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FILM-KONZEPTE 52 - Woody Allen

Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl97 Seiten
ISBN9783869167695
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Woody Allen (*1935): Als schreibender, regieführender und schauspielender Autor hat er insgesamt fast 50 Kinofilme gedreht und wurde vielfach für sein Werk ausgezeichnet. Aktuell beherrscht jedoch ein Missbrauchsvorwurf die Debatte um den Ausnahmeregisseur. Als Filmemacher hatte Woody Allen mit seiner Arbeit so dauerhaft Erfolg, dass er noch im Rentenalter mindestens einen Film pro Jahr in die Kinos brachte. Über Jahrzehnte war er so beliebt, dass sogar große Stars für ein Taschengeld mit ihm gedreht haben. Nun findet er sich jedoch an einem kritischen Punkt wieder, denn eine Reihe dieser Stars haben die Zusammenarbeit mit Allen öffentlich als großen Fehler bezeichnet - zu Zeiten, als der Missbrauchsvorwurf seiner Adoptivtochter Dylan schon lange bekannt war. Möglicherweise - so vermutet die Fachpresse - wird es keinen weiteren Woody-Allen-Film geben. Dieses Heft kann nicht im Ansatz den gebotenen Herausforderungen gerecht werden: weder der Darstellung eines so umfangreichen Werks und seiner Bedeutung für die Kulturgeschichte, noch der Frage, wie mit diesem Werk umzugehen ist angesichts des Vorwurfs, der aktuell im Raum steht. Doch soll der Versuch unternommen werden, einen Beitrag zu einer Diskussion zu leisten, in der sich die Frage nach dem Zusammenhang von Leben und Werk neuerlich stellt.

Johannes Wende studierte Kommunikationswissenschaft und Filmregie in München. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Medienwissenschaft der HFF München. 2012 Promotion zum Thema 'Der Tod im Spielfilm'.it zur Geschichte und medialen Praxis der Videothek. Forschungsschwerpunkte: (deutsche) Medien- und Filmgeschichte, Genreästhetik und -geschichte, Distributionsformen des Films u. a.

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Leseprobe

Johannes Wende

Woody Allen
Eine Einleitung


Ein alter, eher kleiner Mann steht am rechten Bildrand und schaut durch zwei Türrahmen hindurch auf eine dritte Tür – den Eingang zur Wohnung, wie am Türklopfer und an den Schlössern zu erkennen ist. Die Wohnungstür steht offen, sie soll Besucher einlassen, die jetzt noch nicht zu sehen sind. Ein leeres Blickfeld – ein leeres Bild aber nur dem ersten Anschein nach: Denn vieles, was das Werk von Woody Allen auszeichnet und Thema dieses Hefts der Film-Konzepte sein wird, ist in dieser Einstellung angedeutet.

Wie stillgestellt erscheint da zuerst die historische Situation, denn diese Szene könnte ebenso vor 70 Jahren spielen wie heute. Die gezeigte Kleidung, Türen, Accessoires und die Inneneinrichtung sind nicht eindeutig; sie stehen eher für eine Kontinuität zwischen den 1960er Jahren, in denen die Amazon-Serie CRISIS IN SIX SCENES (2016), aus der dieses Bild stammt, spielen soll und in denen Allen auch seine Karriere als Filmemacher aufgenommen hat, und heute – 50 Jahre und 48 Filme später. Diese Filme wirken schon lange wie aus der Zeit gefallen, dem Standbild vergleichbar. Mit Titeln in beinahe immer derselben, wiedererkennbaren Typografie, mit einem festen Stab an kaum jüngeren Mitarbeitern und einem Inszenierungsstil von langen, kaum unterschnittenen Szenen, aus halbtotaler Entfernung aufgenommen, sowie mit einem bestens bekannten Humor, der weniger überwältigen als gepflegt unterhalten will. Denn das Genre der Komödie, das im Werk Allens den größten Raum einnimmt, bleibt in diesem Bild in sonniger Ausleuchtung und der Andeutung eines recht aufgeräumten Hauses spürbar. Ebenso wie die Einrichtung auch auf die bevorzugte soziale Welt seiner Filme verweist, die Ober- und gehobene Mittelschicht der US-amerikanischen Ostküste. Der angeschnittene Schreibtisch im Eck links unten offenbart Sidney Munsinger, wie die von Allen verkörperte Figur in der Serie heißt, als Schreibenden: Er verdient sein Geld als Autor. Auch diese Tätigkeit kann in einen Bezug zur Lebenswelt gestellt werden: Als Comedy-Schreiber für Stand-up, für Presse und Rundfunk hat er seine Karriere begonnen und noch nie hat Allen bei einem Film Regie geführt, dessen Drehbuch er nicht selbst verfasst hat. Auf dem Tisch von Munsinger stapeln sich Archivkartons. Diese großen Pappkartons sind gewissermaßen auch ein Hinweis darauf, dass in Woody Allens Leben einiges an Material zusammengekommen ist seit Anfang der 1960er Jahre. Zu den ausdrücklich genannten Vorbildern seiner Arbeit gehören bekannte Vertreter der sogenannten Hochkultur – der Schreibende präsentiert sich auch im Standbild als Leser, was durch dickleibige Bände auf dem Schreibtisch angedeutet wird.

