[5|6] Katja Schneider
Tanzfiguren der frühen Leni Riefenstahl
Im Vorspann zu dem Film DER HEILIGE BERG (1926)1 gehört die Tänzerin Diotima zur Figurengruppe der »Sportsleute«2 – dann gibt es noch »die Schauspielerin«, nämlich die Mutter, gespielt von Frieda Richard. Augenscheinlich verdankt sich die vorgenommene Unterscheidung zwischen Sportlern und Schauspielern der alpinsportlichen Betätigung in der Diegese des Films. Auch Diotima, die abends auf der Bühne tanzt, fährt tagsüber die Berge hinab. Darüber hinaus verdankt sich die Differenzierung dem biografischen Hintergrund der Darsteller, insofern diese keine Sportler spielen, sondern tatsächlich Sportler sind. Der »Ingenieur« Louis Trenker in der Rolle des »Freundes« war professioneller Bergführer und Skilehrer, so athletisch wie der junge Petersen und die Gruppe der am Skirennen teilnehmenden »deutschen, norwegischen und österreichischen Meisterfahrer«. In dieser Authentifizierungsstrategie des Films, die der Attraktion »Bergfilm« und vor allem der »Freiburger Schule« Fancks geschuldet ist,3 nimmt Leni Riefenstahl eine besondere Position ein, da sie – wie im Film – beruflich Tänzerin ist (also quasi sich selbst spielt) und neuerdings Ski fährt.
Abgesehen von pragmatischen Überlegungen, Riefenstahl unter die Sportler zu subsumieren (und damit die einzige junge Frau im Film an die erste, prominente Stelle im Personenverzeichnis zu setzen), evoziert diese Zuordnung eine enge Verbindung der Körperpraxen Tanz und Sport. Dabei könnte man beim ersten Blick auf das Personenverzeichnis annehmen, dass in diesem Verbund sich erstens der Tanz dem Sport unterordnet, zweitens die Tänzerin über das verbindende Element der gesteigerten körperlichen Bewegung in die Gruppe der Sportler integriert ist und drittens der Film das primäre, beide Körperpraxen repräsentierende Medium darstellt.
Doch dieses Verhältnis ist durchaus komplex. Der Neue Tanz,4 der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstand, differenzierte sich in den 1920er Jahren weitestgehend aus. Im Rückgriff auf Antike, Historismus und Natur (Isadora Duncan), in der eklektizistischen Adaption exotistischer Modelle (Ruth St. Denis) und im Verbund mit neuesten wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften wie Radium, Licht und Film (Loïe Fuller) sowie dank seiner Fähigkeit, direkt, unmittelbar [6|7]und niedrigschwellig zu kommunizieren, erwies sich der Neue Tanz als kulturell vielfältig anschlussfähig und attraktiv. Ohne hier alle Anschlüsse nennen und systematisieren zu können, sei nur an einige erinnert: Im Kontext der Lebensreformbewegung lässt sich die neue Kunstform als ganzheitliche in Stellung bringen gegen Industrialisierung und Urbanisierung. Dem Tanz wird ein spezifisches und exklusives Abbildverhältnis mit innerseelischen Vorgängen zugesprochen, das sich in Traum- und Trancetänzen sowie in dem Namen niederschlägt, der den Tanz jener Epoche charakterisiert: Ausdruckstanz. Damit überschreitet der Neue Tanz deutlich die engen Grenzen der gymnastischen Ertüchtigung und der rhythmischen Gymnastik von Émile Jaques-Dalcroze, die ihn zu Beginn gleichwohl prägte. In den 1920er Jahren wird der Neue Tanz zu einem Massenphänomen, das neue Berufsfelder eröffnet (Pädagogik, freie Tanzgruppen), sich selbst reflektiert und journalistisch sowie wissenschaftlich aufarbeitet und in der Lage ist, andere soziale Praxen und Phänomene (wie Sport, Alltagsverrichtungen und -moden) zu repräsentieren und zu kommentieren. Schauplatz des Neuen Tanzes ist nicht länger nur das Theater oder die Tanzbühne, sondern man tanzt auch in der Bibliothek, im Museum, auf dem Konzertpodium, im Freien und an Orten, die zwar dem Tanz angestammt, aber lange nur seiner dezidiert erotischen Variante vorbehalten waren, wie im Varieté, in der Music Hall oder dem Kabarett.
Der Neue Tanz geht in dieser Zeit ein enges Bündnis mit Literatur, Fotografie und Film ein und wird in seiner medial vermittelten, reproduzierten Form zum entgrenzten, allgegenwärtigen Phänomen. Er bietet visuelle Umsetzungen für semantisch unterschiedliche Aufladungen an und wird als wortlos beredte Kunst mit einem Netz verbaler Diskurse überzogen.5 Im Fokus dieses diskursiven Feldes stehen dabei tänzerische Bewegung, choreografische Gestaltung und – vor allem – Konzepte des Körpers. Somit liegt es nahe, den Neuen Tanz, wie er sich zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg darstellt und wie er zu dieser Zeit konzeptualisiert und rezipiert wird, als zentralen Interdiskurs6 der Körperpraxen zu beschreiben. Dies soll am Beispiel der Filme DER HEILIGE BERG und DAS BLAUE LICHT (1932) skizziert werden.
