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E-Book

FILM-KONZEPTE 54 - Nicolas Winding-Refn

Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783869168074
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Nicolas Winding Refn (*1970) gehört zu den bemerkenswertesten, aber auch umstrittensten Regisseuren, die sich in der heutigen internationalen Filmlandschaft finden lassen. Einerseits wird Nicolas Winding Refn für die Neubelebung überkommener Genrekonventionen sowie für seine höchst extravagante Bild- und Soundästhetik gefeiert. Andererseits werden ihm ein Hang zu Oberflächlichkeit und Fetischismus sowie die sensationalistische Zurschaustellung von Gewalt vorgeworfen. Tatsächlich jedoch provozieren die Filme Winding Refns vor allem durch die radikale künstlerische Konsequenz, mit der der Däne seine persönlichen Interessen und Obsessionen in höchst atmosphärische Geschichten und Bilder verwandelt. Von seinen erfolgreichen realistischen Anfängen im Gangsterdrama (z. B. 'Pusher') hat sich Winding Refn über Filme wie 'Drive' und 'Only God Forgives' bis ins nahezu Surreale vorgearbeitet und dabei eine ganz eigene filmische Handschrift entwickelt. Die Beiträge in diesem Band ordnen das bisherige Werk Winding Refns formal, inhaltlich und generisch ein, diskutieren herausstechende Einzelaspekte und stellen übergreifende Zusammenhänge zwischen den einzelnen Filmen her.

Jörg von Brincken, Akademischer Rat der Theaterwissenschaft an der LMU München. Promotion zur Groteskästhetik der französischen Pantomime im 19. Jahrhundert, Habilitation zu 'Spektakelmaschinen - Affekte - Einübungen: Kritische Studien zu Film, Medien und Kapitalismus'.

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Leseprobe

Jakob Larisch

Produktiver Störfaktor


Gewaltdarstellung und Exzess in den Filmen Nicolas Winding Refns

Filmischer Exzess


Narration im Spielfilm sei, so David Bordwell, »the process whereby the film’s syuzhet [sujet, d. Verf.] and style interact in the course of cueing and channeling the spectator’s construction of the fabula«.1 Ergo: Der Stil (wie wird etwas filmisch dargestellt?) interagiert mit dem Plot (was wird filmisch dargestellt?), um dem Publikum die Möglichkeit zur Konstruktion einer kohärenten Geschichte zu eröffnen. Doch erschöpft sich Film nicht in einer solchen Bestimmung der Narration, sondern geht über das bloße Erzählen von Geschichten hinaus. Filme kreisen immer wieder auch um einen stilistischen Überschuss, der zwar in das Spiel der Narration eingebunden ist, sie jedoch in einigen Momenten nicht oder lediglich eingeschränkt weiterbringt. Kristin Thompson bezeichnet diesen Überschuss als filmischen Exzess, den sie außerhalb jener filmischen Faktoren verortet, die dafür zuständig seien, eine Kohärenz der erzählten Geschichte zu gewährleisten.2 Ab dem Moment, ab welchem »a viewer begins to notice style for its own sake or watch works which do not provide such thorough motivation, excess comes forward and must affect narrative meaning.«3 Überlagert die stilistische Gestaltung einer Szene ihre Bedeutung beziehungsweise ihren Sinn im Gefüge der Erzählung oder lässt eine eindeutige Motivation für deren Unterstützung vermissen, kann man von »Exzess« sprechen. Es entstehe eine Bedeutung losgelöst von der reinen Narration, die den Seh- beziehungsweise Rezeptionsgewohnheiten des von US-amerikanischer (Film-)Kultur geprägten Publikums widerspreche. Film werde implizit mit Narration gleichgesetzt und lediglich als eine bebilderte Kausalkette gelesen, welche einzig dazu dient, eine Geschichte wiederzugeben.4 Dies münde stets in dem Versuch des Publikums, auch solche Elemente mit narrativer Bedeutung aufzuladen, die dies nicht vollständig hergeben.5 Exzess impliziere somit »a gap or lag in motivation«.6 Würden bestimmte Stilmittel durch ein hohes Maß an narrativer Motivation abgefangen, vermindere dies deren exzessive Qualitäten; fehle hingegen eine (halbwegs) eindeutige Motivation, nehme man bestimmte stilistische Entscheidungen eher als exzessiv wahr.7 Thompson verdichtet diesen Gedankengang in der zentralen Definition: »At that point where motivation fails, excess begins.«8 Sie identifiziert dabei vier Möglichkeiten des Exzesses. Erstens: Ein bestimmtes Element ist zwar grundlegend durch die filmische Narration motiviert, jedoch nicht zwingend in seiner dort präsentierten jeweiligen Form.9 Auch wenn sie diese Idee eher auf Stilmittel bezieht, lässt sie sich ebenfalls auf das Gezeigte an sich anwenden. Zweitens: Ein bestimmtes Element wird länger gezeigt als für das Verständnis der Narration notwendig.10 Drittens: Eine einzelne narrative Motivation kann in vielerlei verschiedenen stilistischen Faktoren Ausdruck finden.11 Viertens: Eine einzelne narrative Motivation kann den Einsatz eines einzelnen stilistischen Faktors rechtfertigen, der kontinuierlich wiederholt wird.12 Filmischer Exzess besteht demgemäß aus »precisely those elements which escape unifying impulses«13 und eröffnet daher die Möglichkeit, Film als ein gemachtes und in seiner konkreten Gestaltung letztendlich arbiträres Konstrukt zu begreifen.14

