viele Fragen, wenige Antworten. Und was stand auf der Folie über das Ranking der Regionen? Wurden da alle Kriterien berücksichtigt? Der Vorstand war beim Mittagessen leider nicht dabei. So wurden aus unbeantworteten Fragen Spekulationen, Fehlinterpretationen und Missverständnisse, die schließlich eine getrübte Atmosphäre verursachten.
Mit tausend offenen Fragen, gedämpfter Stimmung und Skepsis, wie denn wohl der Nachmittag weiter verlaufen würde, fanden sich die 60 Führungskräfte um 13.30 Uhr wieder im Konferenzraum ein. Die vier Vorstandsmitglieder betraten den Raum um 13.29 Uhr, nahmen in der ersten Reihe Platz und lauschten den Ausführungen des Bereichsleiters Vertriebsmanagement, der die vertrieblichen Schwerpunkte für das laufende Geschäftsjahr sowie daraus abgeleitete Maßnahmen vorstellte. Ambitionierte Ziele, dessen sei sich die Zentrale bewusst. Aber mit der erforderlichen Unterstützung der Anwesenden sei das sicherlich zu schaffen. Schließlich hätten Vertriebler an dem Projekt mitgearbeitet und die Ziele für realistisch befunden. »Falls keine Fragen oder Anmerkungen bestehen, dürfen wir von Ihrem Commitment ausgehen.« Betretenes Schweigen … Schließlich meldete sich Herr Meier zu Wort: »Wir haben die Sollstärken im Vertrieb im vergangenen Jahr um 10 Prozent gesenkt. Heute Morgen habe ich gehört, dass sich die Bearbeitungszeiten im Antragsverfahren verlängert haben. Das ist für mich eine Folge des Stellenabbaus. Nun frage ich mich, mit welchen Kapazitäten wir im Vertrieb die sicherlich guten, aber zusätzlichen neuen Vertriebsmaßnahmen umsetzen sollen?«
Einen Moment lang war es so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Diese Gedanken hatten sicherlich eine ganze Reihe der Anwesenden im Kopf und sie waren erleichtert, dass Herr Meier sie ausgesprochen hatte. Der konnte sich das auch trauen, schließlich lag er mit seiner Region im Ranking ziemlich weit vorne. Der Bereichsleiter stand erhöht am Rednerpult: aufrechte Haltung, leicht erhobenes Kinn, direkter Blickkontakt, ernster Gesichtsausdruck. Durch diese Körpersprache wirkte er sehr streng und verstärkte diesen Eindruck mit folgenden Worten: »Herr Meier«, – (tiefes Durchatmen) – »Sie können sicherlich davon ausgehen, dass wir die Vertriebsmaßnahmen unter Berücksichtigung der aktuellen Sollstärken entwickelt haben. Daher kann ich Ihre Frage nicht ganz nachvollziehen. Sollten Sie speziell in Ihrer Region Probleme bei der Umsetzung sehen, müsste dies sicherlich an anderer Stelle besprochen werden, denn selbstverständlich lebt der Erfolg der Maßnahmen von den handelnden Personen.«
Kritik wird oft weggewischt
Aua, das war ja mal eine schallende Ohrfeige – und das vor allen Kollegen! Herr Meier setzte sich wieder hin. Er fühlte sich elend, blamiert, vorgeführt und abgewiesen. Am liebsten würde er den Raum verlassen, aber das ließe die Blamage noch offensichtlicher werden. »Das ist das letzte Mal, dass ich in diesem Kreis den Mund aufmache! Ich hätte wissen müssen, dass es denen in der ersten Reihe am liebsten ist, wenn wir alle die Klappe halten.« Mit diesen Gedanken quälte sich Herr Meier und merkte dabei nicht, dass er unbewusst beschloss, ab jetzt als Feigling in den Konferenzen zu...