Gleichzeitig erscheint hier Woody Allen in einer Position, die seine Arbeitsweise und ihre besonderen Herausforderungen ins Bild fasst: Denn stellt man sich ihn in diesem Bild als Regisseur vor, dann schaut er in die richtige Richtung. Er wartet auf den Auftritt seiner Schauspieler, diese muss er anleiten und er muss entscheiden, nach welchem Take das Team wieder umbauen kann. Wer ganz genau hinschaut, kann sogar eine Hand mit einem Glas entdecken, die zu einer hinter der Wohnungstür stehenden Figur gehören muss, deren Aufgabe es sein müsste, einen Gast zu begrüßen. Die Türrahmen im Bild spiegeln den Rahmen des Filmbilds, in das die Figuren gefasst sind. Und das, während er selbst Teil des Bildes ist: Allen, der Schauspieler, erscheint hier wie Allen, der Regisseur. Er muss sich also selbst anleiten, sich selbst über die Schulter sehen.

Dabei trennen den Regisseur vom »Bild« jedoch zwei schwere Türrahmen, die Distanz ist eine verdoppelte – ein Bild auch für die distanzierte Perspektive, die die Presse und die wissenschaftliche Öffentlichkeit seit einiger Zeit auf ihn hat. So wenden sich in den letzten Monaten gerade viele von denen ab, die er als Regisseur hat auftreten lassen. Rachel Brosnahan, die eine der Hauptfiguren in CRISIS IN SIX SCENES verkörperte, erklärte inzwischen öffentlich, sie bedaure, den Part übernommen zu haben.1 Zahlreiche weitere Schauspielstars haben angekündigt, nie wieder mit ihm drehen zu wollen, nachdem ausgerechnet sein eigener Sohn, der Journalist Ronan Farrow, mit der Aufdeckung des Gebarens von Harvey Weinstein eine ganze Bewegung ausgelöst hatte. #MeToo hat das Ziel, den systematischen, weit verbreiteten und fast immer verschwiegenen Missbrauch durch mächtige Männer in der Filmbranche aufzudecken. Allen, dem seine Adoptivtochter Dylan Farrow seit 1992 öffentlich vorwirft, sie sexuell missbraucht zu haben, geriet dabei wieder in den Fokus, nachdem es eine Zeitlang so schien, als sei das Thema in Vergessenheit geraten. Ob auch in Zukunft noch bekannte Schauspieler bereit sein werden, für den Regisseur Allen aufzutreten, muss sich noch zeigen. In der Fachpresse ist zu lesen, seine Karriere sei beendet.

Was bedeutet das alles für die Herausgabe eines Hefts, das seinen Namen auf dem Titel trägt? Einerseits hat sich die Reihe Film-Konzepte schon in der Vergangenheit nicht an der lebensweltlichen Deutung von Künstlerpersönlichkeiten beteiligt, sondern sich bewusst auf das Werk, dessen Bezüge und Wirkungen fokussiert. Der Name auf dem Cover war also stets um ein gedachtes »Die Filme von …« zu erweitern. Egal, was später einmal über diese Menschen hinter der Kamera noch bekannt werden sollte, das Geschriebene sollte dadurch seine Gültigkeit nicht verlieren. Thema war stets das Werk. Andererseits aber stützt sich die Reihe schon in ihrem Titel auf das Konstrukt einer Person, auf eine zugrunde liegende Konstanz der titelgebenden Persönlichkeit. Denn an ihr wird ja die Filmauswahl festgemacht, sie ist das Verbindende der untersuchten Gruppe von Filmen. Und unbestreitbar steckt in jeder veröffentlichten Analyse immer auch eine Form der Würdigung.

Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Woody Allens ist die Gegenwart also eine besondere Herausforderung. Der Prozess um seine Person ist noch aktuell und in Bewegung; weitere wichtige Diskussionsbeiträge, Entdeckungen oder Entwicklungen sind wahrscheinlich, eine hilfreiche historische Distanz gibt es noch nicht. Welche Position soll die Filmwissenschaft in einem solchen Fall einnehmen? Wie sollte sie sich verhalten? Zwei gestandene Wissenschaftlerinnen, die für diesen Band zugesagt hatten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern besonders der Film MANHATTAN heute kritisch gesehen werden kann, haben vier Wochen vor Abgabe ihren Beitrag ersatzlos abgesagt – allein mit dem Hinweis »Uns ist das Thema derzeit zu heiß.« Unser Titelbild, in dem »Woody« als visuelle Marke gerade nicht ins Auge springt, sondern als kaum erkennbare Figur in den leeren Raum sieht, ist daher auch ein Sinnbild für offene Fragen, für ein ungelöstes Problem.

Was kann eine Untersuchung dieser Filme und der Persona »Woody« heute leisten, das einerseits Gültigkeit beanspruchen kann und andererseits über die zahlreichen Diskussionsbeiträge der Presse hinausgeht? Zuallererst kann und sollte sie die Herausforderungen benennen, die Voraussetzungen versuchen zu klären, welche diesen speziellen Fall ausmachen. Diese sind ausdrücklich nicht als Indizien für oder gegen die Schuld von Woody Allen zu lesen, hierzu kann die Perspektive der Medienwissenschaft nichts Seriöses beitragen. Vielmehr verhandeln sie die Frage, inwiefern Wahrnehmungseffekte und medial geprägte Images die Diskussion um Schuld und nötige Konsequenzen beeinflussen.

1. Der Autor Woody Allen und die Figur »Woody«


Über Woody Allen nicht zu schreiben, hieße, ein Werk von 48 Filmen zu ignorieren, von denen viele Erfolg beim Publikum hatten, und von denen einige zu einer Art Kanon der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts gezählt werden können. Trotz seiner offen erklärten Abneigung gegen Hollywoods Tradition, sich selbst zu feiern, wurde er so oft wie kein anderer als Drehbuchautor für den Oscar nominiert. Er gewann ihn vier Mal, zudem zehn BAFTA-Auszeichnungen, Ehrenpreise für sein Lebenswerk bei den Filmfestspielen von Venedig und Cannes. ANNIE HALL (DER STADTNEUROTIKER, 1977) erscheint in zahlreichen »ewigen Bestenlisten« der Branche. Namhafte Autorinnen und Autoren der Medienwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Philosophie und anderer Fächer haben sich in Büchern und Aufsätzen mit seinen Filmen auseinandergesetzt. Eine Geschichte des US-amerikanischen Films in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kann nicht geschrieben werden, ohne Woody Allen zumindest zu erwähnen.2 Seine Arbeit also in Zukunft einfach zu ignorieren, wäre eine Verfälschung. Zudem bliebe dann auch unterbelichtet, warum eine Diskussion der Vorwürfe gegen ihn überhaupt notwendig erscheint.

Dies liegt nicht nur im Erfolg seiner Arbeit begründet, sondern auch in der besonderen, in dieser Form fast einmaligen Personalunion seiner Autorschaft sowie der Konstanz seiner Arbeit. Seit Beginn der 1970er Jahre zeichnet er allein als kreativ verantwortlich für jeden seiner Filme und hat seitdem im Durchschnitt einen Film pro Jahr gedreht, von denen fast alle in größerem Umfang international in die Kinos kamen. Dabei schreibt er nicht nur und führt Regie, er hat auch als Schauspieler mit »Woody«, dem schlagfertigen, selbstreflexiven, neurotisch-überempfindlichen jüdisch-stämmigen Intellektuellen aus New York, eine Figur geschaffen, die sich in der öffentlichen Wahrnehmung stark mit der Off-screen-Persona Woody Allen überlagert, woran er selbst durch seine Interview-Beiträge mitgearbeitet hat. Es handelt sich um eine Figur, die in ihren...

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