Jörn Glasenapp
Wim Wenders und seine Spielfilme
Zugegeben, es ist lange her – gut 35 Jahre –, dass Wim Wenders als Musterautor des deutschen Films, der er damals schon war und heute noch ist, mit Blick auf sein Œuvre vermerkte, »daß jeder Film auf den vorigen reagiert«.1 Und doch will mir scheinen, als sei diese Behauptung, geäußert im Vortrag Unmögliche Geschichten aus dem Jahr 1982, auch bei der Auseinandersetzung mit seiner jüngeren und jüngsten Schaffensphase nicht ohne Wert. Besonders prägnant zeigt dies beispielsweise ein Blick auf das Nacheinander von EVERY THING WILL BE FINE (2015) und DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ (2016), zwei Schriftsteller-Filmen – der eine (auf den ersten Blick) recht konventionell gehalten, der andere hingegen offensiv radikal –, die das Thema »künstlerische Inspiration« kaum unterschiedlicher abhandeln könnten. Von der Kritik wenig beziehungsweise überhaupt nicht geschätzt, ist ihrer beider Qualität tatsächlich außerordentlich hoch und unbedingt dazu angetan, all jene, die meinen, Wenders’ große Zeit als Regisseur, zumindest als Spielfilmregisseur, liege bereits Jahrzehnte zurück, eines Besseren zu belehren. Um es in aller Entschiedenheit zu sagen: Der späte Wenders steht dem frühen keineswegs nach und verdient es, dass sich ihm von filmwissenschaftlicher Seite endlich mit demselben Engagement wie Letzterem gewidmet wird.
In dieser Richtung den einen oder anderen Anstoß zu geben, ist eines der Ziele des vorliegenden Hefts sowie meiner nun folgenden Ausführungen. Ihnen vorausgeschickt sei der Hinweis, dass sie ihrem Auftrag, Wenders einführend vorzustellen, nicht über einen chronologischen Durchgang durch dessen kinematografisches Schaffen nachkommen; dies würde ob des gewaltigen Umfangs desselben – der bis heute unerhört produktive Filmemacher drehte seit Ende der 1960er Jahre neben zig Kurzfilmen und Musikvideos circa 40 Spiel- und Dokumentarfilme – auf etwas hinauslaufen, das einer bloßen Werk-Aufzählung nahekäme. Stattdessen wird eine, um nicht zu sagen: die zentrale Problemachse des Wenders’schen Œuvres sondiert, über die sich letztlich allen Filmen des Regisseurs sehr zielführend und produktiv nähern lässt.
I. Vampirische Geschichten
Der Vortrag Unmögliche Geschichten ist insofern ausgesprochen substanziell, als er mit dem Gegenüber von Bildern auf der einen und Geschichten, im Sinne von Stories, auf der anderen Seite einen Kerndualismus des Wenders’schen Kinos, möglicherweise sogar großer Teile des Kinos überhaupt, zum Thema hat.2 Dass sich der Sprecher, der seine künstlerische Karriere als Maler begann, eigenen Angaben zufolge »(über die Bilder und als Maler) in das Filmemachen hineingeraten«3 ist und seit den 1970er Jahren parallel zu seiner Regietätigkeit fotografiert, als Anwalt der Bilder begreift, Geschichten indes äußerst skeptisch gegenübersteht, ist leicht nachzuvollziehen. Er macht aus dieser Tatsache auch gar keinen Hehl, wobei er sich, um seine Position zu veranschaulichen, einer auffallend bildreichen Sprache bedient: »Die Manipulation, die nötig ist, um all die Bilder eines Films in eine Geschichte zu pressen, mag ich nicht; für die Bilder ist sie sehr gefährlich, denn tendenziell absorbiert sie, was an ›Leben‹ in ihnen steckt. Im Verhältnis von Geschichte und Bild ähnelt für mich die Geschichte einem Vampir, der versucht, dem Bild das Blut auszusaugen. Bilder sind sehr empfindlich, ein bißchen wie Schnecken, die sich zurückziehen, wenn man ihre Fühler berührt. Sie wollen nicht wie ein Pferd arbeiten; sie wollen nichts tragen und transportieren: weder Botschaft noch Bedeutung, weder Ziel noch Moral. Genau das wollen aber Geschichten.«4 Mag sein Misstrauen gegenüber Geschichten auch groß sein, so ist sich Wenders sehr wohl im Klaren darüber, dass der Mensch ohne Geschichten, oder genauer: ohne das Ordnungsversprechen, das Geschichten geben, beziehungsweise die Kontingenzbewältigung, die sie zu leisten scheinen, nicht leben kann, dass die Geschichtenbedürftigkeit nichts weniger als eine anthropologische Konstante und Universalie darstellt. »Geschichten«, so führt er ganz in diesem Sinne aus, »geben den Leuten das Gefühl, daß es einen Sinn gibt, daß sich eine letzte Ordnung und Reihenfolge hinter der unglaublichen Verwirrung aller Erscheinungen verbirgt, die sie umgeben. Diese Ordnung wünschen sich die Menschen mehr als alles andere, ja ich würde beinahe sagen, daß die Vorstellung von Ordnung oder von Geschichte mit der Vorstellung von Gott zusammenhängt. Geschichten sind Gottersatz. Oder umgekehrt.«5 So gesehen, avanciert das Kino als der prominente Geschichtenlieferant, der es spätestens seit David Wark Griffith ist, zu einer Art Kirchensubstitut.