I. Die tanzende Leni Riefenstahl
Den Topos der »Tänzerin« Leni Riefenstahl prägte Riefenstahl selbst, etablierte ihn als diskursive Figur in ihren 1987 veröffentlichten Memoiren7. Dort inszeniert sie ihre Tänzerinnenkarriere als triumphalen Willen [7|8]zum Tanz gegen alle Widerstände. Sie beschreibt ihre tänzerische Lauf bahn als ekstatischen, erfolgreichen Höhenflug genialer Schöpfungskraft, die durch einen Schicksalsschlag, einen Bühnenunfall, jäh gestoppt wurde. Biografien remythologisieren diese Topoi, untersuchen sie in ihrer dramaturgischen Funktion für die Memoiren, relativieren und kommentieren ihren Wahrheitsgehalt.8 Unterrichtet wurde Riefenstahl in der Tanzschule von Helene Grimm-Reiter in Berlin, einer fortschrittlichen Pädagogin, die Anita Berber in ihrem Studio proben ließ und sich später aktiv an den Tänzerkongressen beteiligte. Sie nahm bei der renommierten klassischen Tänzerin Eugenie Eduardowa Unterricht in Ballett, parallel dazu besuchte sie die Jutta-Klamt-Schule für Ausdruckstanz. Bei Abstechern nach Dresden lernte sie den Stil von Mary Wigman kennen, in deren Gruppe zu dieser Zeit Gret Palucca und Vera Skoronel tanzten. Ihren ersten Auftritt hatte Riefenstahl als Schülerin bei Helene Grimm-Reiter, als sie als 17-Jährige 1919 bei einer Aufführung im Berliner Blüthner-Saal für die erkrankte Anita Berber einsprang. Weitere Programme im Rahmen von Schulaufführungen folgten. Als ausgebildete Tänzerin debütierte sie mit einem eigenen Soloabend im Oktober 1923 in der Münchner Tonhalle, im Dezember des gleichen Jahres stellte sie sich in Berlin vor. Eine Reihe von Auftritten in Städten im In- und Ausland schloss sich an, bis sie sich etwa ein halbes Jahr später, im Mai 1924, am Knie verletzte. 15 Tänze aus dieser Zeit sind dokumentiert.9
Zu Werbezwecken hatte Riefenstahl ein Heft mit lobenden Presseausschnitten drucken lassen, die negativen Beurteilungen ließ sie weg. So würdigte der renommierte Tanzkritiker Fred Hildenbrandt am 21. Dezember 1923 im Berliner Tageblatt zwar die Schönheit Riefenstahls und ihre tänzerische Eigenart im Vergleich zu den drei berühmten Kolleginnen Niddy Impekoven, Mary Wigman und Valeska Gert, verriss anschließend aber ihr gestalterisches Vermögen: »(…) es bewegt sich eine wundervolle Attrappe, gewiß angefüllt mit Lust am Raum, Durst nach Rhythmus, mit Heimweh nach Musik, jedoch wird von dieser Lust der Raum nicht lebendig, in diesem Durst verdorrt der Rhythmus und das Heimweh steht wie ein starrer Mantel wider die Musik«.10 Es bleibe eine »leise Trauer, daß solche äußere Vollkommenheit nicht gesegnet ist mit der Gnade des Blutes, der Herrlichkeit des Genius, der Fackel des Dämons«.11
Trotz dieser kurzen Karriere und der problematischen Quellenlage12 wird im Bezug auf die Regisseurin immer auch auf die Tänzerin Leni Riefenstahl mit Nachdruck hingewiesen. Dies ist sicherlich der Rezeption Riefenstahls eigener Künstlerlegendenbildung zu verdanken, die Berufung zur Kunst und erste Äußerung als Genie am Tanz festmachte [8|9]sowie einen direkten, bruchlosen Übergang zwischen Tanz und Film konstruierte. Letzteres schilderte sie schon früh, 1933 in ihrem Buch Kampf in Schnee und Eis, das sich ihren Erlebnissen als Darstellerin und Regisseurin von Bergfilmen widmet. Die Initiation in den Film ist mit einer Erweckungsszene korreliert, die Trauer über den verlorenen Tanz und Schmerzen im Knie mit dem Blick auf Berg und Mann verknüpft. Situiert im U-Bahnhof am Nollendorfplatz im Juni 1924, sieht die Wartende das Werbeplakat für den Film BERG DES SCHICKSALS (1924) von Arnold Fanck: »Eben noch war mir bewußt, daß ich zu einer Verabredung fahren müsse, nun starre ich, wie hypnotisiert, auf dieses Bild, auf diese mächtig aufstrebenden Felswände und den breiten Spalt zwischen ihnen, starre auf den Mann, der sich von einer Wand zur andern schwingt. Als ich zu mir komme, wie aus einem Traum erwache (…)«.13
Die Berge rufen, sie reist hin, trifft Luis Trenker und dient sich – zurück in Berlin – Arnold Fanck als Darstellerin an. Am Abend vor der eiligst anberaumten Knieoperation, von der niemand etwas wissen darf, schreibt sie »nur an Dr. Fanck (…) weil ich ihm Bilder und Tanzkritiken versprochen habe«14. Während Riefenstahl in postoperativem Fieber liegt, verfasst Fanck für sie das Manuskript zu DER HEILIGE BERG und bringt es ihr am vierten Tag nach dem Eingriff ins Krankenhaus – so erzählt es die Autorin.15 Riefenstahls Tanz, der Fanck über Rezensionen und Fotos medial vermittelt wird, gerät in dieser Stilisierung zur entscheidenden Schnittstelle zwischen Riefenstahl und den Filmen,...