Nach Linda Williams tragen insbesondere solche Elemente etwas genuin filmisch Exzessives in sich, die den menschlichen Körper und seine Empfindungen in den Mittelpunkt stellen – auf der Leinwand sowie infolge der Rezeption als ein Akt somatischer Übertragung auch auf Seiten des Publikums.15 Sie identifiziert drei Filmgenres, welche sich per definitionem auf Darstellungen des Körperlichen fokussieren: den Horrorfilm (Gewalt gegen den Körper: Schrecken und Ekel), die Pornografie (der Körper in sexueller Ekstase: Erregung) und das Melodram (der Körper in emotionaler Ekstase: Weinen).16 Das exzessive Moment liegt hierbei weniger darin, dass Gewalt-, Sexual- und Gefühlsakte generell Bestandteil der Narration sind, sondern vielmehr darin, wie sie konkret präsentiert werden: »Starkdosierungen von Sex, Gewalt und Gefühl werden – für sich alleine oder in Kombination – von jener Fraktion abgelehnt, die behauptet, dass diese Darstellungen keine Existenzgrundlage jenseits ihres Erregungspotenzials haben«17 – eine Fraktion also, für die Film primär nach erzählerischen Gesichtspunkten zu funktionieren scheint. Definierte bereits Thompson den Exzess-Begriff über das Fehlen einer narrativen Motivation, geht auch Williams auf die Koppelung dieser beiden Aspekte ein: »Es handle sich um unmotivierten Sex, unmotivierte Gewalt- und Terrorakte, unmotiviertes Gefühl, so lauten die Anwürfe gegen das Phänomen des Sensationellen in Pornografie, Horrorfilm und Melodram.«18 Für das Erzählen einer Geschichte, so könnte man diese Anwürfe hypothetisch weiterführen, sei es nicht nötig, Gewalt, Sexualität oder Emotionen drastisch, detailliert, langanhaltend, immer wieder aufs Neue zu präsentieren – denn die Handlung wäre auch ohne derartige Formen der Darstellung verständlich. Doch ist an dieser Stelle der bereits erwähnte stilistische Überschuss von Relevanz, da Film nicht nur erzählt, sondern auch zeigt. Beides ist (im narrativen Film) zwar untrennbar miteinander verbunden, doch kann die Ebene des Zeigens eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Ebene des Erzählens annehmen. In neoformalistischer Terminologie: Der Stil löst sich von seiner Interaktion mit dem Plot, wodurch die Kohärenz der Story infrage gestellt wird.