Freilich fühlt sich Wenders, der als ein in einem konservativen katholischen Elternhaus aufgewachsener Jugendlicher tatsächlich einmal Priester zu werden gedachte (dies allerdings nicht zuletzt unter dem Einfluss der von ihm wiederholt als »lebensrettend«6 titulierten Rockmusik verwarf), als Regisseur keineswegs zur Orthodoxie berufen. Ebendies lässt auch und besonders jener Film erkennen, der just zu der Zeit entstand, als Wenders seinen Vortrag über die unmöglichen Geschichten hielt: DER STAND DER DINGE (1982), den sein Schöpfer selbst denkbar treffend als »Antifiktionsfilm«7 titulierte. Gedreht als Reaktion auf das seit 1978 andauernde Debakel um HAMMETT (1982), Wenders’ heillos gescheiterten Versuch, als eigenwilliger auteur in Hollywood, wenn nicht Fuß zu fassen, so doch wenigstens künstlerisch ertragreiche Arbeit abzuliefern, wartet das in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete, Federico Fellinis OTTO E MEZZO (ACHTEINHALB, 1963), vor allem aber Rainer Werner Fassbinders WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1971) nahestehende Werk mit dem Porträt eines Autorenregisseurs namens Friedrich Munro (Patrick Bauchau) auf,8 der von der »Unmöglichkeit (…), im Film eine Geschichte zu erzählen«,9 fest überzeugt ist. Entsprechend apodiktisch fällt sein Leit- und Grundsatz zum Filmemachen aus: »Geschichten gibt es nur in Geschichten.« Dass der Wenders von 1982, der aufgrund seiner ernüchternden Erfahrungen mit HAMMETT vom geschichtenversessenen Hollywood erst einmal genug hatte, diese Ansicht grundsätzlich teilte, mehr noch: dass er mit Munro zu guten Teilen ein Selbstporträt geschaffen hatte, steht außer Frage.
Friedrich Munros und Wim Wenders’ Leit- und Grundsatz in DER STAND DER DINGE
Er habe DER STAND DER DINGE drehen müssen, »(u)m HAMMETT zu überleben«,10 so Wenders retrospektiv, dem aber bereits während der Produktion seines selbstreflexiven »Thesenfilm(s)«11 klar wurde, dass sich auf einen programmatischen Anti-Geschichten-Rigorismus keine Regiekarriere aufbauen ließ. Darüber hinaus überkam ihn, als Reaktion auf seine diesbezügliche Askese in DER STAND DER DINGE, schon bald die Lust an der Geschichte, am Geschichtenerzählen – erneut, muss man sagen, denn bereits nach IM LAUF DER ZEIT (1976), seinem zwar durchaus geschichtsgesättigten, aber ohne nennenswerte Geschichte auskommenden Hauptbeitrag zum slow cinema,12 hatte er sie gespürt, diese Lust. Damals hatte er ihr mit der fulminanten Patricia-Highsmith-Adaption DER AMERIKANISCHE FREUND (1977) nachgegeben,13 nun hieß die Antwort PARIS, TEXAS (1984), und sie geriet zum Triumph: Denn nicht nur, dass Wenders in Cannes unangefochten die Goldene Palme gewann, auch an der Kinokasse erwies sich das in Kooperation mit Sam Shepard entstandene Meisterwerk als großer internationaler Erfolg, wofür die Tatsache, dass es dem Geschichtenbedürfnis des breiten Publikums vergleichsweise bereitwillig entgegenkam, entscheidend mitverantwortlich gewesen sein dürfte. »PARIS, TEXAS hatte von Beginn an eine viel direktere Richtung, ein genaueres Ziel. Und er hatte von Anfang an mehr Geschichte als meine früheren Filme, und diese Geschichte wollte ich erzählen, was das Zeug hielt«,14 so Wenders, für den der Film auch insofern eine Genugtuung darstellte, als er ihm und aller Welt bewies, dass er, der mit HAMMETT in Amerika Gescheiterte, sehr wohl einen Amerika-Film mit klar erkennbarer Wenders-Handschrift zu realisieren imstande war.15
Das neben DER STAND DER DINGE und PARIS, TEXAS dritte Hauptwerk, das Wenders in den 1980er Jahren schuf, DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987), lässt prima facie erkennen, dass bei dessen Entstehung dem Regisseur die Erzähllust, die ihn bei seinem Film von 1984 angetrieben hatte, inzwischen gründlich vergangen war, dass er stattdessen wieder weitgehend jene Haltung eingenommen hatte, die ihn DER STAND DER DINGE hatte drehen lassen.16 Nichts weiter als ein »Prolog« beziehungsweise »das Versprechen einer Geschichte«17 sei sein Berlin-Film, dessen auf das bewährte Muster der Zirkusromanze aufsetzende Liebeshandlung um den zum Menschen werdenden Engel Damiel (Bruno Ganz) und die mit Engelsflügeln ausgestattete Trapezakrobatin Marion (Solveig Dommartin) derart konventionell und stereotypengesättigt daherkommt,18 dass man versucht ist, zu folgendem...