Geht man nun in Anlehnung an Williams davon aus, dass Momente der filmischen Darstellung von Gewalt (auch jenseits des Horrorfilms) bereits an sich exzessiv sind, liegt es nicht fern, das Œuvre des dänischen Regisseurs Nicolas Winding Refn, das von Gewalt wie von einem roten Faden durchzogen ist, unter dem geschilderten theoretischen Blickpunkt zu betrachten. Die Frage ist hier, ob und wie der zuvor elaborierte Begriff des Exzesses als Schlüssel zum Verständnis der Gewalt in den Filmen Winding Refns dienen kann.19 Es wird folglich eruiert, wie der mit Gewalt verbundene Exzess sowohl durch stilistische Mittel als auch die Einbindung in den dramaturgischen Kontext ermöglicht, gestützt und gesteigert wird und welche Bedeutung sich ihm zuschreiben lässt. Neben jeweils kurzen Verweisen auf ONLY GOD FORGIVES (2013) und THE NEON DEMON (2016) dient DRIVE (2011) hierbei als primäres Untersuchungsobjekt. Zwar war bereits mit VALHALLA RISING (WALHALLA RISING, 2009) eine ästhetische Zäsur im Werk Winding Refns zu identifizieren20, zumal auch dieser Film nicht vor drastischen Gewaltmomenten zurückschreckte, doch waren sie dort noch eher vereinzelt zu finden.21 Mit DRIVE wurde die Drastik der Gewalt ausgeprägter, ausdauernder und systematischer, dies setzte sich in ONLY GOD FORGIVES und THE NEON DEMON fort. Dabei hangeln sich seine Filme keinesfalls von einer drastischen Gewaltszene zur nächsten, die seine Inszenierung dem Vorwurf des maßlosen Gewaltfetischismus preisgäben. Stattdessen oszillieren entsprechende Szenen bei aller teils an den Tag gelegten Drastik, die zeitweise eher der Ästhetik des Splatterfilms entspricht, stets zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen, mal deuten sie die Gewalt nur an, mal zeigen sie den Gewaltakt an sich, mal nur dessen Ergebnis.

Zwei Komponenten der Gewaltdarstellung


Insbesondere die ersten beiden der von Kristin Thompson elaborierten Möglichkeiten des Exzesses (Form und Zeit) sind für die Darstellung von Gewalt in den Filmen Winding Refns relevant. Zwar können die vielfach drastisch (ergo: detailliert) inszenierten Gewaltakte an sich zunächst durchaus narrativ motiviert sein, jedoch existiert oft keine spezifische Bewandtnis, sie in der entsprechenden Drastik (und somit Form) zu zeigen, wie es konkret geschieht. Hier greift folglich eine operationale Komponente der Darstellung von Gewalt. Auch werden Gewaltakte wiederkehrend durch eine diesbezügliche stilistische Hervorhebung oft länger gezeigt als es das Verständnis der Narration erfordern würde. An diesen Stellen existiert ebenfalls meist kein spezifischer Grund, sie genauso lange (und nicht kürzer) zu zeigen, wie sie tatsächlich zu sehen sind. Hier greift somit eine temporale Komponente der Darstellung von Gewalt. Der Einsatz dieser beiden Faktoren, die auch kombiniert auftreten können, soll in der Folge als Exzess verstanden werden.

Gewaltdarstellung, operational


Die Diner-Szene gegen Ende von DRIVE steht exemplarisch für den operationalen Aspekt der Gewaltdarstellung: Der Gangster Bernie Rose (Albert Brooks) tötet seinen Komplizen und potenziellen Mitwisser Cook, indem er ihm zuerst eine Gabel ins Auge und anschließend mit einem Messer drei Mal in den Hals sticht. Trotz der vieles sichtbar ausstellenden Inszenierung ist hier dennoch die angesprochene Dialektik des Zeigens und Nicht-Zeigens präsent: Der Einstich der Gabel in das Auge ist nicht zu sehen, stattdessen erfolgt ein Umschnitt auf das Gesicht von Bernies sich ebenfalls im Raum befindlichen Kameraden Nico. Erst die darauffolgende Einstellung bebildert das Ergebnis des Gewaltakts (die im Auge steckende Gabel) deutlich in einer Großaufnahme von Cooks Gesicht. Nachdem Bernie sich ein Messer greift,...

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